Autobiografie als Abenteuerroman Über Claude Lanzmanns Memoiren Lièvre de Patagonie
Wer die Filme von Claude Lanzmann gesehen hat, der weiß von dessen eigener, vor allem auch physischer Präsenz in ihnen – erinnert sich etwa an die beherrschte Aggression, mit der er in Shoah den Einwohnern des polnischen Dorfes Chelmno auf den Leib rückt; die konsternierte und doch niemals völlig überraschte Geduld eines Zuhörers, der auf höchst kontrollierte Weise seine eigene Fassungslosigkeit zu steigern gewillt ist. Lanzmanns expressiver Physiognomie, die ständig zwischen Insichruhen und Ansichhalten zu oszillieren scheint, kann man in einer Reihe jüngerer Fernsehauftritte wiederbegegnen. Auf verschiedenen französischen Kanälen gibt der mittlerweile Vierundachtzigjährige Episoden aus seinen im März bei Gallimard erschienenen Memoiren noch einmal in eigener Person zum besten, und man ist versucht, ihm zu glauben, was er in den Fernsehstudios wie auch in seinem Buch behauptet: dass er alterslos sei, dass für ihn die Zeit «zu vergehen aufgehört» habe.
Der Erinnernde als Erlebender
Auch in Lièvre de Patagonie begegnet einem immer wieder vor allem der physische, vielleicht hyperpotente Lanzmann: einer, der Gipfel besteigt, Flugzeuge lenkt, Frauen nachläuft, Fensterscheiben zerschmettert, immer weit ins Offene schwimmt, der sich Aufputschmittel injizieren lässt, um den Anstrengungen einer Reise in das Nordkorea der 50er Jahre besser gewachsen zu sein. Eine ständige körperliche, man könnte sogar meinen: filmische Präsenz, die für den Leser eine von vielen Kritikern zu Recht hervorgehobene Unmittelbarkeit erzeugt.
Aus Lanzmanns Erinnerungen tritt einem nicht in erster Linie ein Beobachter oder ein aus der Distanz der Jahrzehnte Reflektierender entgegen, sondern ein unmittelbar Erlebender, und genauer: ein Abenteurer, ein Eroberer, in gewissem Maße ein Draufgänger. Jemand, der eines der ersten Kapitel des Buches seiner Leidenschaft für das Fliegen widmet und zu dessen erklärten Helden der englische Kampfpilot Richard Hillary, der Everest-Besteiger Mallory, de Gaulle und Churchill nicht weniger gehören als sein intellektueller Mentor Sartre. Bei der Fernsehübertragung der ersten Mondbegehung im Jahr 1969 vergießt Lanzmann «Tränen der Verehrung für den menschlichen Genius». Der Begeisterung für die Corrida, die er mit Simone de Beauvoir teilt, sind mehr Zeilen gewidmet als seinen beiden Ehen zusammengenommen.
Israel fasziniert ihn beim ersten Besuch 1952 als widerständiger, geradezu lebensfeindlicher Boden, als eine terra incognita, die für ihre Pioniere nicht zuletzt eine Chance zu heroischer Verausgabung darstellt; selbst noch in den Abscheu (Jahrzehnte später) vor dem unbefangenen Antisemitismus der ostpolnischen Dorfbevölkerung mischt sich der Entdecker- und Erobererstolz einer Erstbegehung der anderen Art. Der Genozid selbst erscheint als unbekannter, zugleich Schrecken erregender und Erschließung fordernder Kontinent.
Einholende Dramaturgie
Erinnerungen, keine Autobiografie: der Text folgt dem Gesetz der Assoziation, nicht der Chronologie (was neben dem Umfang des Buches zu seiner labyrinthischen Anmutung beiträgt; der Index der Eigennamen zählt über siebenhundert Einträge). Lanzmann hat das Buch diktiert, und in vielen Passagen meint man ihm trotz aller stilistischen Ausgefeiltheit beim Reden zuzuhören. Es ist, als hätte er, der sein Leben lang Interviews geführt hat und insbesondere in Shoah als derjenige in Erscheinung tritt, der andere zum Sprechen bringt, selbst eine Situation der Befragung gebraucht, um ins Erzählen zu kommen; schon die Idee, seine Erinnerungen überhaupt festzuhalten, sei ihm, so sagt Lanzmann in einem Fernsehgespräch, von außen aufgedrängt worden. Man gewinnt den Eindruck, dass sich für ihn die Bedeutung der eigenen Biographie in erster Linie aus einzelnen Momenten speist, aus epiphaniehaften Erlebnissen der «Inkarnation», zum Beispiel in der nächtlichen, einsamen Begegnung mit dem titelgebenden Hasen.
