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Simmel, Sex, Nazis und Tränen Warum ich einem Drehbuch von Günter Schütter entgegenfiebere, das er – wenn alles gutgeht – nach dem Simmel-Roman Alle Menschen werden Brüder schreiben wird

Von Dominik Graf

Der Traum vom versunkenen bundesdeutschen Bahnhofskino lässt mich nicht los. Das Münchner AKI beispielsweise wurde erst 1996 weggemehdornt (… in vorauseilendem Gehorsam sozusagen, denn der Schreckensfunktionär Hartmut M. kam ja erst ’99 ans Ruder). An Weihnachten hatte dort immer auf den Eingangsstufen die Heilsarmee triumphierende Blasmusiklieder von Läuterung und Erweckung gespielt. Dahinter klebten die Plakate jener Filme, die heute als «Schund» gelten: Italowestern, Horrorschocker, schießwütige Polizeifilme, Dschungel-Softpornos, später Hardcore. Simmel passte in meiner Vorstellung immer in dieses Bild: Heilsarmee und Bahnhofskino, Aufruf zur moralischen Erlösung der verdammten Republik, die ihre Nazigespenster noch in sich trug, und gleich nebenan die Sehnsucht nach dem Versinken in einer Gegenwelt der – wenn’s sein muss auch käuflichen – Sinnlichkeit. Ambivalent bis auf die Knochen. (Herbert Reinecker, Simmels totaler Antipode, übrigens auch.) Das Bahnhofskino machte mit seinem lockenden Gift die gähnende Ödnis der offiziellen Kultur erträglich. Verschwunden – aber eigentlich nur, um so bald wie möglich wiederbelebt zu werden.

Simmel funktioniert ohnehin wie Lackmuspapier, wenn man anhand der verfilmten Titel Tiefenbohrungen in der BRD-Nachkriegsfilmgeschichte anstellt. Es inszenierten seine Romane und Bühnenstücke die Regisseure Alfred Vohrer fünf Mal, Robert Siodmak zwei Mal, Géza von Radványi zwei Mal, Roland Klick, Duccio Tessari (!), Michael Kehlmann, Reinhard Hauff, Gerd Oswald (aus Hollywood angereist), Peter Zadek jeweils ein Mal. Es spielten Frauen wie Doris Kunstmann, Judy Winter, Nadja Tiller, Gila von Weitershausen, Hannelore Elsner, Heidi Stroh, Marthe Keller, Senta Berger, Eva Bartok, Loni von Friedl (alle vom Autorenfilm weitgehend vernachlässigt). O.W. Fischer, Herbert Fleischmann, Maurice Ronet (!), Heinz Rühmann, Harald Leipnitz, Pierre Brasseur (als Nazi-Kopfgeldjäger in Die Affäre Nina B. – wo verdammt bleibt dieser Film auf DVD?!), Klausjürgen Wussow, Günter Pfitzmann, Heinz Domez, mein Vater Robert Graf. Als Produzenten von Simmelstoffen fungierten: Waldleitner, Eichinger, Rohrbach, Artur Brauner, Claus Hardt. Als Komponisten: Doldinger, Peter Thomas, Erich Ferstl usw. usf.

Wie eine Litanei von Stars und von unvergessenen Fragezeichen ebenso wie von versunkenen Geheimnissen des deutschen Films klingt das. Aber alles Simmelsche geschah fast durchweg abseits von der Autorenfilmerlinie. Zu unseriös wohl für die Filmkunst. 1967 bewarb der Knaur-Verlag Alle Menschen werden Brüder so: «Mit den Mitteln des Reißers, des Kriminalromans und der Sex-Story lässt Simmel seine Handlung geradezu explodieren, um die Verlockungen und Gefahren der bundesdeutschen Gegenwart aufzuzeigen. Dies ist das raffinierteste und moralischste, das beste von Simmel bisher geschriebene Buch.»

