produktionskultur

Eisernes Zeitalter Die Stadt, in der sich die «neue Welle» des rumänischen Kinos verläuft: eine Reise nach Bukarest

Von Bert Rebhandl

© cargo

 

Am nordöstlichen Ausgang der U-Bahn Station Piata de Universitatii in Bukarest liegt recht unscheinbar ein kleines Imbisslokal. Es nennt sich Fru Fru und bietet Pastagerichte in Pappkartons, wie man sie aus amerikanischen Filmen und Fernsehserien kennt, wo «take out» und «delivery» die geläufige Form für urbane Eliten sind, zwischendurch eine Kleinigkeit zu essen. Bei Fru Fru verkehren Studenten und die neue Angestellten­elite der Stadt, Finanzmakler und Anwälte. Früher hätte man gesagt: Yuppies; heute muss man vielleicht in eine Stadt wie Bukarest fahren, um diesem Wort, das städtisches Arbeitsleben und die entsprechenden Genussmöglichkeiten gegen ländliche Armut und mangelndes Angebot abgrenzt, noch einmal seinen ganzen Anspielungsreichtum zu geben. Fru Fru bezieht sich programmatisch auf Jamie Oliver, den englischen Koch, der als «naked chef» wesentlich dazu beitrug, dass ein einfaches Gericht wie Penne Arrabiata heute in aller Welt große Wertschätzung erfährt. Bei Fru Fru kostet ein Karton Penne Arrabiata 10 Lei, das sind in etwa 2,40 Euro. Wer will, kann danach noch einen Milchreis essen oder eine Tafel Schokolade von einem öster­reichischen Hersteller, der seine Produkte als ökologisch ausweist und durch eine aufwendige Verpackung veredelt.

Ein paar Schritte von hier wurde 1990 um die Revolution gestritten, die Rumänien nicht nur kleine private Unternehmen wie Fru Fru (zwei Filialen in Bukarest) beschert hat, sondern auch die Filialen von McDonald’s, Pizza Hut und Kentucky Fried Chicken, die um die Ecke den Boulevard Magheru dominieren, auf dem die Autos auf acht Spuren in Richtung des Piata Victoriei oder des Piata Unirii unterwegs sind. Wie in den meisten anderen Städten auch beziehen sich die Namen der wichtigen Plätze von Bukarest auf die nationale Geschichte: Platz des Sieges. Platz der Einheit. Auf dem Platz der Universität erinnert ein kleines Holzkreuz an die Opfer der Revolution von 1989 / 90. Die Szenen, die sich hier abspielten, als bestellte und herbeigekarrte Bergarbeiter den urbanen Protest gegen die Enteignung der Revolution durch den früheren hohen kommunistischen Funktionär Ion Iliescu auseinanderprügelten, bilden das unbewältigte Trauma der jüngeren rumänischen Geschichte.

Es wird auch von den Filmen nicht direkt adressiert, die sich zuletzt zunehmend einer Aufarbeitung des Erbes der Ceauscescu-Jahre und einer kritischen Bilanzierung der seither vergangenen zwanzig Jahre der Freiheit widmen. Ich war nach Bukarest gefahren, weil ich ein eigenes Bild von den Umständen bekommen wollte, aus denen die «neue Welle» des rumänischen Kinos erwachsen ist. Regisseure wie Cristian Mungiu (Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage), Cristi Puiu (Der Tod des Herrn Lazarescu), Corneliu Porumboiu (12.08 Östlich von Bukarest), Cristian Nemescu (California Dreaming) oder Catalin Mitulescu (Wie ich das Ende der Welt feierte) haben innerhalb weniger Jahre mit aufsehenerregenden Arbeiten begonnen, die Geschichte des Landes unter Ceauscescu und nach der Revolution neu zu sehen und zu bewerten. Häufig gingen sie dabei noch einmal hinter das Datum 1989 zurück. So handelt auch die jüngste Arbeit aus diesem Zusammenhang, der Omnibus-Film Tales from the Golden Age, der in Cannes in der Reihe Un Certain Regard lief und bei dem Cristian Mungiu federführend war, von dem «goldenen Zeitalter», das der Diktator Nicolae Ceauscescu für sein Land schon angebrochen sah.