Resümierende Selbstdeutung und Bilanzierung sind, soweit vorhanden, in die ersten Kapitel relegiert, wie unter Quarantäne gestellt, was ihnen etwas Pflichtschuldiges verleiht. Dort identifiziert Lanzmann als den «roten Faden seiner Existenz» wahlweise die Tatsache der politisch verordneten Tötung (von der seit der Kindheit gefürchteten Guillotine, deren fortgesetztes Operieren während des Algerienkrieges ihm schlaflose Nächte bereitet, bis zu islamistischen Enthauptungsvideos), die Problematik von Mut und Feigheit, schließlich die Verbindung beider Themen in Hegels Bild eines Kampfes um Anerkennung unter Einsatz des Lebens.
Diese einholende Dramaturgie erscheint einerseits als plausibel und andererseits als möglicherweise eben bloß das: als eine selektive Lektüre der eigenen Biographie von der Aktivität des Schülers im kommunistischen Widerstand und dem antikolonialen Engagement in der Nachkriegszeit einerseits, von der zwölfjährigen Arbeit an Shoah andererseits her. Tatsächlich definieren diese Erfahrungen den chronologischen Rahmen des Buches (mit Ausnahme eines Exkurses zur Familiengeschichte), kaum aber seinen Grundton und seine komplexe Anlage. Viel eher scheinen teils kontingente Attraktionen, teils die als Rätsel und Aufgabe erfahrene eigene französisch-jüdische Identität den Verlauf der Dinge bestimmt zu haben.
Von Tournier bis Sartre
Nach der Gymnasialzeit und der Widerstandsaktivität im Vichy-Frankreich und dem Philosophiestudium in Paris verbringt Lanzmann 1948 auf Vorschlag seines Freundes Michel Tournier ein Studienjahr in Tübingen und geht anschließend als Lektor an die soeben gegründete Westberliner Universität. Das Privatseminar über Antisemitismus, das er auf Wunsch seiner Studenten anbietet, wird ihm von den Besatzungsbehörden untersagt, und der Skandal eines langen Artikels für die dem Ostsektor zugehörige Berliner Zeitung, in dem er den weitgehenden Verzicht auf Entnazifizierung an der «Freien» Universität aufdeckt, zwingt ihn zur Rückkehr nach Paris.
Während der darauf folgenden Jahre und Jahrzehnte arbeitet er als Journalist für France-Soir, Elle, France Observateur, L’Express und für die Fernsehsendung Dim Dam Dom: er berichtet über Mordprozesse und Erdbeben, Alpinisten und Hollywoodstars, über Nonnen und Polizisten, den Dalai Lama und den Schatz des Tutanchamun. Den Anfang macht eine auf eigene Faust unternommene Reise in die DDR, deren Reportage als Serie in Le Monde unter dem Titel «Deutschland hinter dem eisernen Vorhang» erscheint.
Der Zeitungsleser Sartre wird auf ihn aufmerksam und lädt ihn zu den Redaktionstreffen der Temps Modernes ein. Schon vor der persönlichen Bekanntschaft ist Sartre als intellektueller Übervater präsent, angefangen mit der Lektüre der «Betrachtungen zur Judenfrage» kurz nach dem Krieg, die für den aus einem areligiösen und assimilierten (und zugleich kaputten) Elternhaus stammenden Lanzmann zum Erweckungserlebnis wird. Erst gegen Ende der 60er Jahre führt Sartres zunehmende Distanzierung von Israel und schließlich sein Versuch, das Geiselmassaker bei der Münchner Olympiade zu verteidigen, zu einer Entfremdung, allerdings zu keiner grundsätzlichen Korrektur von Lanzmanns Verehrung für die «formidable Denkmaschine». Jahrelang leben Sartre, de Beauvoir und Lanzmann in einem anscheinend idyllischen Dreier-Arrangement, in dem Letzterem die seltsame Doppelrolle eines gemeinsamen intellektuellen Zöglings einerseits, des Lebensgefährten de Beauvoirs andererseits zufällt.
Shoa und die Identifikation mit Israel
Aus der zweiten Israel-Reise 1965 und der Verschärfung der arabischen Rhetorik im Zuge der Unabhängigkeit Algeriens entsteht die Idee einer Sondernummer der Temps Modernes über den Stand der israelisch-arabischen Beziehungen, die auf annähernd tausend Seiten, streng in zwei Hälften unterteilt, Beiträge von Intellektuellen aus der Region versammelt. Das Erscheinen des Hefts am 5. Juni 1967, nach einer weiteren Nahostreise mit Sartre und de Beauvoir, fällt mit dem Beginn des Sechstagekriegs zusammen. Ein Jahr später dreht Lanzmann eine Fernsehdokumentation über die Verteidigung der aus dem Krieg resultierenden israelisch-ägyptischen Grenze entlang des Suezkanals und erhält daraufhin das Angebot einer Produzentin, das zu der Arbeit an Pourquoi Israel führt. Am Tag der Premiere beim New York Film Festival 1973 bricht der Yom-Kippur-Krieg aus. Der Erfolg des Films in Frankreich und Israel zieht wiederum den Vorschlag eines Freundes im israelischen Außenministerium nach sich, einen Film über die Shoah zu drehen. Lanzmann berichtet über sein Zurückschrecken angesichts dieses Antrags: er sieht sich einer «furchterregenden, unerkundeten Nordwand» gegenüber und sagt schließlich zu.