In der ausufernden Einführungsszene des Romans, in einem (von einem traurig-fröhlichen jüdischen Überlebenden namens Minski geführten) Frankfurter Nachtclub liegt eine Illustrierte auf dem Bürotisch: «Ich, Emmy Göring, sage, wie es damals wirklich war». Das war tatsächlich eine wochenlange Zeitungsserie aus den BRD-6oern, die Simmel hier zitierte. Nebenan macht eine Striptease- Tänzerin Sex mit einer Kerze. Es ist die Nacht, in der die NPD erstmals 22 Prozent in westdeutschen Ortschaften gewinnt. Die Fäden dieses deutschen Kain-und-Abel-Thrillers, der im Kern die Flucht- und Helfer-Linien der Altnazis zum Thema hat, laufen in Kairo und in einem Städtchen in der Lüneburger Heide zusammen: «Treuwall». Dort gibt es eine von einem alten KZ-Arzt geführte Klinik, in der liegt Lillian und kämpft nach einem Selbstmordversuch mit dem Tod. Lillian – die von beiden Brüdern so sehr geliebte Frau.

Simmel schrieb natürlich nie Filmstoffe fürs «Bahnhofskino» in seiner reinen Form. Und dennoch schwappen bei ihm die Szenen dauernd von einer Ambivalenz in die andere. Nein, nicht politisch korrekt. Alle lügen hier. Alle machen Kolportage. Auf niemand ist Verlass, auch nicht auf die Erzähler. Nur auf die Liebe … manchmal. In einem der zärtlichsten Kundenkommentare von ganz Amazon-Land schreibt ein «tarek al hakim» über die CD mit Erich Ferstls Simmel-Melodien: «… aber was bleibt ist die Liebe und die Leidenschaft des Augenblicks, welche somit in alle Ewigkeit fortlebt.» Ja, manchmal. Alles andere ist schwankender Boden bei Simmel.

Ich bin mir nicht sicher, ob Alfred Vohrer damals der richtige Regisseur für das Gros der Simmel-Filme war. Trotz Tarantinos Berlinale-Gebrüll: «Vohrer was a Genius!» (Vielleicht meinte er auch eher die Wallace-Filme?) Wie auch immer. Drei seiner Simmels habe ich inzwischen gesehen, Jimmy …, Alle Menschen werden Brüder und Der Stoff, aus dem die Träume sind. Zweimal mit Doris Kunstmann in der Hauptrolle, dem blonden Engel eines westdeutschen Anti-Autoren-Kinos. Und beide Male mit bemerkenswert mauen Männern an ihrer Seite. Bei Alle Menschen … hatte dann immerhin Harald Leipniz den diabolischen Bruder-Kain-Part. (Der Stoff ist dabei leicht verharmlost, glaube ich, die Ungeheuerlichkeiten der Nazi-Ärzte bleiben jedenfalls schemenhaft.) In Jimmy … ist die herrliche Judy Winter als Puffmutter in bemerkenswert dilettantischer Altersmaske zu sehen. Und in … Träume Hannelore Elsner mit tschechischem Akzent. Am Schönsten gelungen sind dabei die Gänge der schizophrenen alten Lager-Schwester Edith Heerdegen durch das Moor der Toten rund ums Auffanglager (das früher natürlich ein KZ gewesen war) und später durch Hamburg und in den Wahnsinn.

Aber das meiste bei Vohrer ist mir etwas zu fahrig. Die Action­szenen scheinen manchmal fast ein wenig hingeschludert, die Dialoge in den herrlichen BRD-Räumen wirken durch die ständig rasant kurzen Brennweiten zumeist sehr überdramatisiert. Man ahnt zwar die unterirdische Blut-und-Trash-Ader eines anderen deutschen Kinos durch die Alpen hin zur gleichzeitig stattfindenden Genre-Ekstaste in Cinecittà (Giallo, Spaghettiwestern, Polizotto – alles in Italien mit deutschen Schauspielern gedreht, die hierzulande nur noch in den Ringelmann-ZDF-Serien zu tun bekamen: Horst Frank, Wolfgang Lukschy, Werner Pochath, Raimund Harmstorf, Thomas Reiner, Marianne Koch, Eva Renzi – und eben Doris Kunstmann). Man sieht all die Chancen bei Alfred Vohrer – aber oft vergeben, finde ich. (Gleichzeitig machte er jedoch ziemlich starke kleine Filme für die Ringelmannsche Serie Der Alte.)

