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Kameras sehen Dich an Der italienische Filmwissenschaftler Francesco Casetti spürt dem Auge des Jahrhunderts in der Theorielandschaft der Moderne nach

Von Matthias Wittmann

Was das Kinoauge nicht alles kann: rotieren, fragmentieren und fusionieren; observieren, memorieren und re-animieren; dokumentieren, egalisieren und transformieren. Und immer wieder die Frage: Wessen Blick ist es, mit dem wir sehen, wenn wir im Kino sitzen? Haben wir es mit einem anthropomorphen oder einem außermenschlichen Auge zu tun? Mit einem Auge, das uns in ein innigeres Verhältnis zu den Dingen bringt, oder uns den Weltbezug wie bei einem diabolischen Fort-Da-Spiel ständig aufs Neue entzieht?

Es handelt sich um Fragen, die nicht nur die klassische Theorienbildung zum Film begleiten, sondern auch Francesco Casettis jüngstes filmtheoretisches Werk antreiben. Das nun auch in englischer Übersetzung vorliegende Buch Eye of the Century. Film, Experience, Modernity unternimmt den Versuch, eine Typologie der kinematographischen Sehweisen zu entwickeln und nach der Rolle des Kinoauges im 20. Jahrhundert zu fragen. Mit weit ausholender Geste schaut Casetti auf ein Jahrhundert zurück, das über den Film allererst in Form kam: «Der Film gab den Sehweisen seiner Zeit eine Ausdrucksform und verhandelte die laufenden kulturellen Prozesse, letztendlich aber erwies er sich als der raffinierteste Regisseur des Jahrhunderts», schreibt Casetti und macht somit seinen Anspruch geltend, Film als Ausdruck und Agent, Zeuge und Protagonist seiner Zeit zu reflektieren. Wenn bei Casetti vom «Auge des Jahrhunderts» die Rede ist, dann meint dieser hartnäckig durchgehaltene, etwas überdimensionierte Doppel-Singular in erster Linie jenes Kinoauge, wie es die klassische Moderne konstruierte, imaginierte und theoretisierte.

Cinemascope der Theorie

So kryptisch sich die Kapitelüberschriften im Inhaltsverzeichnis auch geben («More, Less»; «The Law, a Rifle, and Memory»; «Marfa’s Sex»; «Josh’s Lesson»), so klar wird allmählich, dass Casetti klassische Denkfiguren der Filmtheorie Revue passieren lässt, um daraus ein Ordnungsprinzip für die Erfahrungen und Bedürfnisse der Moderne zu gewinnen. Einmal mehr lesen wir über zersplitterte Perspektiven und unentrinnbare Point-of-Views, gesteigertes Nervenleben und schockartiges Erleben, Dissoziation und Fragmentierung, Flüchtigkeit und Dynamisierung.

Innerhalb des Spannungsfelds modernistischer Tendenzen nimmt sich das mechanische Filmauge – als kollektiv geteilte Form prothetischer Wahrnehmung – wie eine ausbalancierende, regenerierende, alles synthetisierende Kraft aus. Das unrettbar-atomisierte Ich findet in der Kinoapparatur die Möglichkeit zur Selbst-Reparatur und in der Filmerfahrung eine Wellness-Kur. Spätestens hier wird deutlich, wie frappierend bruchlos Casetti an Utopien und Euphorien der klassischen Filmtheorie anknüpft (und hierbei sogar restaurative Sehnsüchte nach dem Ganzen entwickelt). Wie schon bei Walter Benjamin wird auch bei Casetti der Kinoraum zum dialektischen Umschlagplatz für diametrale Tendenzen. Mit dem Unterschied allerdings, dass Casettis Dialektik sich wie ein vitalistischer Lavastrom ausnimmt, der die Gegensätze fusioniert, noch bevor sie präzise ausgelegt, auseinander gesetzt wurden. Die Moderne, vom Ätna aus betrachtet, noch dazu in Cinemascope. Wie in einem Wagner’schen Gesamtkunstwerk dürfen sich alle widerstreitenden Impulse in konsequent durchgehaltenen Sowohl-als-auch-Strukturen aufgehoben fühlen: Kontingenz und Zusammenhang, Schock und Schutz, Nähe und Distanz, Sichtbares und Unsichtbares, Disziplin und Befreiung, Allmacht und Ohnmacht, Fragment und Ganzes, Tod und Reanimation, Realität und Fiktion, Materialität und Symbolik, Unmittelbarkeit und Vermitteltheit, ein Ich sehe und ein Wir sehen.

