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Olivier Assayas Der letzte Debordianer

Von Ekkehard Knörer und Simon Rothöhler

Olivier Assayas am Set von Carlos

© Frentic Films

 

Olivier Assayas, geboren 1955 in Paris, ist der zentrale Regisseur einer Generation französischer Filmemacher, die vor der Aufgabe standen, das Erbe der Nouvelle Vague antreten zu müssen. Nach einem abgebrochenen Studium an der Ecole des Beaux Arts und einigen Kurzfilmen holte ihn Serge Daney zu den Cahiers du ­Cinéma, für die er von 1979 bis 1985 als Redakteur arbeitete. 1986 debütiert er mit dem Jugenddrama Desordre, einer «überzeugenden Mischung aus Pop und gelebtem Poststrukturalismus» (Alexander Horwath). 1996 machte ihn Irma Vep, ein Film, in dem Maggie Cheung und Jean-Pierre Léaud filmkulturelle und -geschichtliche Kontinente aufeinander zu bewegen, zu einem Star des europäischen Autorenkinos.

In den letzten Jahren entstanden zwei elegante Verschwörungsthriller – Demonlover (2004) und Boarding Gate (2007) – die der globalen Zirkulation von Finanzströmen und Bildern nachspüren. Dazwischen drehte Assayas Clean (2004), wieder mit Maggie Cheung, mit der er auch einige Jahre verheiratet war, und Nick Nolte. Ein sehr schöner Film über Drogenentzug und das gelassene Mutterwerden einer Avantgarde-Rock-Heroine. Die Bedeutung, die Musik, Post-Punk-Rock vor allem, für ihn hat, ist nicht zuletzt seinem Konzertfilm Noise – mit Auftritten von Metric, Kim Gordon und Thurston Moore von Sonic Youth u. a. – abzulesen, für den ihm das Festival Art Rock de Saint-Brieuc im Jahr 2005 Carte Blanche bei der Künsterauswahl gab. L’heure d’été (2008), ­Assayas’ aktuelle Arbeit schließt wiederum an die Globalfilme an – es geht um eine großbürgerliche Familie, die mit sich auszuhandeln hat, wie man in Zeiten post-nationaler Lebensstile Kultur und Besitz tradiert.

Derzeit dreht Olivier Assayas u. a. in Paris, Berlin, Budapest und Beirut eine weit ausholende Trilogie über Carlos – der internationale Terrorismus der 70er und 80er Jahre als Epos in Cinemascope. Wir trafen ihn in Halle zu einem ausführlichen Gespräch über dieses Projekt und seine politische Biografie, darüber, wie er arbeitet und was es heißt, in einer Tradition zu stehen.

 

Herr Assayas, für unser erstes Heft haben wir ein ausführliches Gespräch mit Thomas Harlan geführt – vielleicht kennen Sie ihn?

Ja, ich kannte ihn, über einen gemeinsamen Freund in Paris; sehr lange her. Das war zu der Zeit von Wundkanal.

Es gibt noch eine andere Verbindung zwischen Ihnen beiden: Wir haben gehört, dass Sie vor einigen Jahren an einem Film über den linken Verleger und Mäzen Giangiacomo Feltrinelli gearbeitet haben – er hatte die Forschungen zu Harlans Buchprojekt «Das Vierte Reich» finanziell unterstützt.

Stimmt. Ein deutscher Produzent drückte mir ein kurzes Treatment und Feltrinellis Autobiografie in die Hand. Ich las die Autobiografie, schauderhaft übersetzt, aber völlig faszinierende Geschichte. Ich las das Treatment, das er hatte und das ihm gar nicht gefiel. Ich fand es aber perfekt und meinte: Doch, genau so muss man es machen. Wir haben das dann nicht weiter verfolgt.

Wir treffen Sie hier in Halle während der Dreharbeiten zu einem großen Projekt über Ilich Ramírez Sánchéz, besser bekannt als Carlos der Schakal. Drei Filme über den linken Terrorismus der 70er und 80er Jahre mit Geld von Canal Plus?

Vielleicht wird mir das alles am Ende ja um die Ohren fliegen. Es scheint mir selbst unglaublich, dass ich einen solchen Film machen kann, mit einem derartigen Budget, mit diesen Freiheiten – im Grunde hijacke ich da das System. Ich glaube, dass sie nicht so ganz verstehen, was ich da tue.

Es wird drei Filme fürs Fernsehen geben und einen Kinofilm?

Ja, aber das war anfänglich noch nicht abzusehen. Eine merkwürdige Geschichte, schon von der Entstehung her, und es wird auch ein merkwürdiger Film; anders als alles, was ich bisher gemacht habe. Als ich daran zu arbeiten begann, stellte sich schnell heraus, dass es mit einem neunzigminütigen Film nicht getan sein würde. Mein Produzent war entsetzt, aber wir gingen trotzdem mit der Idee zu Canal Plus, die zuvor schon Interesse an einem Carlos-Stoff gezeigt hatten. Dort waren sie erstaunlicherweise einverstanden und gaben grünes Licht für zwei Filme. Ich habe dann weiter daran gearbeitet und stellte fest: Ok, das sind nicht zwei Filme, sondern drei. Ich sagte das meinem Produzenten, er war natürlich wieder entsetzt. Aber ich habe das zu erklären versucht: Wir erzählen einfach Carlos’ Geschichte von seinen ersten Operationen bis zu seiner Verhaftung in Khartum, von 1974 bis 1994. Ohne Schnörkel. Es gibt nur eine Art und Weise, diese Geschichte zu erzählen. Man kann da keinen Mischmasch draus machen. Wenn man eine Geschichte erzählen will, die die Komplexität der Politik nicht vereinfacht, wenn man eine glaubwürdige Figur präsentieren will, wenn man die wichtigsten Ereignisse in Carlos’ Geschichte erzählen will, dann braucht man eben Raum.

Die Entscheidung für das Fernsehen zu arbeiten ist also eine pragmatische, produktionsökonomische?

