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Gamer Theory

Von McKenzie Wark

Willkommen im ersten Level: Der Roman ist eine Linie spezifischer Art, offen für spezifische Möglichkeiten, eine Storyline. Er taucht in dem Moment auf, in dem die Topik der Topografie weicht. Georg Lukács schätzt den historischen Roman für seine Fähigkeit, eine Linie durch einen historischen Moment zu verfolgen und die Kräfte, die in diesem Moment am Werk sind, zu offenbaren. «Er ist das Porträt der breiten lebenden Basis der historischen Ereignisse in ihrer Verwickeltheit und Komplexität, in ihrer mannigfachen Beziehung zu den handelnden Individuen.» Der historische Roman führt historische Ereignisse am Beispiel von Nebendarstellern vor Augen, die vielleicht der Leserin nicht unähnlich sind, und er führt das historische Ereignis zugleich vor Augen als eine Transformation des täglichen Lebens. Und doch ist die Lage des Romans paradox: Er kann dem Leser nur die Linie vor Augen führen und muss selbst Teil dieser Linie bleiben. Sobald er die Möglichkeiten, die in dieser Linie liegen, auf seinen eigenen Seiten zu erforschen beginnt, öffnet er sich einem «Formalismus», dem der Leser nicht folgen wird.

Weiter in Level eins: Das Kino ist eine Linie spezifischer Art, offen für spezifische Möglichkeiten; es erhellt die dunklen Ecken der Topografie. Walter Benjamin schätzt das «optisch Unbewusste» des Kinos, seine maschinenartige Vision einer Welt, die selbst in einem dichten Liniennetz maschinenartig operiert. Das Kino kann den Raum erweitern und schrumpfen, die Zeit dehnen oder komprimieren, es kann Bilder unterschiedlicher Maße und Formen montieren – Vorahnungen einer Topologie. Es schafft einen «Spielraum» dafür, die Maschinenwelt auch auf andere Weise aufzuteilen. Gegen Lukács eröffnet Benjamin den Blick für die formalen Eigenschaften der Linie, was auf Kosten der Repräsentation einer historischen Situation in ihrer Totalität geht. Was sich nicht ändert, ist, dass der Zuschauer, wie die Leserin, niemals Teil der Linie wird.

Das Ende von Level eins: Der Roman ermattet. Das Kino versagt vor seinem allegorischen Potenzial. Guy Debord: «Aber dieses Leben und dieses Kino sind beide in gleichem Maß Abklatsch; und eben deshalb kann man, ohne dass sich etwas ändert, das eine durch dass andere ersetzen.» Langweile regiert.

Weiter mit Level zwei: Radio ist eine Linie spezifischer Art, offen für spezifische Möglichkeiten. Brecht schätzt am Radio ein gewisses, bis dahin nicht realisiertes Potenzial der Linie, in beide Richtungen zu weisen: «Um nun positiv zu werden … ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.» Radio könnte öffentliche Telefonie werden. Aber es ist reiner Fluss, es fehlt ein Code. Es strahlt von einem Punkt zu jedem anderen, ohne Unterschied. Es fehlt die transformierende Geometrie der Topologie, die es ermöglicht, drei spezifische Punkte miteinander zu verbinden, an jedem beliebigen Ort – und zwar so, dass dasselbe «Dreieck» entsteht, das Sender und Empfänger und die dritte «Linie» verbindet – die Telesthesie selbst.

Weiter in Level zwei. Das Fernsehen verlängert die Linie des Radios, aber fügt es viel hinzu? Erweitert es den Möglichkeitsraum? Fredric Jameson: «Die Blockade frischer Gedanken vor diesem stabilen kleinen Fenster, gegen das wir unsere Köpfe schlagen, hat viel mit genau diesem vollständigen oder totalen Fluss zu tun, den wir durch das Fernsehen beobachten.» Das Fernsehen erscheint als analoger Fluss. Das Digitale hat noch nicht obsiegt.

Das Ende von Level zwei. Die Spannung zwischen dem Topografischen und dem Topologischen ist auch eine zwischen einer im Niedergang befindlichen Sphäre der Repräsentation, Wille und Interesse, und einem neuen Topos, der statistisch digital, simuliert ist – algorithmisch. Das Topografische ist unvollständig. Es kann seine Linien über den Raum erstrecken und die Zeit vernichten, aber es kann den Raum, den es umschließt, noch nicht markieren oder ausmessen. Es hat ein paar unzureichende Mechanismen – die Meinungsumfrage zum Beispiel. Mittels eines mühsamen Einholens und Aufsuchens von Meinungen kann sich der topologische Raum den Anschein von Handlungskraft geben. Jean Baudrillard: «Paradoxerweise gewinnen die Umfragen als Spiel eine Art Legitimität zurück. Als Spiel der Unentscheidbarkeit; als Spiel des Zufalls … Vielleicht erleben wir hier das Erscheinen derselben kollektiven Formen des Spiels, die Caillois als alea bezeichnete … der Einbruch eines ludischen, aleatorischen Prozesses in die Umfragen, ein ironischer Spiegel zum Gebrauch der Massen.»

Weiter mit Level drei. Während das Topografische eine Dimension der Telegrafie entfaltet – der Fluss der Information durch den Raum–entfaltet das Topologische die andere – das verwickelte Kodieren und Adressieren. Während das Topografische ein analoger Fluss ist, ist das Topologische der Bruch, den das Digitale einführt. Es ist eine Linie anderer Art. Eine Linie eines neuen Typus, die, für einen kurzen, aufregenden Moment, die Träume eines neuen Topos anstachelte. Aber der Kreislauf beschleunigt sich. Es hat zwanzig Jahre gedauert von Brechts oder Benjamins Optimismus bis zu Debords Absagen daran. In der Netzzeit hat das vielleicht fünf Jahre gedauert. Geert Lovink: «Der Cyberspace zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann sich nicht mehr im Rahmen eines utopischen Leerraums endloser Möglichkeiten positionieren.»

Weiter in Level drei. Spiele haben Storylines wie historische Romane, mit einem Bogen von Anfang bis Ende. Spiele haben kinematische Cut Scenes, reine Attraktionsmontagen. Spiele nehmen die Linien des Fernsehens in sich auf, wie das Fernsehen das Kino und das Kino den Roman in sich aufnahm. Aber sie sind jeweils immer auch etwas anderes. Sie sind nicht einfach eine Allegorie, sondern eine doppelte Form, eine Allegorie und ein Algorithmus. Erscheinungen im Spiel duplizieren einen Algorithmus, der seinerseits einen unbekannten Algorithmus simuliert, der Erscheinungen außerhalb des Spiels hervorbringt.

Übersetzung: ek

 

Gamer Theory 

McKenzie Wark: Gamer Theory (Harvard University Press 2007)