Mysteriöses Land

Es gibt aber auch noch eine andere Spur, die mein Interesse an Rumänien geweckt hat. Sie führt über den Religionswissenschaftler Mircea Eliade (von dem Francis Ford Coppola den Roman Jugend ohne Jugend verfilmt hat) über dessen Schüler Ioan Culianu (der Professor am Divinity College in Chicago war, als er 1993 unter bis heute nicht geklärten Umständen auf einer Toilette auf dem Campus erschossen wurde) zu dem Bukowiner Juden Norman Manea, der in seinem Buch Die Rückkehr des Hooligans seinen Besuch in Bukarest 1997 nach zehnjährigem Exil beschreibt. Bei Manea, der über Eliades Beziehungen zu den rumänischen Faschisten der Eisernen Garde in den 1930er Jahren einen wichtigen Text verfasst hatte, zeigt sich das mysteriöse Rumänien, ein Land, in dem der kommunistische Geheimdienst Securitate nie richtig abgewickelt wurde, in dem nationalistische Zeitschriften den Mord an Culianu feiern können, und in dem die Demokratie vielfach nur wie eine Formalie erscheint, hinter der erbittert um die Pfründe der wirtschaftlichen Entwicklung gestritten wird.

In der Woche, die ich im April in Rumänien verbrachte, beherrschten zwei Themen die öffentliche Debatte: das Abschneiden der nationalen Fußballmannschaft in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika, und ein Korruptionsskandal um Immobilien in der besten Lage Bukarests. «Um mit dem Magnaten Puiu Popovescu Geschäfte zu machen, stehen sogar Basescu und Tariceanu Schlange», zitieren die Zeitungen aus einem abgehörten Telefongespräch. Basescu ist niemand geringerer als der gegenwärtige rumänische Staatspräsident, Tariceanu ein früherer Premierminister, vor allem aber sind die Medien schockiert über die Verstrickung des Geheimdiensts in die Affäre. Ich muss an die Szene in Corneliu Porumboius 12:08 Östlich von Bukarest denken, in der in dem Studio eines provinziellen privaten Fernsehsenders über einen früheren Beamten der Securitate gesprochen wird, der nun der erfolgreichste Unternehmer der Gegend ist. Dieser Mann ruft einfach selber in der Sendung an und droht unverhohlen und kühl mit Repressionen, wenn er aus den Medien weiter mit übler Nachrede konfrontiert wird. Dass Porumboiu diesen Mann gesichtslos verbleiben lässt, eine bedrohliche Stimme aus dem Off, ist eine kluge filmische Idee, ein konspiratives Signal, das der manifesten Komik von 12:08 Östlich von Bukarest eine unheimliche Note gibt.

Man muss an den Stadtrand von Bukarest fahren, um den Fortschritt, den die Revolution gebracht hat, richtig zu Gesicht zu bekommen. Nach Nordosten reihen sich die Business Parks aneinander, viele westliche Unternehmen sind hier vertreten, man glaubt förmlich zu sehen, wie hier nicht einfach Gewerbe-Immobilien in die Höhe schießen, sondern die Claims des Wirtschaftswachstums abgesteckt werden, gesäumt von den großen Tafeln, auf denen die EU die Verwendung ihrer öffentlichen Gelder für Infrastrukturprojekte bekannt macht. Die innere Stadt ist dagegen überraschend unverändert geblieben, sieht man von den vielen Hotels ab, die seither hier eröffnet haben. Das Intercontinental, eines der auffälligsten Gebäude in Bukarest, stammt allerdings noch von vor 1989 und wirkt mit seinem Prunk­betonstil wie ein Relikt aus einer Zeit, in der Architektur noch in Diensten der staatlichen Repräsentation stand.