Ja. Ich wollte auch keinen berühmten Schauspieler in der Rolle des Carlos, weil es eine solche Figur unter den Schauspielern im Kino nicht gibt. Es gibt keinen etablierten Darsteller venezolanischer Herkunft, der englisch, französisch, deutsch, ein bisschen arabisch spricht und aussieht wie Carlos. Ich wollte also keinen Druck haben, sondern mich da frei entscheiden können – für Edgar Ramírez, der ihn jetzt spielt. Dasselbe galt für die anderen Darstellern. Alle sehr jung, kaum älter als Mitte zwanzig. Ich wollte,dass sie unterschiedliche Sprachen sprechen, aus unterschiedlichen Kulturen kommen. Und ich wollte an Originalschauplätzen drehen, im Libanon, in Jemen, am Ende auch im Sudan. Das war für mich entscheidend. Wenn sie irgendwann gesagt hätten, wir drehen das alles in Marokko, dann hätte ich mich geweigert. So machen es die Amerikaner, auch gut. Aber ich wollte das nicht. Schließlich können wir problemlos auch im Libanon drehen, im Sudan. Bei der Dimension des Projekts war für mich allerdings auch klar, dass es auf 35 mm und in Cinemascope gedreht werden muss, also als richtiger Film. Ich habe meinen Willen bekommen, es war nicht immer ganz einfach.

Die Geschichte von Carlos scheint aus heutiger Sicht nicht zuletzt die Geschichte der Globalisierung eines Bildes zu sein, eines Bildes das durch seine globale Zirkulation zur Ikone wird.

Die Fakten sind global. Der Terrorismus dieser Zeit war extrem globalisiert. Was ich beschreibe, ist die Beziehung zwischen der palästinensischen Befreiungsbewegung, den japanischen Terroristen von der Roten Armee, den deutschen Radikalen von den Revolutionären Zellen und den Drittweltkriegern aus Lateinamerika. All das war extrem präsent in den westeuropäischen Hauptstädten. Carlos war Teil der Strategie der Palästinenser, ihren Kampf zu globalisieren. Deshalb haben sie Beziehungen zu den japanischen, zu den deutschen, zu lateinamerikanischen Terroristen gesucht. Auch in Frankreich – aber ohne Erfolg. Carlos steht im Zentrum eines internationalen Netzwerks des Terrorismus. Er ist Teil einer globalisierten terroristischen Bewegung. Das war ganz und gar real. Es gab eine Phase, in der die französischen Studenten etwas lernen konnten vom Kampf der japanischen Studenten. Alle kämpften gegen denselben Feind: Imperialismus, Kapitalismus. Alle linksradikalen Militanten waren Teil dieses Internationalismus. Und Carlos war nicht nur Teil davon – er lebte das buchstäblich. Er stand an der Spitze des Ganzen.

Zu dieser Realität gehört aber auch, dass sich bei Carlos die ideologischen Begründungszusammenhänge bereits in den 70er Jahren verlieren, er wird zum opportunistischen Auftragsmörder, tötet ohne weltanschauliche Überzeugung.

Ja, ein Söldner wird er. Und zwar zu einem ganz bestimmten Moment. Wir filmen das gerade: die OPEC-Geiselnahme im Dezember 1975.

Das filmen Sie hier? In Halle? Unähnlicher kann ein Ort Wien doch gar nicht sein.

Wir filmen das in einem Lagerhaus, da haben wir ein Studio. Fragen Sie mich nicht, warum. Wird schon was mit Fördergeldern der Region zu tun haben.

Eine internationale Koproduktion über den internationalen Terrorismus.

Carlos’ Wiener Mission – der Auftrag den ihm Wadie Haddad, der Chef der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) gegeben hat – besteht eigentlich darin, die zwei Minister zu töten, die sich der Erhöhung des Barrel-Preises entgegenstellen. Scheich Jamani von Saudi-Arabien und Jamschid Amouzegar aus dem Iran, die als Alliierte der USA wahrgenommen werden. Carlos tötet die beiden jedoch nicht, sondern schnappt sich das Geld von der anderen Seite. Er wird gefeiert, Wadie Haddad schmeißt ihn raus. Das ist der Wendepunkt. Obwohl Haddad letztlich auch einen Teil des Geldes genommen hat. Plötzlich ist Carlos nun ein Söldner. Er kann nicht zurück nach Europa, er steckt fest. Er kann nur seine eigene Gruppe gründen, erst vom Irak, dann von Syrien finanziert.

Einer der späten Finanziers der Carlos-Gruppe war der Schweizer Altnazi François Genoud. Überhaupt scheinen sehr unterschiedliche Fraktionen vor allem im geteilten Hass auf Israel verbunden gewesen zu sein. Hier kommt es zu einer ideologischen Konvergenz zwischen im Selbstverständnis antiimperialistischem Antizionismus und rechtem Antisemitismus. Aus Sicht der deutschen Linken kulminiert diese krude Logik in der Operation von Entebbe, als jüdische Überlebende der Shoa von den Söhnen und Töchtern der deutschen Tätergeneration ein zweites Mal «selektiert» werden.

Wir haben diese Geschichte im Film, sie ist ein wichtiges Element. Genoud kommt nicht vor, weil das in einer so späten Phase, nach Carlos’ Verhaftung 1994 passiert. Nach meinem Verständnis ist er der Banker von Wadie Haddad, er hatte Beziehungen zu Syrien. So kam es wohl zu dem Kontakt mit Carlos. Carlos selbst würde ich nicht als Antisemiten definieren. Obwohl es da ganz sicher diese Tendenz gibt, ganz ähnlich wie bei Verges …

… Jacques Verges, der umstrittene Rechtsanwalt, der Carlos’ Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Magdalena Kopp vor Gericht vertreten hat, vor allem aber durch seine Verteidigung des Gestapo-Offiziers Klaus Barbie bekannt wurde. Barbet Schroeder hat kürzlich einen bemerkenswerten Interviewfilm mit ihm gemacht: L’Avocat de la Terreur.

Genau. Carlos’ antisemitische Tendenz ist präsent, aber nicht so entscheidend, denke ich. Schließlich hat er auch nie israelische Ziele attackiert.

