Die karnevalistische Wissenschaft Zu Anja Dreschkes Die Stämme von Köln

Jack Palance oder Anthony Quinn? Attlila, der Hunnenkönig oder Attila, die Geissel Gottes? Welcher der beiden Filme aus dem Jahr 1954 war die Inspiration? «Mein Lieblingsschauspieler war Jack Palance», schrieb Peter Nau (Zur Kritik des politischen Films, 1978). Das Wahnsinnsgesicht des Amerikaners mit ukrainischen Eltern löste auch bei dem Kölner Kinoplakatmaler Horst Drenske etwas Folgenreiches aus: Es kam zur Gründung der 1. Kölner Hunnenhorde, 1958. Das Außergewöhnliche dieses Vereins (und der vielen, inzwischen bald hundert anderen «Stämme») war und ist die schillernde Verflechtung von Ethnologie, Kino und Karneval.
Wäre das, was den Kölner Stämmen historisch vorangeht, wie in den Bürgerkriegswestern der 50er Jahre, vorweg im Rot von Technicolor zu lesen: Napoleon, die Preußen, das Ende der Zünfte, deutsche Romantik, Militär, Faschismus, Weltkrieg und die englische Hoffnung, aus Deutschen mögen irgendwann mal Demokraten werden… – unbegreiflich bliebe, wie in dieser Gegend falsche Harmlosigkeit und das Scheinbarbarische nebeneinander hergehen. Fassbar allenfalls im Gesang: «Wir sind keine Menschenfresser, doch wir küssen um so besser. Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien. Hei-di-tschimmela, tschimmela-bumm!» Das rheinische Look Away! Dixie Land von 1948, eine frohe Verlierhymne, zu deren Rhythmus sich der Karren im Dreck in ein schunkelndes Schiffchen verwandelt.
«Der aus dem Heidentum herübergenommene Schiffwagen, carrus navalis,» lieh noch in Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance (1860) dem Karneval – irrtümlich – seinen Namen. «Ein solches Schiff konnte freilich als heiter ausgestattetes Prachtstück die Beschauer vergnügen, ohne dass man sich irgend noch der frühern Bedeutung bewusst war, und als z. B. Isabella von England mit ihrem Bräutigam Kaiser Friedrich II. in Köln zusammenkam, fuhren ihr eine ganze Anzahl von Schiffwagen mit musizierenden Geistlichen, von verdeckten Pferden gezogen, entgegen.» Das war Ende Mai 1235.
Alle Tradition ist anfänglich improvisiert, und die Erfindung von Ritualen nimmt kein Ende. Kino und Karneval sind lustige Geschwister der Religion. Denn auch das unbequemste Kostüm ist ein bequemes Heraus aus der nicht selbstgewählten Welt. In besonderen Fällen ein an- und ausziehbares Jenseits. So manches Komplizierte kann nur in der Gemeinschaft, vor Publikum vonstatten gehen; von der Angst befreien kann sich keiner allein im stillen Kämmerlein, denn da ist die Angst zu Haus.
Die Stämme von Köln zeigen das Behagen in der Gegenkultur. Anja Dreschkes Film, der mehr ist als nur eine Ethnologie des Inlands, beschreibt und erlaubt das elementare Vergnügen, sich selbst im Anderen wiederzuerkennen. Und so lassen sich vor den Toren der Stadt, wenn im Sommer die Hunnen und Mongolen ihre zahlreichen Lager aufschlagen, einige Visionen erhaschen – von dem Entstehen, der Blüte und Ausbreitung von Kultur – durch Kostümierung.
«Ohne Zweifel», schreibt Jacob Burckhardt, «gewähren die kirchlichen Prozessionen seit dem frühen Mittelalter einen Anlass zur Maskierung, mochten nun Engelkinder das Sakrament, die herumgetragenen heiligen Bilder und Reliquien begleiten, oder Personen der Passion im Zuge mitgehen, etwa Christus mit dem Kreuz, die Schächer und Kriegsknechte, die heiligen Frauen. Allein mit großen Kirchenfesten verbindet sich schon frühe die Idee eines städtischen Aufzuges, der nach der naiven Art des Mittelalters eine Menge profaner Bestandteile verträgt.»