Das große Einkaufszentrum auf der von Ceauscescu mit brutaler planerischer Hand für eine kommunistische Repräsentationsachse leergeräumten Piata Unirii wird gerade umgebaut und hat dies offensichtlich auch nötig. Es ist auffällig, wie sich auf dieser U-Bahn-Station der Zug leert. Wer von hier weiter nach Süden fährt, wohnt entweder in einem der zahllosen Wohnblocks dieser deutlich ärmeren Gegend von Bukarest oder besucht vielleicht einen Patienten in der Bagdasar-Klinik, einem der vier Krankenhäuser, die der Rettungswagen in Cristi Puius Der Tod des Herrn Lazarescu in der langen Nacht anfährt, an deren Ende der Patient stirbt. Nach Norden hin ist Bukarest grüner und weniger dicht besiedelt, nicht zufällig liegt hier auch das Museum des Dorfes, in dem das Selbstbild Rumäniens als rurale Hirtennation gepflegt wird, von dem Ceauscescu mit seinen gigantomanen Infrastrukturprojekten so nachdrücklich abzurücken versuchte, dass die letzten zehn, fünfzehn Jahre seiner Herrschaft zu einer katastrophalen Notlage im ganzen Land führten. Als dem Diktator im Dezember 1989 der Prozess gemacht wurde, lautete eine der Anklagepunkte Genozid (durch ­organisierten Mangel).

Magischer Realismus

In Harun Farockis und Andrej Ujicas Film Videogramme einer Revolution sind die Gebäude rund um den Piata Victoriei zu sehen, der das Drehkreuz im Nordwesten der Stadt bildet. Sie waren in diesen Tagen im Dezember 1989 noch leer, ein weiteres großes Vorhaben von Ceauscescu, in das sich in den unruhigen Tagen der Revolution angeblich Truppen der Securitate eingebunkert hatten, die wahllos auf den großen Platz schossen. Viele halten diese Gefechte heute für bloßes Geplänkel, mit denen die neuen alten Machthaber eine Gefahrenkulisse schufen, vor der sie sich in aller Ruhe gegen die Intellektuellen und Volksvertreter konsolidieren konnten. Heute wirkt die Leuchtreklame für Pepsi, Beck’s und den Sparkassenverband wie aufgesetzt auf dieses Monument einer Stadtplanung, die sich das Volk nur bei akklamierenden Aufmärschen vorstellen konnte. Vom Piata Victoriei führt die Stefan-cel-Mare-Chaussee zum Obor-Platz. In dieser Straße liegt ein geistiger Ausgangspunkt für das neuere intellektuelle Rumänien, denn hier hat der Schriftsteller Mircea Cartarescu als Kind gelebt, in einer Welt voller Wunder, in die das Elend der kommunistischen Diktatur nur allmählich dringt. Sein kürzlich erschienenes Buch Nostalgia bildet einen interessanten Kontext für die Tales from the Golden Age, die einen vergleichbaren «magischen Realismus» zum Markenzeichen des Überlebens in der kommunistischen Mangelwirtschaft machen.

Ich erlebe eine große Überraschung, als Mircea Cartarescu mir seine Wohnadresse nennt, an der ich ihn aufsuchen kann. Er ist nämlich aus der Stadt an die äußerste Peripherie gezogen, in eine gated community im Wald, deren wesentliche infrastrukturelle Anbindung eben jenes Einkaufszentrum ist, das schon bei der Ankunft auf dem kleineren Bukarester Flughafen Baneasa unübersehbar gewesen war. Der wichtigste rumänische Autor, ein subversiver Mythologe mit weltliterarischem Rang, lebt mit seiner Frau und seinem Sohn, der in eine deutschsprachige Schule geht, in einem Reihenhaus mit Nachbarn, von denen viele ihr Geld im Ausland gemacht haben – ein Arzt, der aus Deutschland zurückgekehrt ist, ein Geschäftsmann aus Portugal. Stolz zeigt Cartarescu mir sein seiner Meinung nach wichtigstes Buch: ein Versepos namens «­leVanTul» von so avancierter (rumänischer) Intertextualität, das mit einer Übersetzung in eine andere Sprache nicht zu rechnen ist. Nach zwei Stunden, in denen er über seinen großen Romanzyklus Orbitor und seine Erinnerungen an 1989 gesprochen hat, brechen wir gemeinsam auf. Mircea Cartarescu muss zum staatlichen Fernsehen, er ist in eine Talk-Show eingeladen. Bevor wir losfahren, steht er noch eine Weile unschlüssig vor seinem Bücherregal. Er soll ein Buch mitbringen, das ihm sehr viel bedeutet. Er entscheidet sich schließlich für Howl von Allen Ginsberg, eine der zentralen Urkunden der Beat Generation, auf die Cartarescu sich auch deswegen so leidenschaftlich bezieht, weil er sich vornehmlich als Poeten sieht, während er im Westen vor allem als Romancier rezipiert wird.