Die Liste der Opfer und Ziele der Carlos- Gruppe ist ohnehin so inkohärent wie die begleitende Rechfertigungsrhetorik. Kompliziert und an manchen Stellen kaum mehr nachvollziehbar sind auch die Allianzen dieser Zeit: zwischen palästinensischen und deutschen Terroristen, vor allem den Revolutionären Zellen, der ETA, der japanischen Roten Armee …

Wahrscheinlich brauche ich deshalb fünf Stunden dafür. Am Ende muss ich die Punkte miteinander verbinden. Die PFLP steht im Zentrum des Ganzen. Als Wadie Haddad sie gründete, war sie eine Absplitterung der PLO. Sie wollten den Kampf gegen Israel radikalisieren. Dann kam es zum Streit zwischen Haddad und Georges Habash. Haddad wollte die Internationalisiserung. Ganz besonders nach dem Schwarzen September in München. Habash wollte das nicht. Also kam es zur Aufsplitterung. Die japanische Rote Armee explodierte – oder implodierte, ich weiß nicht genau, was treffender ist – nach der Skihütten-Affäre.

Man sieht das in Koji Wakamatsus Film United Red Army

Ja, sehr interessanter Film. Er erzählt die Geschichte sehr gut. Das war plötzlich wie bei der Manson-Family. Es bedeutete das Ende der japanischen Linken. Was davon übrig war, konnte nur international überleben. Deshalb kam es 1972 zu dieser Kamikaze-Operation im Flughafen Lod von Tel Aviv. Dadurch entstand eine enge Verbindung mit der PFLP, die sich eine solche Aktion nie zugetraut hätte. Man glaubte, dass es dafür wirklich Kamikaze-Krieger bräuchte. De facto waren sie dann natürlich nur die Vorläufer der Selbstmordattentäter.

Carlos geht einen anderen Weg. Neben seinem Privatkrieg gegen Frankreich, den er führt, um Magdalena Kopp frei zu pressen, agiert er bevorzugt als Waffenhändler mit exzellenten Kontakten.

Er hat Zugang zu Waffen aus dem Nahen Osten, Libyen, Syrien. Er kann Waffen in einem Flugzeug nach Ost-Berlin schicken. Empfänger waren die ETA, die IRA etc. Mit der ETA hat er sogar Subkontrakte. Als Ceaucescu ihn mit Morden an rumänischen Oppositionellen beauftragt, beauftragt er die ETA. Die weiß, wie man so was macht. Wichtig war auch das Wohlwollen der Stasi. Der Carlos-Adlatus Johannes Weinrich und Magdalena Kopp hatten enge Stasibeziehungen, eigene Code-Namen. Der Ostblock war überhaupt darauf bedacht, da seine Hände im Spiel zu haben. Vielleicht konnte man die Terroristen hier und da noch brauchen.

Ist Carlos für Sie eine zentrale Figur, weil er das Netzwerk des internationalen Terrors in ein Geschäftsmodell überführt, das ideologisch gleichgültig operiert?

Ja, aber das war der Zug der Zeit.

Nach dem Fall der Berliner Mauer?

Schon zuvor. Der Niedergang der europäischen Linken lässt sich an Carlos nachvollziehen. Sie wird immer irrelevanter.

Wie kam es aus Ihrer Sicht dazu?

Die Achtziger, das Scheitern der Idee der Revolution. In den Siebzigern warteten die Leute noch auf die Revolution mit großem R. Sie kommt aber nicht. Man wartet, man hütet Schafe in Zentralfrankreich. Man gerät ins Zweifeln.

Jetzt sind wir beim autobiografischen Aspekt des Carlos-Projekts. Der Film erzählt ja ein Stück weit die Geschichte Ihrer Generation oder einen politischen Horizont, der auch in eine Phase Ihres Lebens hineinragt. In dem Buch Une adolescence dans l’après-Mai : Lettre à Alice Debord beschreiben Sie Ihre Zeit als junger Erwachsener in den Siebzigern als erstickend. Die Linke ist bereits in all diese ideologisierten Sekten aufgespalten. Sind sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt auf der Seite der Linken?

Ja, klar. Wenn links irgendwas bedeutet.

Tut es das?

Es gibt keine einfache Antwort. Ich bin in politischen Zeiten aufgewachsen. Man las die Bücher, man dachte über die Debatten nach, die ganzen linken und linksradikalen Debatten. Sogar als Gymnasiast musste man sich das fragen: Bist du Leninist, bist du Trotzkist. Wo stehst du? Man musste die Nuancen all dessen verstehen. Es gab eine ganz starke Beziehung zur Geschichte der europäischen Linken, bis zurück zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Wobei ich den Werten, der Politik oder gar dem Kreis von Carlos nie nahe stand. Aber der Grund, warum ich den Charakter von Carlos verstehe, warum ich ihn zu einer Art Shakespeareschem Schurken machen kann, ist: Ich habe in diesen Zeiten gelebt, ich habe Menschen wie ihn, lateinamerikanische Revolutionäre getroffen. Ich habe gehört, was sie sagten, ich habe verstanden, wie sie dachten, auch wenn ich nicht zustimmte. Ich kannte die Beziehungen europäischer Revolutionäre zu lateinamerikanischen Revolutionären. Wovon immer die Europäer sprachen, die Lateinamerikaner hatten es getan: Sie lebten im Kriegszustand. Ich erinnere mich an Leute meines Alters, die den Pinochet-Staatsstreich erlebt hatten. Sie kamen aus einem Krieg. Genauso die Uruguayer, die Beziehungen zu den Tupamaros hatten oder die Argentinier unter der Diktatur. Es war ein Krieg zwischen linken Revolutionären und einem brutalen Staat. Eine Figur wie Carlos, der später etwas ganz anderes wurde, war zunächst nur ein Soldat in diesem Krieg. Natürlich ein Latino-Macho, aber nicht so anders als viele Militante in der Welt, die ich kannte, die ich verstand. Erst in dem Moment, in dem er in Paris drei Polizisten tötet, gerät er auf die andere Seite des Spiegels. Sein Leben ändert sich und er beginnt, in einer anderen Welt zu leben. Er wird gleichzeitig zu einem Mythos. Er ist der große Mythos aus dieser Zeit und dieser Phase. Ja, er steht auf der dunklen Seite der Geschichte, aber dennoch, es ist die Geschichte dieser Zeit.

