Der Moses-Komplex Politik der Töne, Politik der Bilder
«Ich bin ein Fremdling geworden im fremden Land.»
2. Moses 2.22.
«Wir sind Fremdlinge, ist ein abgegriffener christlicher Satz. Aber bedenken Sie einmal das Potential, das darin steckt. Darin steckt ein Potential der Umkehrung. »
Jacob Taubes, Die Politische Theologie des Paulus
Vor dem Gesetz
Der Moses-Komplex, so die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen, wirft die Frage nach der Transformation eines Politischen unter Medienbedingungen auf, unter neuen und unbekannten Medienbedingungen. Exil, Wüste, Lager sind die Konstellationen, aus denen das Entstehen einer nächsten Gesellschaft wahrgenommen wird. Wenn von Politiken der Töne und von Politiken der Bilder die Rede ist, dann nicht von Emotionen oder Affekten, sondern von der Konstruktion wirksamer Räume und der Verteilung und Verbindung der Leute darin. Von der Schwierigkeit, dieses entstehende Politische zu realisieren, ohne es vorzustellen, handelt der Moses-Komplex. Er markiert das Problem, auf ein Gedächtnis nicht einfach zurückgreifen zu können, sondern es ständig umzuschreiben, rekonstruieren zu müssen. Seine Zeitlichkeit ist keine lineare, simple, sondern eine rekursive, komplexe: Schrift wird dagewesen, eingegraben sein, wenn Moses durch Rauch, Feuer und Donner auf den Plan, auf den Berg, vor das Gesetz gerufen wird. Zahlen werden dagewesen sein; aber erst, wenn Moses seine Leute abzählt, um aus dem vielen Volk Stämme, Heere, Rotten, Familien zu machen, wird das Zählen zur Organisation von Leuten im Raum. Kulturtechniken rufen die symbolischen Systeme mit Nachträglichkeit auf den Plan, entstellen sie aber auch.1 Weil Rekursionen konstitutiv sind, bleibt es nicht bei einer Politik der Identitäten. Abzählen, zusammenzählen lassen sich die Leute immer neu und anders, wenn man das will. Identität und Erkenntnis sind aus dem Zwischenraum generiert und nur rekursiv zu haben. Die erste Unterscheidung muss Moses freilich aus dem Nichts treffen: Dornbusch – Stimme. Zeug – Gott. Rauschen – Botschaft. Nicht Vorstellung sondern Aufmerksamkeit, Rekursion, Entscheidung. Hört er nichts, kann er mit den Schafen weiterziehen. Hört er da einen Anruf, muss er antworten. Die Zumutung provoziert Verantwortung. Der Moses-Komplex handelt vom Erkennen aus Entscheidungen, Beziehungen, Relationen, Rissen, aus Spatien, jenem blinden Blanko der Typographie, dem geschwindelten Fluchtraum der Malerei, der Logik der Signifikanten und den konstitutiven Verhältnissen im Klang und im Kino.
Ein Moses-Komplex wird im Folgenden an musikalischer Komposition, am Kino und an der Psychoanalyse als Kulturtheorie zur Diskussion gestellt. Schoenberg. Straub/Huillet. Freud. Nicht in Bildern, Bedeutungen oder in einer Logik der Repräsentation zeigt er sich, sondern in Konstellationen und Relationen, die Bild- und Klangräume hervorrufen. In Verschaltungen und Übertragungen, