experimentalfilm

Verweile doch Arbeiten von Jonas Mekas im White Cube und auf DVD

Von Nikolaus Perneczky

© Re:Voir/Potemkine | Jonas Mekas' Archive

 

Als Jonas Mekas, geboren am 24. Dezember 1922 im nordlitauischen Städtchen Seminiskiai, Anfang zwanzig war, wurden er und sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Adolfas von den Nazis verhaftet und in das Arbeitslager Elmshorn bei Hamburg verbracht. Ein gemeinsamer Fluchtversuch scheiterte; sie wurden an der dänischen Grenze gefasst. Nach dem Krieg verschlug es die beiden in ein von den Alliierten eingerichtetes Lager für so genannte «displaced persons» in Wiesbaden, später nach Kassel, wie Millionen Osteuropäer, die unter den Nazis aus ihren Herkunftsländern vertrieben worden waren und sich nun mit der neuen Wirklichkeit der sowjetischen Besatzung konfrontiert sahen (dazu mehr hier und hier). 1949 fing Mekas in Mainz ein Studium der Philosophie an; noch im selben Jahr emigrierten er und sein Bruder in die Vereinigten Staaten. Ihre erste Station: das Brooklyner Stadtviertel Williamsburg, das dem angehenden Dichter als «Purgatorium» erschien. Eine Woche nach ihrer Ankunft liehen sich Jonas und Adolfas den nötigen Betrag, um ihre erste Bolex zu kaufen. Den Rest seines Lebens hat Mekas gefilmt bzw. – als Autor einer Filmkolumne in der Village Voice, Mitbegründer der einflussreichen Zeitschrift Film Culture sowie der Film-Makers’ Cooperative und der Film-Makers’ Cinematheque (später Anthology Film Archives) – sich der kritischen Aufarbeitung und Archivierung des Mediums verschrieben.

Als Gründervater, Pate oder Geburtshelfer des New American Cinema wurde Mekas oftmals tituliert, aber dass sein Schaffen, das um die Formen des Tagebuchs und der Erinnerungsarbeit kreist, auch außerhalb des Kinematheken- und Festivalbetriebs wahrgenommen würde, schien lange Zeit eher unwahrscheinlich. Von der großen Migration des Experimentalfilms vom Kino in den White Cube wurde irgendwann aber auch Mekas erfasst, der zum Auratischen der Kinoerfahrung – anders als sein Freund und ehemaliger Anthology-Mitstreiter Peter Kubelka – immer schon ein leicht ironisches Verhältnis hatte. Mit dem riesigen Aufgebot, das ihm zwei deutungsmächtige Kunstinstitutionen anlässlich seines 90. Geburtstags Ende letzten Jahres machten – eine integrale Werkschau im Pariser Centre Pompidou und eine von Hans Ulrich Obrist kuratierte Ausstellung in der Londoner Serpentine Gallery –, darf die Flucht ins Museum als abgeschlossen gelten. Kein Problem für jemanden wie Mekas, dem das Exil zur zweiten Natur geworden ist.

Auch die Feierlichkeiten zu seinen Ehren beobachtete Mekas aus ironischer Entfernung. In seinem alten Pass sei ein anderes Geburtsdatum vermerkt, aber in Litauen nehme man es mit Geburtstagen eben nicht so genau wie «im Westen». Während das Centre Pompidou die ganze Breite von Mekas’ Schaffen abzubilden und in ein Gespräch mit dem spanischen Regisseur José Luis Guerín zu verwickeln suchte, beschränkte sich die Schau in der Serpentine Gallery auf neuere, teils installative Arbeiten und Kurzfilmprojektionen, von denen etliche für den Galerieraum konzipiert worden waren. Flankiert wurden diese Arbeiten von Paraphernalien und Ephemera: Übertragungen ins Englische von Mekas’ Lyrik in litauischer Sprache, Filmstills, Collagen. In einem Durchgangsraum lag, aufgebahrt wie zu einer Beerdigung, eine ausgediente Flagge der Anthology Film Archives. Sie bedeutete: Eine Kunstform des 20. Jahrhunderts wird ihrer überfälligen Musealisierung zugeführt.