Wo genau standen Sie im linken Spektrum Post-Mai 68?

Einer der gerne übersehenen Aspekte des Mai 68 ist, dass es sich dabei um eine zutiefst anti-kommunistische Bewegung handelte. Eine linke, anti-kommunistische Bewegung. Sie musste ihre Vorläufer finden, ihre Ideologie in der Geschichte des linken Anti-Kommunismus. Bis zurück zu Karl Korsch etc., zurück zu den Debatten um Trotzky.

Mit antikommunistisch meinen Sie anti-stalinistisch?

Ja, klar. In Frankreich gab es die mächtige kommunistische Partei, die noch stalinistisch war. Der Großteil der klassischen Linken in Frankreich war stalinistisch. Erst Jahre später konnte man Solschenizyn überhaupt nur erwähnen. Über Arbeitslager in der Sowjetunion durfte man nicht sprechen, wenn man nicht aus der Linken ausgeschlossen werden wollte. Oder was wirklich in Maos China passierte. Ich hatte von früh auf eine klare Idee davon, wie sich der Stalinismus zum Trotzkismus verhielt und beides zur libertären Linken. Ich wusste immer, dass ich zur libertären Linken gehörte. Man musste sich entscheiden. Und ich entschied: hier gehöre ich hin. Intellektuell, instinktiv. Und was gab es ganz links von der Linken: den Situationismus.

Was interessierte Sie daran?

Die Situationisten waren das Erbe der klassischen anarchistischen Linken. Bakunin, der frühe Marx, die Linkshegelianer. In diesem Kontext hatten sie ihre theoretischen Begriffe gefunden und geformt. Ich fühlte mich dieser Tradition theoretisch wie künstlerisch verbunden. Heute kümmert das ja niemanden mehr. Heute trifft man auf Altermondialisten, deren Kämpfe, deren Werte befinden sich auf einem völlig anderen Planeten. Was die situationistische Internationale so interessant machte, war nicht zuletzt, dass sie aus der Kunsttheorie kam, dass sie mit der Kunsttheorie in Verbindung blieb. Das war meine Welt, meine Sprache. Ja, ich bin ein Debordianer.

Mit Debord assoziiert man als erstes eine bestimmte Reaktion auf die intensivierte Warenförmigkeit von Bildern. Die vielleicht deutlichste Spektakelkritik in Ihrem filmischen Werk findet sich in Demonlover, einem Globalthriller, in dem es um webbasierten Snuff-Porn und das Milieu der gehobenen Finanzwelt geht.

Es ist der Film von mir, den Alice Debord am liebsten mag.

Was für ein Verständnis von politischem Kino ergibt sich aus Ihrer Affinität zu Debord?

Es geht mir nicht um eine Ideologie. Es ist einfach so, dass das meinen Blick auf die Welt geformt hat und formt. Ich denke schon, dass ich versucht habe, meinen Kosmos von Film zu Film zu erweitern. Anfangs war ich eher ein Minimalist, mehr an Bresson orientiert, der mein größter Einfluss war. Ich habe dann die Welt meiner Filme geöffnet, größeren Teilen der Welt Platz eingeräumt, der Gegenwart, der modernen Gesellschaft – und ich habe versucht, dies auf eine andere und wie mir scheint relevantere Weise zu behandeln, als es das sogenannte «politische Kino» in Frankreich tut. Das scheint mir in aller Regel doch völlig in einer konventionellen Dialektik befangen. Mein Verständnis ist einfach komplett anders. Ich fühle mich da durchaus allein. Nicht viele Filmemacher auf der Welt scheinen mir eine ähnliche Herangehensweise zu haben, auch weil ihnen die Möglichkeiten dazu fehlen. Was man in Europa als politisches Filmemachen begreift, sieht meistens so aus: Ein Mann verliert seinen Job, weil die Firma, in der er arbeitet, verkauft worden ist. Er muss sich abstrampeln auf der Suche nach einem neuen Job, er sieht sich konfrontiert mit den Realitäten des Arbeitsmarkts. Oder ein Migrant, der in der Fremde Fuß zu fassen versucht, der mit Rassismus zu kämpfen hat etc. Überall werden diese Filme gedreht, in jedem einzelnen Land. Auf den Festivals bekommt man es dann geballt zu sehen. Das ist nicht das wirklich Interessante an dem, was gerade historisch passiert. Gewiss, das sind die dramatischen Konsequenzen. Aber die wahren Prozesse sehen anders aus.

Was bedeuten diese Prozesse für den Umgang mit der visuellen Kultur der Gegenwart? Geht es Debord nicht darum, die vom Kapitalismus durchdrungenen Bilder zu exorzieren, sie aufzurufen, zu wiederholen und dadurch auszutreiben? Ihre Filme sind da viel offener, interessierter – ein anderer Zugang?

Debords Verhältnis zu den Bildern, das ist ein schwieriges, ein komplexes, ein großes Thema. Debord war kein Purist. Er liebte Filme, er sah unendlich viele Filme. Ich glaube nicht, dass es sich – was immer er sagt – bei seinen Filmen in erster Linie darum dreht, diese Bilder, die modernen Bilder, zu negieren. Ich glaube nicht, dass die Bikinimädchen in den Booklets der Situationisten einfach nur zur Austreibung dienten. Nein, sie waren gerade gegen das Puritanische der klassischen Linken gerichtet. In der Hinsicht stand Debord sehr auf der Seite des Lebens, der Lebensfreude. Er war extrem neugierig, was die Veränderungen in seiner Gegenwart anging. Er bekam das alles sehr genau mit und reagierte darauf. Er war geradezu zeitungssüchtig. All das spürt man auch in den Filmen. Da passiert auf verschiedenen Ebenen vieles gleichzeitig. Da sind all diese unterschiedlichen Elemente. Es ist genau das, was er in seinen Texten und Cut-Up-Formaten auch getan hat. Da sind Stücke aus klassischen Quellen drin, von Bossuet bis Gracián undsofort, er zitiert das in seinen detournements. Auch die Bilder, die er dann auf diese Weise verwendet, begreift er als Bilder, die – ohne dass die Fotografen etc. das wussten oder auf diese Art intendierten – poetisch aufgeladen oder jedenfalls aufladbar sind. Das möchte er sichtbar machen. Da ist keine Verachtung der Bilder, im Gegenteil. Er glaubt vielmehr, dass man ihre Poesie entdecken kann, indem man sie aus ihrem Kontext reißt. Es ist ein Prozess der Transmutation.