Objektive Subjektivität

Vor allem auch ermöglicht uns der «oxymoronische Blick» des Kinos, wie ihn Casetti nennt, das Nacherleben einer Subjekt-Objekt-Verflechtung. Was wir im Kino sehen, ist die Welt, gefiltert durch ein Subjekt. Hier zeigt sich Casettis phänomenologische Orientierung. Dass das Bewusstsein ein Akt ist, der sein Objekt verändert, und die Kamera – als Bewusstsein betrachtet – immer auch ein Sehen zu sehen gibt, ist ein Grundgedanke phänomenologischer Filmbetrachtungen. Maurice Merleau-Ponty erklärte 1946 die Verwobenheit von Subjekt und Objekt zum filmischen Sujet par excellence: «Nun ist das Kino besonders geeignet, die Verbindung von Geist und Körper, von Geist und Welt und den Ausdruck des einen im anderen hervortreten zu lassen». Doch schon lange bevor Merleau-

Ponty das Herz des Subjekts in das Fleisch der Dinge verpflanzte, finden sich Ansätze, die – etwas weniger leiblich orientiert – in der Wahrnehmungsbegegnung zwischen Kameraauge und Welt das Potential zu einer Transformation nicht nur der Dinge, sondern auch der Verwiesenheit des Subjekts auf die Dinge sahen.

Der Psychotechniker Hugo Münsterberg etwa stellt schon 1916 in seiner Kinoschrift The Photoplay. A psychological study eine Kompatibilität von Psyche und Kinoapparat her und betrachtet die filmischen Techniken als Objektivierungen mentaler Funktionen. Auch in Bela Balázs’ Schrift Der Geist des Films (1930) findet sich die Rede von der «unentrinnbaren Subjektivität» des Objektivs, da jedes Bild eine Einstellung mitliefert und jede Einstellung eine Beziehung ausdrückt. Der Filmphilosoph Jean Epstein wiederum entkoppelt den Kinematographen von der Rückbindung an menschliche Schemata, indem er eine ahumane, vorurteilsfreie Maschinenintelligenz annimmt, die dort sieht, wo wir blind (geworden) sind. Und Walter Benjamin formuliert mit seiner Rede vom «apparatfreien Aspekt der Realität» die höchst paradoxe Ansicht, dass die Kamera uns die Welt so zu zeigen vermag, wie sie aussehen würde, wenn es keine Kamera gäbe.

Auch Casetti lässt das Kameraauge ständig zwischen Bezugnahme auf die Welt und subjektiver Störung der Verweisung oszillieren. Es geht um Überlegungen zur Rolle von Subjektivität im Zeitalter der Maschine und zu den Möglichkeiten subjektiver Investition in die Maschine. Eine Schlüsselstelle nimmt deshalb das Kapitel «Thomas, watching» über Michelangelo Antonionis Blow Up (1966) ein und die dort verhandelte Verunsicherung des Glaubens an das Objektiv(e). Was Thomas bei seiner obsessiven Immersion in den fotografischen Bildraum erfahren muss, ist nicht nur ein Wuchern von Unschärferelationen, sondern auch die Reziprozität von Sehen und Gesehen-Werden.

Plurale und penetrierende Blicke

Immer wieder sucht Casetti einzelne Filme zum Ausgestaltungs- und Austragungsort theoretischer Debatten zu machen. Abel Gances Napoleon (1927) etwa verhandelt die Sehnsucht nach dem Ganzen, indem ein «pluraler Blick» konstruiert wird, der – einem Fliegenauge oder Kaleidoskop vergleichbar – eine Vielzahl von Teilansichten mittels Bildüberlagerung und schneller Montage zu einer «partitiven Einheit» fusioniert.