Auch darüber hinaus fehlte es der Serpentine Gallery im entscheidenden Moment an Pietät: Anstatt die Echos der europäischen Avantgarden zu vernehmen, die in der wechselseitigen Durchdringung von Mekas’ Kunst und Leben nachklingen, lag die Betonung auf dem eher akzidentiellen Umstand, dass sich unter den vielen Gesichtern, die Mekas beim Ausgehen und Rumstehen gefilmt hat, eine Anzahl ausgesprochener Berühmtheiten tummelt. Wer nicht Jackie Onassis, John Lennon oder doch zumindest George Maciunas heißt, war auf dem aus

Dutzenden Stills zusammengefügten Wimmelbild nicht vertreten, das den Mittelpunkt des ersten Ausstellungsraums bildete. Die Qualität der Stills ließ zu wünschen übrig. Dafür hing nebenan eine erkennungsdienstliche Schautafel, anhand deren allfällige Fragen – «Ob der Typ mit dem wuchernden Bart tatsächlich Allen Ginsberg ist?» – letztinstanzlich entschieden werden konnten: «Ja, er ist es.» So, nämlich als bebildertes Who’s Who der amerikanischen Ostküstenintelligenzija, wird Mekas einem privatisierten Kunstbetrieb passend gemacht, der kaufkräftigen und spendenwilligen Förderern gefallen muss.

The Brig

Neben den vergänglichen Veranstaltungen in Paris und London hat Mekas’ Neunziger aber auch die Hervorbringung bleibender Werte angeregt. Ebenfalls seit letztem Jahr gibt es eine von Re:Voir, Potemkine und agnès b mitherausgegebene DVD-Box, die vier Schlüsselwerke, eine Handvoll Kurzfilme und diese echte Trouvaille beinhaltet: The Brig (1964), eine der ersten Filmarbeiten von Jonas Mekas (den Schnitt besorgte sein Bruder Adolfas), dokumentiert eine Aufführung des gleichnamigen Theaterstücks des New Yorker Living Theatre. Sein Autor, der ehemalige U. S. Marine Kenneth H. Brown, schildert den zermürbenden Drill in einem Militärgefängnis. Das Zeitmaß ist ein Tag, der sich in einer mechanischen Abfolge von Demütigungen erschöpft. Monotonie statt Peripetie: So ähnelt sich das Drama dem Gefängnisalltag an. Irgendwie hätte man sich aus der friedensbewegten New Yorker Bohème der 60er Jahre etwas anderes erwartet als dieses erbarmungslos voranschreitende Uhrwerk – kritische Figurenpsychologie, deklamierende Monologe, so etwas in der Art.

In Browns Stück – und Judith Malinas Inszenierung scheint dies nur zu unterstreichen – treibt kein verhohlener Sadismus die Aufseher um, stoßen die Insassen keine Seufzer aus. Alles ist äußerlich, Dressur eher als Performance, aber in täuschend echten Uniformen und vor naturalistischem Hintergrund, sodass der Unterschied zwischen realem und gespieltem Martyrium tendenziell verwischt. Wenn überhaupt Empathie sich einstellt, dann nicht mit den eingesperrten Marinesoldaten, deren Schicksal das Stück beklagt, sondern mit ihren Darstellern, als unmittelbar körperliches Mitleiden. Erst aus Mekas’ nachgereichtem Drehbericht (in seiner Filmkolumne in der Village Voice vom 24. Juni 1965, als Nachdruck im sehr informativen Booklet) erhellt, dass sich The Brig vermutlich doch erst im Zugriff der Gebrüder Mekas zu jenem «ballet of horror» radikalisierte, als welches es nun der Nachwelt erhalten ist: «Now you take this footage, I said to my brother, and treat it with disrespect and cruelty; cut out whatever isn’t worth looking at; forget there ever was a play – we both hate plays anyway …»

 

The Brig (1964)

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Anstatt sich Blickpunkt und Kadrage vom Guckkasten-Dispositiv vorgeben zu lassen, springt Mekas kopfüber ins dicht gedrängte Bühnengeschehen. Was von den hinteren Rängen wie ein Beckett’sches Exerzitium ausgesehen haben mochte, dem verleiht Mekas’ eingebettetes Kameraauge eine wuchtige Präsenz und Plastizität. Obwohl die Ensemblemitglieder Rücksicht auf die Erfordernisse der Kamera nahmen, sie z.B. regelmäßig ihr Spiel unterbrachen, damit Mekas seine Position ändern konnte, suggerieren die suchenden Nahaufnahmen, die ihren Gegenstand manchmal auch verfehlen, einen ganz anderen Produktionshintergrund. Weil Mekas stets darum bemüht ist, die unsichtbare vierte Wand im Rücken, also im Off der Aufnahme zu behalten, könnte man anfänglich sogar dem Eindruck verfallen, The Brig sei ein Dokumentarfilm – womöglich über ein authentisches Militärgefängnis – im beobachtenden Gestus des direct cinema. Es wird dann aber rasch deutlich, dass Mekas alles andere sein will als eine Fliege an der Wand. Aber eben auch kein Agent provocateur: Die hier ins Werk gesetzte Idee von embeddedness, der Mekas’ Schaffen bis heute verpflichtet ist, entfernt sich ebenso weit vom unbeteiligten Beobachtungsideal des direct cinema wie von den gezielten Interventionen des cinéma vérité. Mekas ist mittendrin in der Szene, als wolle er in ihr aufgehen, auch wenn der charakteristische Handgriff noch fehlt, mit dem er in seinen späteren Filmen das Kameraobjektiv gegen sich selbst richten wird.