Sie sehen in ihm eher den Dichter als den Dogmatiker?

Seine Kunst ist näher an Mallarmé als an irgendeinem Philosophen seiner Zeit. Ich glaube allerdings, dass meine Kunst mit der Kunst von Debord sehr wenig zu tun hat. Debord war in Sachen Ästhetik ein Hegelianer. Er war davon überzeugt, dass jedes Kunstwerk seine Zeit hat, dass es nur, wenn es zur richtigen Zeit kommt, Relevanz besitzt. Man muss es dann schaffen, wenn es seine größte Macht hat und seine Zeit auf diese Weise in sich fasst. Deshalb hat er zum Beginn seiner Karriere Hurlement en Faveur de Sade gemacht, einen Film, der nur aus schwarzem und weißem Film besteht. Da war er 19, 20, das war 1951, es war im Grunde das Schwarze Quadrat von Malewitsch für den Film. Ja, das war das radikalste Werk des Kinos in seiner Zeit. Niemand hatte dergleichen zuvor versucht. Darum war es so ein wichtiges Statement – und das wird es historisch auch bleiben. Aber danach machte er einen kurzen Film, einen zweiten – und den zweiten mochte er so wenig, dass er ihn nicht zeigen wollte. Es war ihm zu der Zeit klargeworden, dass die Zeit der Kunstwerke vorüber war, und dass der Künstler zur politischen Aktion übergehen musste. Also krempelte er alles um, schmiss alle künstlerischen Mitstreiter aus der Situationistischen Internationale (mit der Ausnahme von Asger Jorn). Und zwar, weil er überzeugt war, dass jetzt die soziologische Erkundung der Gesellschaft, des Alltagslebens auf der Tagesordnung zu stehen hatte. Und dann Schritt für Schritt die politische Aktion. Als er dann Gesellschaft des Spektakels geschrieben hatte, schien ihm die Frage sehr relevant, wie ein Film, der auf einem solchen theoretischen Buch beruhen sollte, aussehen müsste. Und also macht er diesen erstaunlichen Film, schuf danach sein Meisterwerk In girum imus nocte et consumimur igni. Es scheint mir eine Simplifizierung, wenn man sagt, dass Debords Filme immer dieselbe Beziehung zu den Bildern haben, die sie zeigen.

Auch auf einer anderen, eher handwerklichen Ebene lehnen Sie sich begrifflich an die Situationisten an – Sie bezeichnen den Dreh gerne als «Situation», als Happening. Wie arbeitet ein Debordianer auf einem realen Set?

Ich probe überhaupt nicht. Nichtmal technisch. Sogar bei ganz komplizierten Einstellungen drehen wir einfach los. Ohne Markierungen auf dem Boden, alles ohne vorherige Anweisungen. Dafür braucht man sehr erfahrene Techniker, Mitarbeiter, die damit Erfahrungen haben, die das nicht verunsichert. Die meisten Mitglieder des Teams haben über Jahre mit mir gearbeitet. Sie wissen, wie ich funktioniere, wie ich vorgehe, was ich suche und warum. Sie wissen, dass ich spontan Änderungen vornehme, dass ich alles von Tag zu Tag sich entwickeln lasse. Das ist nicht unproblematisch hier mit den deutschen Mitarbeitern, die etwas mehr Formatierung gewöhnt sind. Aber ich finde das nicht weiter schwierig zu erklären: Der Film entwickelt sich doch selbst von Tag zu Tag. Es scheint mir unsinnig, schon eine Woche im Voraus einzelne Einstellungen planen zu wollen. Wenn ich heute eine Szene für nächste Woche entwerfe, dann würde ich es doch wieder ändern müssen. In der einen Woche wird sich der Film verändert haben, meine Beziehung zu den Figuren. Die Richtung, in die ich mich bewege, hat sich verändert. Ich entwerfe die Einstellungen am Morgen des Drehtags, wenn ich zum Set komme. Oft geht es anders als zuvor gedacht. Aber ich brauche Mitarbeiter, die bereit sind, sich da anzupassen – und vor allem zu begreifen, warum das eine sinnvolle Sache ist. Eben deshalb ist aber das Casting der entscheidende Teil des Films. Ich schaue mir niemals Promo-Reels an. Das führt alles nur in die Irre. Entscheidend ist die persönliche Begegnung. Was ich brauche, sind Schauspieler mit einem Sinn für Freiheit; die unkonventionell sind, die verstehen, dass es lohnt, Sachen auszuprobieren. Die verstehen, dass sie von mir große Freiheit bekommen. Sie sind es, die die Figur erfinden. Ich glaube wirklich, dass der Film auf dem Set, während des Drehs entwickelt wird. Ich bin nur der erste Zuschauer, ich gebe Schauspielern keine Anweisungen – ich arbeite mit ihnen. Ich befehle ihnen nicht, dies oder das zu tun. Ich sage ihnen nur: Hier ist die Kamera, um dies und das geht es, jetzt macht. Wenn es aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, dann sage ich das schon. Dann probieren wir etwas anderes. Ich habe euch diese Figur gegeben, sie gehört euch, ihr wisst mehr darüber als ich. Und normalerweise funktioniert es.

Für das Carlos-Projekt haben Sie viele junge deutsche Schauspieler verpflichtet: Alexander Scheer spielt Johannes Weinrich, Nora von Waldstätten Magdalena Kopp – sind die auch etwas mehr «Formatierung» gewöhnt?

