filmwissenschaft

Minority Report Zu Henry Jagloms Lunches with Orson Welles

Von Simon Rothöhler

Orson Welles und Henry Jaglom

© Castle Hill Productions Inc.

 

Bei seiner letzten Schauspielarbeit ­begnügte sich Orson Welles mit sparsamen Zwischenschnittauftritten und einer vergleichsweise peripheren Sprecherposition: «I’m speaking from the cheap seats, not from Mount Sinai», grollt es nur halb ironisch aus der hintersten Reihe eines akut abrissbedrohten Theatersaals. Welles war nicht Moses, würde keine Gebote entgegennehmen und konnte schon seit geraumer Zeit nur noch als «himself» gebucht werden: ein Mann voller Geschichte(n), gefangen in einem schweren, zunehmend immobilen Körper; geplagt von Arthritis und einer Indus­trie, die ihm den künstlerischen Ausdruck qua Produktionsmittelentzug verwehrte.

Henry Jagloms seltsam wehleidiger, generationell schief hochgerechneter Selbstbefragungsfilm Somebody to love kam erst 1987 in die Kinos; Welles war bereits im Oktober 1985 einem Herzinfarkt erlegen. Die beiden Männer – der eine Außenseiter des klassischen, der andere des New Hollywood – pflegten eine spezielle Freundschaft, seitdem Welles in Jagloms BBS-Debütfilm A Safe Place (1971) als mysteriöser Amateurzauberer aufgetreten war. Der Ältere agierte im Selbstverständnis eines väterlichen Mentors, war de facto aber so isoliert, dass er seinem Schützling weder Netzwerk noch anderweitige Karrierehilfen, sondern lediglich bildungsbürgerlich ornamentierte Altersweisheiten und Geschichten aus der guten alten Zeit anbieten konnte. Der Jüngere blieb stets Zuhörer, ließ sich geduldig belehren, rutschte im Lauf der Jahre aber immer mehr in die Rolle des eigentlichen Fürsorgers und Agenten.

Jaglom verschaffte Welles dringend benötigte Einnahmen durch Werbejobs, einmal auch durch einen standesgemäßen Synchronsprecherauftritt: als Stimme Gottes. Zugleich bemühte er sich, Geld für Welles’ späte Filmprojekte aufzutreiben (sogar in den Untiefen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks der BRD)  – vor allem für den immerhin teilfinanzierten, jedoch an Besetzungsproblemen schon in der frühsten Pre-Production-Phase scheiternden Politfilm «The Big Brass Ring», für die Fertigstellung von «The Dreamers», sowie für die angedachte Krönung der lebenslangen Beschäftigung mit Shakespeare: eine King Lear-Verfilmung, die als Prätext Welles’ Performance in Peter Brooks Live-Television-Inszenierung für CBS aus dem Jahr 1953 gehabt hätte und die wenig satisfaktionsfähigen Auftritte als Shakespeare-Vorleser für die Shows von Johnny Carson und Dean Martin vergessen lassen sollte.

Die Details, Dynamiken, Routinen dieser in groben Zügen bereits allgemein bekannten Freundschaftsbeziehung können in Form transkribierter Tischgespräche nachgelesen werden: My Lunches with Orson: Conversations between Henry Jaglom and Orson Welles heißt das 2013 erschienene Buch, ediert und mit einem Vorwort versehen von Peter Biskind. Dem ist unter anderem zu entnehmen, wie Jaglom 1970 vor Welles’ Suite im New Yorker Plaza Hotel auftauchte, um ihn für A Safe Place zu gewinnen, nachdem Jack Nicholson und Tuesday Weld bereits an Bord waren: «Welles opened the door, wearing purple silk pajamas. Jaglom remembers, «He looked like this huge grape». Welles demanded, ‹What do you want?› in an unwelcoming way. ‹I’m Henry Jaglom›. ‹Yes, but does that tell me what you want?›». Bevor Welles mit gespielter Empörung die Tür zuschlagen konnte, gelang es Jaglom noch, das Rollenangebot zu präzisieren: Ein Zauberer werde gesucht. Der Schlafanzugträger stutzte kurz und wurde schlagartig verhandlungsbereit: «‹Can I wear a cape?› ‹Sure, wear a cape.› ‹OK, I’ll do it.›» 