Parataxen des Alltäglichen

Der Rest des Boxsets ergeht sich in Kanonkonsolidierung, was den guten Grund hat, dass nun erstmals zentrale Positionen aus Mekas’ umfänglicher Filmografie im DVD-Format zusammenhängend verfügbar sind: drei Filme aus der produktiven Phase der 60er und 70er Jahre (Walden, Reminiscences of a Journey to Lithuania, Lost Lost Lost) und ein Spätwerk von der Jahrtausendwende (As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty), die in der Zusammenschau den prozessualen Charakter seines Werks hervortreten lassen. Obwohl Mekas’ Tagebuchfilme in ihrer Überlänge von drei, vier und mehr Stunden vorderhand einen imposanten Gesamteindruck machen, zerfallen sie in ungezählte kleinere Eindrücke, in – man muss sich mit dem Englischen behelfen – flashes, glimpses, glances. Keine Monolithen, ein Steinbruch.

 

Walden (1969)

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Am Anfang von Walden (1969) stand eine Idee, von der im fertigen Film nur noch Rudimente übrig sind. Mekas hatte es sich in den Kopf gesetzt, New York mit den Augen eines jungen Mädchens zu erschließen, kam dann aber über ein paar Probeaufnahmen mit Töchtern und Kindermädchen aus dem Bekanntenkreis nicht hinaus. Diese Aufnahmen, von jungen Frauen, die eine Anhöhe im Central Park erklimmen oder mit nackter Fußsohle übers Gras streifen, stehen als Klammer am Anfang und am Ende von Walden, der dann doch etwas anderes geworden ist als eine Übung in freier indirekter Rede. Nämlich jener Film, worin der selbsternannte «Filmer» – die Berufsbezeichnung «Filmemacher» legt in Mekas’ Augen den falschen Akzent – zum ersten Mal ganz zu sich kommt. Alle Parameter von Mekas’ Poetik sind in den sechs Reels oder drei Stunden von Walden in nuce enthalten, auch wenn Vieles noch tentativ und vorläufig wirkt, die charakteristischen Verfahren noch nicht in Routine übergegangen sind.

In kurzen, flackernden Einstellungen, die manchmal nur einem einzigen Kader entsprechen, filmt Mekas seine unmittelbare Umgebung und montiert sie zu mal fließenden, mal springenden Parataxen des Alltäglichen: Abendessen, Hochzeiten, Ausflüge und ungezählte Sonntage im Central Park, den Mekas aufsucht wie andere die Kirche. Aber auch: Straßenarbeiten, Wetterlagen, leere Blicke aus dem Fenster. Die filmische Apparatur verliert in Mekas’ Händen ihren technischen Eigensinn und wird zur scheinbar organischen Fortsetzung der Ausdrucksbewegung seines Lebens: Das Bild zittert mit ihm vor Kälte, schüttelt sich vor Lachen, leuchtet vor Euphorie und löst sich mit dem Vergessen in überbelichtetes Weiß auf.

Der uneingelöste Wunsch, sich an die Perspektive der jungen Mädchen zu verlieren, findet sich in einer sublimierten Form wieder, auf die Mekas mehrfach zurückkommen wird. Nach einer Weile verliert der Filmer das Interesse an seinen gleichaltrigen peers und mischt sich unter deren – und später Mekas’ eigene – Kinder: Die kindliche Begegnung mit der Welt soll sich, als Ahnung eines verlorenen Paradieses, auf dem Filmstreifen irgendwie abdrücken. Noch eine andere

wiederkehrende Geste gehorcht diesem Impuls: wenn Mekas eine herabgefallene Blüte oder andere Naturgegenstände in die Hand nimmt und dann der Kamera wie eine Gabe darreicht. Mekas’ romantische Sensibilität kommuniziert mit der Naturverbundenheit des amerikanischen Transzendentalismus, findet Erleuchtung aber ebenso im Profanen und Verunreinigten wie in den Weiten der Natur, die ihm mitunter sogar fremd ist. «What am I doing here?», fragt sich Mekas auf einer Fahrt durchs offene Land ganz grundsätzlich. «The landscape didn’t answer me.»