Ich habe den Eindruck, dass die jungen deutschen Schauspieler so viel spannender sind als junge Schauspieler im Moment in Frankreich. Klar, ich war immer ein großer Fan französischer Darsteller, aber jetzt, in letzter Zeit ist die Energie, die früher da war, diese besondere Qualität, nicht mehr anzutreffen. Aus irgendeinem Grund sehen sie für mich alle irgendwie ähnlich aus. In Deutschland habe ich junge Darsteller getroffen, die viel am Theater arbeiten, die einfach eine ganz andere Energie versprühen.

Ihre Arbeitsweise klingt extrem fordernd, als bräuchte es ein beachtliches professionelles Niveau, um ihr Verständnis von Freiheit, Improvisation, Spontaneität entstehen zu lassen.

Ja und nein. In Wahrheit geht es nämlich darum, Angst zu haben. Und ich habe eine Riesenangst. Ich kontrolliere meine Angst, aber wenn ich morgens zum Set gehe, dann will ich gar nicht wissen, was passieren wird. Ich kann nicht wissen, dass alles gut geht. Ich kann es nur hoffen. Ich glaube, dass die Instabilität – allem Planen zum Trotz – die Dinge entstehen lässt. Es muss aus dem Chaos entstehen, nicht aus der Ordnung. Ordnung schaffen heißt: Leben vernichten. Chaos erzeugt Leben.

Sie sind ein intellektueller Filmemacher, der sich kopflos in die Arbeit stürzt?

Manchmal weiß ich im Vorhinein wirklich nicht, ob eine Einstellung funktionieren kann. Ich denke, mein Gott, was habe ich getan. Wir versuchen es dann einmal, zweimal, dreimal, ich verändere dies, ich verändere das. Manchmal braucht man zehn Takes, aber plötzlich ist es da, plötzlich funktioniert es. Aber das kann man nicht planen, nicht im Vorhinein entwerfen. Man bringt es an Ort und Stelle hervor. Dafür benötigt man Geduld, man braucht eine Crew, die großzügig ist mit ihrer Energie, mit ihrer Zeit. Denn natürlich dauert das länger auf diese Weise. Wir machen viele Überstunden.

Vielleicht liegt in diesem Verfahren auch der Grund, weshalb sich Ihre Filme ästhetisch so extrem unterscheiden. Im Gegensatz zu den meisten Autorenfilmern habe sie keine äußerliche, formale Handschrift, die Sie immer weiter verfeinern, keinen vordergründigen Stil, den es zu perfektionieren gilt.

Worum es im Film geht, ist: Leben. Man fängt das Leben ein. Alles, was ich versuche ist, einen Weg zu finden, um meinem Schreiben Leben zu verleihen. Man kann das Leben auf unterschiedliche, sich ständig verändernde Weise einfangen. Was den Stil betrifft: Ich glaube, ich habe meinen Stil früh gefunden. In dem Sinne, dass diese Idee des geradezu bildhauerischen Umgangs mit Raum, diese Idee, dass ich den Darstellern möglichst viel Freiheit gebe, sich durchgesetzt hat. Es war eine Entwicklung Schritt für Schritt, aber ich bin doch ziemlich früh an diesen Punkt gelangt. Dann aber gibt es nur noch eine einzige Regel: Es gibt keine Regeln. Wenn es systematisch wird, verliert es seinen Sinn. Der Sinn besteht ja gerade darin, dass man seine Einstellungen, seinen Stil Tag für Tag neu erfindet. Ich suche immer Tricks, meine Gewohnheiten zu brechen, mich nicht von meinen Gewohnheiten fangen und festhalten zu lassen, nicht zum Imitator meines eigenen Stils zu werden. Darum muss ich alles immer wieder in Frage stellen.

Das klingt aber auch nach einer Vorstellung von Unmittelbarkeit, die in Ihren Filmen dann doch eher indirekt ihre Wirkung entfaltet. Offenkundig unterhalten Sie doch auch einen ausgeprägten Dialog mit der Filmgeschichte. Arbeitet dieses Formbewusstsein, dieser Sinn für die Historizität des Kinos nicht gegen das direkte «Einfangen von Leben»?

Meine ursprüngliche Beziehung zur Kunst war ganz instinktiv. Es ging um das Berühren der Textur, um die Textur der Farbe. Ich habe zunächst ein Jahr an der Kunsthochschule in Paris verbracht, mich dort dann aber zu Tode gelangweilt. Zehn Jahre – zwischen 15 und 25 – verbrachte ich damit zu malen, zu zeichnen. Ich halte meine Malerei nicht für relevant, aber sie war abstrakt und hatte sehr viel damit zu tun, sich für die richtige Farbe, Form, Textur zu entscheiden. Außerhalb des Reichs des Diskurses, des Begrifflichen. Das war eine wichtige Erfahrung: vor der Leinwand zu stehen und worum es geht ist, sie zu berühren, mit Farbe; abstrakte Formen zu finden, für die es kein Wort gibt. Keinen Begriff dafür zu haben, was man sucht. Nur dass man am Ende dann sagen kann: ja, genau, das war es. So ist es richtig. Jetzt ist es fertig. Ich bin also kein Theoretiker, kein Gelehrter. Ich habe einen künstlerisch rauen Hintergrund. Ich wusste aber: Wenn ich es Ernst meine mit dem Filmemachen, dann muss ich mich disziplinieren. Ich musste lernen zu schreiben. Mich hinzusetzen. Die Geduld zu haben, mir klar zu machen, was ich will.

Offenbar zum richtigen Zeitpunkt trafen Sie auf Serge Daney. Eine Initiation in Sachen Theorie?