Die New York Times vermerkte zu der daraus resultierenden Darbietung etwas ungnädig: «Orson Welles has some terrible moments reading his fortune-cookies lines, but it’s nice to see him alive and well, even if it’s in Central Park trying, unsuccessfully, to make a bored llama disappear.» Die Freundschaft zwischen Jaglom und dem fast drei Jahrzehnte älteren Welles beginnt also filmgeschichtlich betrachtet mit einem Cameo-Auftritt, der bereits 1971 als erstaunlicher Lebensbeweis eines Vergessenen gewertet werden konnte. Fortgesetzt und gepflegt wurde diese Beziehung im Ma Maison, einem einschlägigen französischen Restaurant an der Melrose Avenue, West Hollywood. Ab 1978 trafen sich die beiden dort regelmäßig zum Lunch. Welles kam gewöhnlich im Rollstuhl, mit Pudel Kiki und durch den Kücheneingang; Jaglom brachte Zuhörerausdauer und später ein Tonbandgerät mit, das geduldet wurde, solange es in einer Tasche verborgen blieb. Welles hatte naturgemäß kein Problem damit, voller Aperçus und mit kalkulierten Indiskretionen zur zukünftigen Nachwelt zu sprechen, wollte sich aber durch den Anblick der Aufnahmeapparatur auf keinen Fall den gewaltigen Appetit verderben lassen, der zeitlebens immer stärker war als die Einsicht in Diätnotwendigkeiten.

Biskind hat das Buch in zwei Teile – «1983» und «1984–1985» – gegliedert und jedes der insgesamt 27 Unterkapitel mit einer launigen Synopsis versehen. Dass sich der Erkenntniswert für die Orson Welles-Forschung in Grenzen halten dürfte, mag einerseits an Biskinds editorisch wirksam gewordener Vorliebe für Gossip liegen. Bei der Lektüre der Gespräche wird aber auch schnell deutlich, dass Jaglom sich meist auf die Rolle eines Stichwortgebers beschränkte, der dem Meister ein ums andere Mal bereitwillig Gelegenheit gibt, angesichts angeblich übelwollender Kritiker und anderer Undankbarer in lustvolle Schimpfreden auszubrechen.

Wie profund Welles unter multiplen narzisstischen Kränkungen litt, kann hier noch einmal Zeile für Zeile nachgelesen werden. Der Unterhaltungswert der Welles’schen Monologe ist trotz der kaum einmal gebrochenen Eitelkeit recht hoch. Groß ist das einstige Wunderkind Hollywoods im Abbürsten von Bittstellern, die regelmäßig die zügige Essenseinnahme irritieren. Einmal taucht Richard Burton auf und fragt aufs Servilste, ob er Elizabeth Taylor an den Tisch führen dürfe, sie würde ihn so gerne kurz sprechen – Welles kann sich kaum dazu durchringen, den Kauvorgang zu unterbrechen: «No. As you can see. I’m in the middle of my lunch.»

Jagloms Versuche, Welles sozialverträglich zu halten, werden ebenfalls nicht goutiert: «Do not kick me under the table. I hate that. I don’t need you as my conscience. (…). And I wasn’t rude. To quote Carl Laemmle, «I gave him an evasive answer. I told him, Go fuck yourself»». Mancher, etwa Jack Lemmon, wird kurz am Tisch dieser einseitigen Remarriage Comedy geduldet. Die Marginalisierung als Redebeiträger erfolgt allerdings stante pede («Lemmon exits»). Über die meisten Schauspieler, Regisseure, Kollegen weiß Welles wenig Gutes zu sagen, das aber mit dem Willen zur Anschaulichkeit: «It’s that neck. Which is like a huge sausage, a shoe made of flesh» (über Marlon Brando); «Cannes people are my slaves» (über die für Hollywoods Hierarchiebildungen irrelevanten Huldigungen des europäischen Festivalbetriebs); «Actually, Chaplin was deeply dumb in many ways. That’s what’s so strange, great hunks of dumbness with these shafts of genius. And he blew it, too.» usf.

Punktuell besser kommen weg: Buster Keaton, Carol Lombard («My God, she was earthy. She looked like a great beauty, but she behaved like a waitress in a hash house») und Marlene Dietrich, die von Greta Garbo einst gedemütigt wurde, als Welles die beiden Diven einander vorstellte, Dietrich gestelzt ihre Ehrerbietung zum Ausdruck brachte («I’m humble in your presence») und Garbo darauf wenig anschlussfähig entgegnete: «Thank you very much. Next?». So geht es Seite um Seite und es ist kaum zu übersehen, wie sehr Welles es genießt, sich als Experte der üblen Nachrede zu inszenieren. Die Gespräche sind in diesem Sinn eher Performance als Austausch unter Gleichen, mehr Anekdotenserie als Reflexionsraum. Man gewinnt auch den Eindruck, dass Welles von Jaglom, wie von den meisten anderen, schlicht unterfordert blieb. Der faktische Rückzug ins Selbstgespräch mag erhebliche narzisstische Anteile aufweisen, aber was sollte Welles auch machen, wenn nicht einmal ein nahestehender Vertrauter wie Jaglom die aufgefahrene Streitlust sportlich erwidern wollte und somit selbst die ultimative Koketterie eines Besserwissers resonanzlos aufs Tonband serviert werden konnte: «To my great sorrow, I’ve got to the age now where all my old minority opinions are ceasing to be minority.» (Exit Welles) 

Peter Biskind (Hg.): My Lunches with Orson. Conversations between Henry Jaglom and Orson Welles, Metropolitan Books 2013