Dies ist der Moment, so scheint es, an dem für Lanzmann Leben und Werk zu verschmelzen beginnen. Die Arbeit an dem Film, der schließlich Shoah sein wird, nimmt zwölf Jahre in Anspruch, deren Chronik (um die Rezeption ergänzt) das letzte Viertel des Buches ausmacht. Die späteren Filme Tsahal, Sobibor finden dagegen nur am Rande Erwähnung, zu schweigen von Persönlichem: Lanzmanns Sohn etwa, dem das Buch gewidmet ist, oder die Herausgeberschaft der Temps Modernes, die Lanzmann seit 1986 versieht.
Stattdessen ein detailliertes making-of: ein jahrelanges unbestimmtes Vortasten entlang der Lektüre von Raul Hilbergs monumentaler Studie und der Akten des Frankfurter Treblinka-Prozesses; Gespräche mit Historikern und Zeitzeugen, Recherchen in den USA, Israel, Deutschland; schließlich die evidenzhafte Einsicht, dass der Film genau das zum Thema haben müsse, wovon es der Natur der Sache nach keine medialen Aufzeichnungen und keine direkten Zeugenberichte geben konnte: den Tod in den Gaskammern.
Ausführlich berichtet Lanzmann davon, wie er mit detektivischer Geduld die wenigen Überlebenden der Sonderkommandos aufspürt und sie zum Sprechen bringt, ebenso wie die Einwohner des Dorfes Treblinka und anderer polnischer Ortschaften und – mit Hilfe der deutschen Justizbehörden – einige der unmittelbaren Ausführenden des Massenmords. Die Details dieses aufreibenden Unternehmens, das sich für Lanzmann vom Projekt zur Berufung wandelt, sind als solche fesselnd und aufschlussreich, und sie lassen sich zugleich als fortgesetzte Artikulationen einer von Beginn an ambivalenten Identifikation lesen: wie schon bei seiner ersten Israelreise 1952, deren Faszination sich aus keiner Selbstbegegnung, sondern aus der Erfahrung der Fremdheit und Fremdartigkeit der bunt gemischten Diasporarückkehrer in den Zeltlagern und Siedlungen speiste, fühlt sich Lanzmann dem jüdischen, «seinem Volk», gerade als jemand zugehörig, der mit einem Fuß draußen steht. Es ist die scheinbar reduzierte Rolle des wenn auch passionierten Besuchers, Beobachters und Befragers, die ihm sowohl die Zumutungen gestattet, die der Versuch einer Wiederaneignung der Erinnerung in Shoah mit sich bringt, als auch die relative Unbekümmertheit, mit der er in seinem Buch und anderswo (zum Beispiel in den aktuellen Themenausgaben der Temps Modernes zum 60. Jahrestag der israelischen Staatsgründung) die «Wiederaneignung der Gewalt» durch die israelische Armee begrüßt.
Monumentale Unbeirrbarkeit
Das Erscheinen von Lanzmanns Erinnerungen war in Frankreich ein von vielen antizipiertes feuilletonistisches Großereignis. Kritikerkönige (und zugleich Freunde des Autors) wie Bernard-Henri Lévy, Philippe Sollers (Gründer von Tel Quel und Herausgeber von l’Infini) und Serge July (der Mitgründer und ehemalige Herausgeber von Libération) haben das Buch mit großer Pünktlichkeit zum Meisterwerk ausgerufen. Andere, obwohl nicht unbeeindruckt, haben – auch im Gespräch mit Lanzmann selbst – auf den irritierenden Narzissmus hingewiesen, mit dem letzterer sich selbst zitiert, in streckenweise hymnischem Ton seine Eroberungen und Erfolge feiert und noch Jahrzehnte alte Zeitschriftenartikel für unvergänglich erklärt. Tatsächlich kann man der Stimme dieses Buches eine monumentale Unbeirrbarkeit und sogar Unerschütterlichkeit attestieren. Andererseits ist sie in weiten Teilen die Stimme eines fesselnden Erzählers und Montagekünstlers, der hier – anders als in seinen Filmen – für niemanden als für sich selbst spricht.
Claude Lanzmann: Le lièvre de Patagonie (Gallimard 2009)