Was er in der fremden Landschaft nicht wiederfindet, ist ein immer schon Verlorenes: seine litauische Kindheit, die spätestens mit Lost Lost Lost (1976) zur strukturierenden Abwesenheit schlechthin wird. Am Anfang des Films steht die Anrufung eines modernen Odysseus, der diesmal nicht Mekas’ persönliche Erfahrung meint, sondern die der Vertriebenen und Entwurzelten im schlechten Allgemeinen des 20. Jahrhunderts: «Sing! How he was then thrown out into the world!». Lost Lost Lost ist zwar später als Walden entstanden, geht aber weiter in die Vergangenheit zurück. Das zugrundeliegende Material, zwischen 1949 und 1963 gedreht, gehört zu Mekas’ ersten Filmaufnahmen, in denen sich seine intimistische Weltanschauung noch nicht vollends durchgesetzt hatte. Spontan ergriffen von einer ungekannten Chronistenpflicht, filmte er Szenen aus dem Gemeinschaftsleben der litauischen Migranten und displaced persons in New York: «And I was there. I was the camera-eye. I was the witness. And I recorded it all.» Vielleicht auch unter der Last der Zeugenschaft erscheint Mekas’ Blick geradezu neutralisiert, besonders im Vergleich zu der am Nahen und Zuhandenen orientierten Kameraführung seiner späteren Jahre.

 

Lost Lost Lost (1976)

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Trotzdem machen sich auch in Lost Lost Lost Mekas’ bekannte Motive bemerkbar. Einen ausgelassenen Nachmittag am Badestrand nimmt er zum Anlass rückwärtsgewandter Introspektion. Dass er in den Gesichtern der Badenden keine Sorge ausmachen kann, weil sie an eine baldige Rückkehr nach Litauen glauben, nimmt er ihnen fast übel. Sein Heimweh ist ein gebrochenes: Das Verweilen beim glücklichen Augenblick, mag er noch so kostbar sein, korrumpiert, das Vergessen ist allerdings auch keine Option. Was bleibt, ist die empfindsame und aufnahmebereite Passage durch das Leben, nicht um den Moment zu bannen, sondern um immer neuen Momenten beim Verstreichen zuzusehen. Oder, mit dem Titel seines letzten großen Films: «As I was moving ahead occasionally I saw brief glimpses of beauty.»

Misstrauen hegt Mekas auch gegen Endpunkte: «Where does the road lead? Nowhere. The road leads nowhere. And there is nothing at the end of the road but a pile of rabbit shit.» Mekas’ Filme haben kein Ende, sie hören, wie Tagebücher, einfach irgendwann auf, um sich im nächsten Band fortzusetzen.

I have lost too much

Am Ende des zweiten Reels von Lost Lost Lost kündigt Mekas an, sich neu erfinden zu wollen, ab dem dritten, das mit seinem Umzug von Brooklyn nach Manhattan anhebt, ist er wie verwandelt. Die alteuropäische Gemeinschaft ist fort, die neue, amerikanische des Kinos wird inauguriert. «I have lost too much», klagt Mekas aus dem Off, vom Film verspricht er sich nicht die Abschaffung der Verlusterfahrung, aber doch eine Art von Erlösung: Immersion in der Gegenwart der Filmaufnahme. Der nostalgische Grundton, der sich durch Mekas’ gesamtes Œu­v­re zieht, kommt von der Nachzeitigkeit der Montage. Wenn er die Bilder anordnet und kommentiert, wird er vom euphorischen Filmer zum traurigen Filmemacher.

In Outtakes from the Life ofa Happy Man, einem neuen Film, den Mekas als Auftragsarbeit für die Serpentine Gallery angefertigt hat, sieht man ihn räsonierend am Schneidetisch. Er gibt eine verbreitete Lesart seiner Filme wieder, wonach ihm daran gelegen sei, Erinnerungen in Bilder zu fassen. Dass dies ein Missverständnis ist, wird mit zunehmendem Alter immer offensichtlicher. Sobald das Band der gelebten Erinnerung sich gelöst hat, verselbständigen sich die Bilder, bis zur völligen Unkenntlichkeit. Immer häufiger will es ihm nicht einmal mehr gelingen, den ungefähren Kontext einer aus dem Archiv gegriffenen Aufnahme zu rekonstruieren. Die beredte Erinnerung lässt nach, aber die stummen Bilder insistieren. «This is not a memory!» protestiert Mekas, beinahe erzürnt: «This is real!»

 

Das Boxset Jonas Mekas ist bei Re:Voir/Potemkine erschienen und enthält u. a. Lost Lost Lost, The Brig, Walden, As I Was Moving Ahead …