Das Heilige und das Profane, Spiel und Ernst, vom einen zum anderen souverän zu wechseln, das ist in den Kölner Stämmen das Metier der Schamanen, die beides, Priester und Narr, sein müssen. Trancetechniker, Zeremonienmeister, Conferencier durchs ganze Abendland bis in den frühen Morgen. Wie Filmsets sehen die Lager aus, bereit für Action und Spektakel, für die noch kein Drehbuch fertig ist. Die Schamanen wirken darin wie jene routinierten Improvisationsgenies aus der Anfangszeit Hollywoods.
«Häufig wurde an meinem Film kritisiert, dass man die Leute nicht in ihrem Alltag sieht, dass der Gegensatz zwischen dem Feiern und dem Alltag nicht gezeigt werde. Was auf den Sommerlagern passiert, wäre nicht zu verstehen, wenn man die Leute nur im Kostüm und nicht auch an der Werkbank sieht. Regelrecht sauer wurde gesagt: Die flüchten doch! Vor dem richtigen Leben, vor der Arbeit. Das Feiern», sagt Anja Dreschke, «hat in unserer Kultur nicht das hohe Ansehen, das die Arbeit hat. Aber der Spaß hat weit mehr Bedeutung, als nur Flucht vor der Arbeit zu sein.»
Es ist bemerkenswert, dass kein Bild des Films geschlossene Einigkeit zeigt. Unzählig sind die feinen Differenzen, denn die schöne Frage «Wie feiern wir?» ist nicht ohne Auseinandersetzung zu beantworten. Das ständig neue Aushandeln, Streiten, Meinungen entwickeln, ändern, und schlimmstenfalls einen neuen Verein gründen; all das gehört zum Spaß dazu. Nicht bloß Verkleidung und gewiss keine Uniformierung, sondern erst das Anlegen einer selbstgestalteten Tracht hat den Effekt einer gewählten Zugehörigkeit.
Der aus der Distanz irgendwie herbeigewünschte Gegensatz – zwischen dem Echten und dem Falschen, dem Alltag und der Flucht davor – verschwimmt schon beim Anblick der Wohnzimmer, die voll sind von Ungewöhnlichem. Jede dieser Masken – «zauberhaft und einmalig» – hat eine Seele, sagt ein Sammler und Karnevalist (im überbordend schönen DVD-Bonusmaterial). Dass es seiner Frau unheimlich ist, wenn er so etwas sagt, das kann der «Poller Böschräuber» verstehen.
Die Beschäftigung mit etwas Fremdem wirkt kindlich, wenn sie spontanem Wohlgefallen folgt. Es wird stattdessen ernst genommen, wer sich nur möglichst umständlich von oben über etwas beugt. Bewunderndes Aufschauen, Imitieren und Sich-hinein-Versenken – all das gilt nicht als seriöse Erkenntnismethode, doch jede Kultur ist letztlich Schmuck und Schminke, Maskerade und Mobiliar: ein Gemisch aus Erfundenem und Erbeutetem.
Anlässlich eines Dokumentarfilms, in dem es was zu lachen gibt, lobt die Kritik meist, es sei vermieden worden, die Protagonisten «der Lächerlichkeit preiszugeben». Mein Gefühl ist, dass sich dahinter eine Angst verbirgt, die wie die meiste Angst ganz überflüssig ist. Es gibt den guten Rat: Dein Film taugt nur dann etwas, wenn er zeigt, was du liebst. Diese Liebe und jene Angst fand ich miteinander versöhnt in einem Satz in Ricarda Huchs Buch über die Romantik: «Tieck bemerkt einmal, dass man einen Gegenstand, den man liebt, erst besitze, wenn man etwas Lächerliches an ihm finde, dass er keinen Freund und keine Geliebte haben möge, über die er niemals lachen oder lächeln könne.»
Eigentlich schön, dass sich die etablierten Instanzen des deutschen Dokumentarfilmfestivalbetriebs von diesem herrlichen Film im ersten Affekt pikiert abwandten, ganz so wie die großen uniformierten Karnevalsvereine an den faszinierenden Kölner Stämmen gebannt vorbeischauen. In den Kleinstädten des Umlands entstehen inzwischen neue Vereine, Horden und Lager, weil diese dort herzlich begrüßt und die alten Vereine von ihren schönen Plätzen in der Immobilien- Stadt Köln vertrieben werden. Anja Dreschke kann stolz erzählen, dass ihr Film beispielsweise für eine Neugründung im nahegelegenen Unkel inzwischen eine Inspirationsquelle ist. So wie einst Jack Palance.
Auf DVD erschienen ist Die Stämme von Köln bei RealFiction