Klick war da natürlich ein ganz unterschiedliches Kaliber. Lieb Vaterland ist eine wirklich duftende Sumpfblüte in der deutschen Kinogeschichte. Und Siodmak ist sowieso verlässlich, aber mir zu klassisch streng (wenn man nur endlich diese Nina B. wieder zu sehen bekäme!). Zbynek Brynych wäre wohl eigentlich der Richtige für die sieben Simmels von Waldleitner zwischen 1971 und 1975 gewesen. Brynych, der fröhliche Exil-Tscheche, der Ende der 6oer vier sagenhafte, geradezu weltbewegende Folgen beim alten Kommissar gemacht hatte (bitte nur einmal Parkplatzhyänen anschauen! ­Marianne ­Hoppe und Johannes Heesters als Eltern einer Mörder­bande!). Auf der zweiten Derrick-Box kann man am Ende die Folge 3o Yellow He (Gesegnet die Zeiten, in denen deutsche Filme noch solche Titel hatten!) entdecken. Großartig. Kurz und gut: Zbynek Brynych wäre, glaube ich, der Richtige gewesen. Er hatte zu jener Zeit den zwischen böse und lustig changierenden (und gleichzeitig tief melancholischen) Blick auf das Nachkriegs-Westdeutschland. Er hätte aus Simmels Todestänzen das Richtige gemacht, er hätte den treffenden satirischen Ton gefunden und er hätte gleichzeitig in das Dickicht der Intrigen die Lücken aus Sehnsucht wunderschön hinein­geschnitten. Brynych, der Mann, der meistens nur eine einzige Melodie in seinen Filmen einsetzte, nur einen Song, der endlos aus den Musicboxen schallt. (In Yellow He ist es «La ­Bamba». ­Remember «La Bamba»? Man kann es auch als Folterwerkzeug ­benutzen.)

Aber die deutsche Filmgeschichte ist ja sowieso ein einziges großes «Was wäre gewesen, wenn …»

– wenn Judy Winter und Doris Kunstmann bei uns mehr als nur Simmel-Kinofilme zu spielen bekommen hätten?

– wenn Eichinger den Roland Klick nach dem gemeinsamen Lieb Vaterland … bei Die Kinder vom Bahnhof Zoo nicht ausgetauscht hätte? Hätte Klick einen besseren Film gemacht? Was nichts gegen Uli Edels Film heißen soll, der war schon was. Aber hätte Klick dann vielleicht länger durchgehalten?

Den verborgenen Geheimnissen im deutschen Kino bis ins Dunkel nachspüren. Sozusagen den Filmen, die es nie gab, hinterherinszenieren … Was wäre, wenn ich einmal Simmel verfilmen könnte? Und das mit einem Buch von Günter Schütter, dem ich zwei meiner Lieblingsfolgen-Folgen der Serie Fahnder verdanke, Frau Bu lacht, den Skorpion, den Scharlachroten Engel und das Originalbuch Die Sieger (von dem dann nach jahrelangen Drehbuchsitzungen nur noch die Hälfte übrig blieb). Der bereits eine moderne Drehbuchversion zu Gott schützt die Liebenden geschrieben hat. So viele der Szenen, so viele der Dialoge, die mich bislang am meisten inspiriert und zu inszenieren begeistert haben, stammen von ihm. Nochmal: «Was wäre, wenn …» … ich einmal Simmel nach einem seiner Drehbücher verfilmen könnte? Vorfreude wie auf Weihnachten.