Ich hatte zwei Kurzfilme gemacht, völlig unabhängig, ohne Geld, ohne alles. Serge Daney und Serge Toubiana von den Cahiers du Cinéma mochten die Filme – was sehr großzügig von ihnen war, ich ertrage sie heute selbst nicht mehr. Die Zeitschrift hatte sich in den Siebzigern weit vom Kino entfernt, in Richtung Politik, Psychoanalyse etc. Sie sagten, wir wollen wieder zurück zum Kino, wir wollen das hinter uns lassen – und wir suchen dafür neue Autoren, eine neue Generation: sie fragten, ob ich nicht Lust hätte. Ich habe mir also klar gemacht, dass ich mich mit der Filmgeschichte befassen musste, dass es auch eine Geografie des Kinos gibt. Das war zu meiner Cahiers-Zeit das große Ereignis: die Entdeckung des asiatischen Kinos. Das Bewusstsein dieses Moments ist es, dem sich mein Filmemachen verdankt. Immer diese beiden Seiten zugleich: der Instinkt und zugleich das Wissen darum, dass ich ein Rückgrat dafür brauche. Dieses Rückgrat ist das Bewusstsein von dem, was ich tue. Der Glaube an den Wert der Theorie. So viele große Künstler waren Theoretiker ihrer Kunst – ich glaube sogar, dass das oft die größten Künstler waren. Ich bin ganz gewiss nicht die Sorte Regisseur, die Theorie verachtet, die sagt, das sei etwas für Intellektuelle, die von der Praxis keine Ahnung haben. Nein, im Gegenteil. Nur so kann man selbst die Bedeutung, die Tiefe dessen erfassen, was man tut. Ich glaube, dass es immer eine Theorie gibt, die dem zugrundeliegt, was man tut; und dass es allemal besser ist, sich darüber im Klaren zu sein, was für eine Theorie das ist. Das gehört also zu den Werkzeugen für mich. Aber es ist zugleich ein Werkzeug, das ich vergessen können muss. Nur so komme ich zurück ins Innerste – und das ist rau und ungeschliffen.

Weil Sie von Filmgeschichte als bewusster Folie sprechen: Es gibt in Ihren Filmen, besonders deutlich in Irma Vep und Demonlover, ein starkes Interesse an der Geschichtlichkeit der Kinobilder, den technologischen und kulturellen Schichten, die sich in diesem nicht mehr jungen Medium inzwischen sedimentiert haben. Aus der Perspektive eines Films wie Demonlover stellt sich die Frage, wie zerstörerisch dieser Alterungsprozess ist, die Multimedialisierung des Bildes, die Daney das «Visuelle» nannte. Ist es zu spät für das Kino? Arbeiten Sie in einem antiquierten Medium?

Das glaube ich ganz und gar nicht. Wie man darauf antwortet, hat viel damit zu tun, wie man den Begriff der Moderne fasst. Wenn man damit die technologische Entwicklung meint, dass man jetzt mit seinen Digicams in kleineren Formaten filmen kann, oder dass man mit den neusten Animationstechniken die Realität ganz beliebig, und auch beliebig «realistisch» nachbilden kann, ja, dann ist die Technik des Kinos so obsolet wie jenes Druckerzeugnis, in dem dieses Interview erscheinen wird. Oder wie die Leinwand als Projektionsstätte. Ich glaube allerdings gerade nicht, dass Technologie wichtiger ist als der Inhalt. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil. Ich halte die Inhalte für wichtiger als die Technologie. Ich traue allen Medien im Grund alles zu. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass gerade ein YouTube-Künstler am Werk ist, den wir vielleicht erst in zwanzig Jahren entdecken. Ehrlich gesagt – und ich weiß, wie das klingt – bin ich davon überzeugt, dass das Kino tatsächlich die relevanteste Kunst ist, und zwar in der Weise, in der es sich auf die moderne Welt beziehen kann. Es steht in Beziehung zur Transformation der Welt, der Gesellschaft, der politischen Transformation – auf engere Weise als andere Kunstformen.

In dieser Beschreibung ist eine hervorstechende Haltung Ihrer Filme erkennbar: eine Art Verpflichtung, zeitgenössisch zu sein.

Absolut. Das ist ja gerade das Aufregende daran, ein Filmemacher zu sein. Der Horizont ist so viel weiter geworden in den letzten Jahrzehnten. Heute gibt es einen Filmemacher in, sagen wir, Thailand. Also zum Beispiel Apichatpong mit seinen wunderbaren, rätselhaften Filmen – und voilà, fünf Wochen später ist dieser Film auf einem internationalen Filmfestival zu sehen. Früher hätte es da vielleicht nach Jahrzehnten mal eine Retrospektive gegeben. Heute drehen Regisseure in Zentralchina ihre Filme auf DV – und die Verbindungen sind so schnell. Wir leben in einer Welt, wir machen die Erfahrung der Globalisierung. Das ist unsere Welt. Es geht nicht mal darum zu fragen, ob das gut oder schlecht ist, wünschenswert oder eine Katastrophe. Es ist ein Faktum. Wenn man also Filme macht: Warum sollte man nicht da sein, wo die Dinge passieren? Warum nicht da hingehen, wo etwas Neues zu passieren scheint? Warum nicht versuchen, es auch auf neue Art zu formulieren. Ich weiß nicht, ob mir das immer gelingt, aber jedenfalls versuche ich, genau das zu tun: diese neue Wirklichkeit zu konfrontieren.

 

Olivier Assayas am Set von L’heure d’été

© MK2 Productions

 

L’heure d’été, Ihr bis dato letzter Film, der aus einem nicht zustande gekommenen Omnibus-Projekt des Musée d’Orsay hervorging, übersetzt die Globalisierungserfahrung, von der Sie gerade sprachen, in die Frage nach der Bedeutung des Tradierens von Kultur. Erzählt wird von den über die ganze Welt verstreuten Mitgliedern einer großbürgerlichen Familie, die nach dem Tod des Familienoberhaupts, der Mutter, zu klären hat, wie sie ihr Erbe anzunehmen gedenken. Der post-nationale Lebensstil der erwachsenen Kinder lässt keine andere Option, als allen Besitz zu Geld zu machen, zu verflüssigen; für Kultur sind die Museen zuständig.