Triumphbogen

Ich steige an der Piata Charles de Gaulle aus seinem Auto, wo ein Arcul de Triumf an die alten kulturellen Beziehungen Rumäniens zu Frankreich erinnert. Wenig später höre ich in einem Antiquariat am Boulevard Magheru ein Gespräch mit, in dem der Buchhändler und zwei Kunden sich auf Französisch darüber unterhalten, ob man in Paris oder in Brüssel besser isst. Ich kaufe ein österreichisches Buch über die Anfänge der Revolution in Temesvar, stecke es in meine Tasche und spaziere zur Cinemateca Romania. Ich will Aufschluss darüber bekommen, ob es in der Stadt so etwas wie eine öffentliche Cinephilie gibt, einen Ort der Auseinandersetzung, an dem die Regisseure der rumänischen Neuen Welle sich mit dem Kino vertraut gemacht haben. Aber an diesem Tag sind nur drei Leute gekommen, um Bertoluccis Il Conformista zu sehen, von dem einfach die geläufige DVD-Ausgabe gezeigt wird. Ich verliere die Lust, später am Tag noch einmal wiederzukommen, um mir einen Horrorfilm aus den englischen Hammer-Studios anzusehen, und auch den Besuch in dem modernsten digitalen Multiplexkino der Stadt in einem Einkaufszentrum an der Piata Unirii spare ich mir.

Stattdessen kehre ich zurück in das kleine Kino am Boulevard Magheru, das, zwischen den allgegenwärtigen Sex Shops und Casinos gelegen, das gerade stattfindende Filmfestival der Stadt beherbergt. Die ganze Veranstaltung könnte unscheinbarer nicht sein. Jerzy Skolimowski ist der wichtigste internationale Gast, seinen Auftritt und seinen Film Four Nights with Anna habe ich allerdings um einen Tag versäumt. An diesem Abend besteht Auswahl zwischen dem deutschen Beitrag Absurdistan von Veit Helmer und Monsieur Morimoto, einem französischen Film über einen japanischen Maler in Paris. Die spezifische, zwiespältige Nostalgie, von der so viele rumänische Regisseure sprechen, wenn sie an ihre Jugend im Kommunismus zurückdenken, und von der viele ihrer Filme geprägt sind, hat mit dem wohlfeilen Ethnosurrealismus eines Veit Helmer nichts zu tun, und auch insgesamt wirkt das Festival nicht so, als wäre es für Leute wie Cristi Puiu oder Cristian Mungiu, deren Koordinaten längst in der Betriebsamkeit des Weltkinos festgelegt werden, irgendein Bezugspunkt. Erst an ihren nächsten Arbeiten wird sich ermessen lassen, ob in Rumänien tatsächlich eine Generation von Talenten das Kino zu einem Medium nationaler Selbstverständigung machen kann, oder ob es sich bloß um ein kurzlebiges internationales Festivalphänomen gehandelt hat. An dem Tag, an dem ich nach Berlin zurückfliege, tritt die rumänische Fußballnationalmannschaft in Österreich an. Es ist das Spiel der allerletzten Chance, es geht mit 1:2 verloren, und die ohnehin schon durch Kreditverhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds gekränkte Nation erleidet einen weiteren Rückschlag. Als ich am nächsten Tag in einem Bio­laden in Kreuzberg die gleiche handgeschöpfte österreichische Schokolade entdecke, die auch bei Fru Fru an der Piata de Universitarii auf der Theke gelegen hatte, staune ich kurz über die verschlungenen Vertriebswege, aus denen das osterweiterte Europa besteht, und mir fällt auf, dass ich in Bukarest nichts gesehen habe, was danach aussah, dass es eine kommende Generation nostalgisch machen könnte.