Ein geradezu konträres skopisches Modell findet Casetti in Alfred Hitchcocks Young and Innocent (1937) verwirklicht. Hier geht es weniger um die Summierung, sondern die Intensivierung der Teile, was durch einen «penetrierenden Blick» erreicht wird. Filme wie Citizen Kane (1941) oder The Man, Who Shot Liberty Valance (1962) wiederum geben Casetti Anlass zur Beschäftigung mit dem Perspektivischen, Lückenhaften und Zusammengesetzten von Narration und Zeugenschaft. Hier zeigt sich Casettis differenzierter Umgang mit filmischen Äußerungsformen (Enunziationen), die – nach Christian Metz – immer auch Äußerungen «über den Film» sind. Ist das analoge Filmbild per se schon eine Mischung aus Dokumentation und (An-)Verwandlung vorfilmischer Realität, so findet diese Gemengelage durch das komplexe System an subjektiven Markierungen innerhalb der erzählten Welt eine weitere Ausdifferenzierung.

Das Buch hat tolle, frappierende Momente, etwa wenn Casetti anhand der Aussage eines anonymen Journalisten mit dem Decknamen «Fantasio» aus dem Jahr 1914 aufzeigt, wie schnell sich das menschliche Auge als kinematographisches Auge zu erfahren begann und das Kino zu einer Produktionsstätte von symbolischen Formen und mentalen Modellen wurde. Es wäre einmal interessant, diese allmähliche «Kinematomorphisierung» (Ute Holl) des Bewusstseins im Detail nachzuzeichnen.

Cinema 2.0: Immer derselbe Text?

Immer wieder finden sich Ansätze und Gedanken in Casettis Buch, die Lust auf Mehr machen und zumindest erahnen lassen, was es noch zu holen gäbe, wenn man erneut (und immer wieder) zu Texten zurückkehrt, die scheinbar am Ende ihres Aktualisierungspotentials angekommen sind. «Wer es verabsäumt, einen Text zweimal zu lesen, wird überall denselben Text lesen», hat Roland Barthes einmal geschrieben und dass selbst Benjamins vielzitierter Kunstwerk-Aufsatz immer wieder neu lesbar wird, hat Miriam Hansen in ihren produktiven Re-Lektüren aufgezeigt.

Bei Casetti will sich diese schöpferische Kraft der Wiederholung nicht wirklich bemerkbar machen. Auch seine Bemühungen, bislang unterbelichtete Namen – wie Canudo, Freeburg oder Papini – zu Wort kommen zu lassen, bringen in erster Linie Gedanken ans Licht, die uns aus kanonisierten Texten allzu vertraut sind.

Casettis Buch beginnt mit dem Historischwerden des Kinos und schließt mit einem Ausblick auf «Cinema 2.0», wie er es nennt. Dazwischen liegt eine 180 Seiten lange Rückblende. Die «ontologischen Dramen» (Gertrud Koch) rund um den Verlust der Indexikalität – keineswegs jedoch der Referentialität – im Zeitalter der Digitalisierung geben auch zahlreichen Filmen Anlass zu Medienarchäologie, Re-Mediation und simulierten Momenten der Berührung mit dem Realen, etwa in Form von Wasser- und Blutspritzern auf der Kamera.

Casettis Motivation, Rückschau zu halten und noch einmal eine Nummernrevue klassisch-filmtheoretischer Denkfiguren zu veranstalten, bleibt ein Rätsel. Zumal das Buch jegliche Anschließbarkeit an gegenwärtige Entwicklungen vermissen lässt. Was Casetti bei seinem Walkürenritt durch die klassische Theorienlandschaft an Einsichten erbeutet hat, lässt sich auf die immerhin euphorisch vorgebrachte, allerdings nicht ganz überraschende Formel bringen: «it’s more than a simple recording».

Francesco Casetti: Eye of the Century: Film, Experience, Modernity (Columbia University Press 2008)