Für mich hat der Film sozusagen zwei Ausgangspunkte. Der eine sind basale, universale und persönliche Fragen. In diesem Fall die Frage nach meinem Umgang mit dem Tod meiner Mutter. Natürlich ist das dann nicht meine Mutter. Es ist auch nicht mein Haus und ein Gemälde von Corot besitze ich auch nicht. Schön wär’s. Es geht um Trauern, um Fragen, die meine Generation angehen. Ich habe das Gefühl, dass viele in meiner Generation das Erwachsenwerden immer weiter herausschieben. Ich ganz sicher auch, ich habe es in gewisser Weise ganz vermieden. Womit ich auch gar kein Problem habe. Das hat mit der Frage zu tun: Was übernehme ich von der Generation vor mir – und was werde ich der Generation nach mir überlassen? Die Geschichte, die ich da erzähle, ist die Geschichte einer Familie, in der die vorangegangene Generation ihre Töchter und Söhne davor bewahrt hat, sich mit dieser Frage auseinandersetzen zu müssen. Für sie ist es nur das Gewicht der Vergangenheit, Ballast. Die Kinder entscheiden dann, dass sie ihre eigenen Nachkommen nicht damit belasten wollen. Dass sie in der Moderne, in der Zukunft leben möchten. Dennoch gibt es diesen Moment im Leben, in dem man sich fragt: Was tu ich mit diesem Schrank, der meiner Großmutter gehört hat. Er hat keinen Platz in meinem Wohnzimmer, aber gebe ich ihn deshalb weg? Diese elementaren Fragen sind das eine. Das andere Thema ist die Frage nach der Veränderung der Beziehungen in der globalisierten Welt. Unsere Welt erweitert sich geografisch, es kann gut sein, dass man einen Teil oder gar den Rest seines Lebens ganz woanders verbringen wird, sei es in New York oder sogar irgendwo in China, wie Adrienne (Juliette Binoche) und Jérémie (Jérémie Renier).Die Erweiterung bedeutet auch eine Verengung: Man verliert seine Familie, die Eltern, die Geschwister aus den Augen. Für den Künstler stellt sich darüber hinaus die Frage: Was passiert mit deiner Kunst, wenn nicht nur einfach du nicht mehr da bist – sondern wenn auch die Menschen, die eine Beziehung zu ihr hatten, nicht mehr da sind. Die Gefahr ist sehr real, dass ein Werk, das mitten im Leben geschaffen wurde, in diesem Moment sein Leben verliert, wenn es ins Museum abgeschoben wird, Teil der Geschichte seiner Kunst wird. Dafür hat man es nie gemacht: Es sollte immer Kontakt zu seinen Zeitgenossen haben.

Sie verhandeln diese Fragen in L’heure d’été in einem leichten Tonfall und ohne Nostalgie. Am Ende ist das Haus verkauft und die multikulturelle Enkelgeneration feiert eine Abschiedsparty mit französischem Hip-Hop und ohne Eltern. Das Haus wird noch einmal mit Gegenwart durchflutet, bevor es als Gegenstand künftiger Erinnerungen unsentimental aufgegeben wird.

Ich verabscheue Nostalgie. Ich habe eine geradezu körperliche Abneigung dagegen. Aber ich leugne nicht die Vergangenheit. Ich weiß, dass ich die Person bin, die ich bin, weil ich durch das, was ich erfahren, gelernt, kennengelernt habe, geprägt bin. Ich komme aus einer Vergangenheit, einer Tradition. Ich bin der Geschichte auch dankbar, ich leugne meine intellektuelle Herkunft nicht. Deshalb finde ich es auch verstörend, dass die Verbindung zur Vergangenheit, auch zur Geschichte der Kunst, abbricht, verloren geht. Dass Kunst, die einmal wichtig war, irrelevant wird.

Auf einer anderen Ebene wird in dem Film aber auch deutlich, wie sehr diese Praxis der Tradierung, die Weitergabe von Familiengeschichte über Besitzgegenstände, ein Privileg der Bourgeoisie ist. Sie erzählen das anhand von zwei Vasen. Eine landet im Musée d’Orsay, die andere bekommt die Haushälterin Éloise (Isabelle Sadoyan) überreicht, als Andenken an ihre verstorbene Arbeitgeberin.

Deshalb ist Éloise auch so wichtig für den Film. Sie erkennt die Schönheit des Objekts, der Vase, als einzige, weil sie sich nicht für ihren künstlerischen, ihren materiellen Wert interessiert. Sondern für ihre Effizienz, ihre Schönheit. Die Vase sieht gut aus, wenn man sie auf den Tisch stellt, wenn man Blumen hineintut. Sie begreift den eigentlichen Wert dieses Objekts. Die anderen sind dazu nicht in der Lage. Sie ist deshalb diejenige, die am klarsten sieht, was die Wahrheit des Kunstwerks angeht. Was aber das Grundthema betrifft, die Frage der Tradierung, hätte ich auch einen Film über eine Familie drehen können, die sich mit einem geerbten Kühlschrank konfrontiert sieht. Es geht nicht um das Haus, nicht um die Kunstwerke, ihren Wert oder ihre Schönheit. Worum es geht, ist der Verlust einer Landschaft, in der der Geist der vorgehenden Generation noch anwesend ist. Und worum es auch geht, das ist die Schönheit der sichtbaren Welt.

Die Tradition, in der man steht, das Erbe, das man antritt, kann auch eine Belastung sein.

Wenn man das aber zur Richtschnur nimmt, kommt man schnell zu Fragen wie: Welche Art Roman kann man nach Proust noch schreiben? Welche Gedichte nach Mallarmé? Welche Literatur nach Joyce, welche Gemälde nach Picasso? Diese transzendentalen Künstler, die die letzte Grenze erreicht haben. Wenn man historisch danach kommt, was kann man tun? Man kann Proust nicht überprousten und Joyce nicht überjoycen. Es sei denn: Man geht zurück zum Fuß des Berges und beginnt wieder von vorne. Das ist die Welt, in der man ist. Man muss sich sagen: Das ist meine Realität, das sind meine Mittel: nun los. Ich versuche einfach zu tun, was ich tun kann, die Welt, in der ich lebe, mit meinen Mitteln abzubilden.

Mit Olivier Assayas sprachen Ekkehard Knörer und Simon Rothöhler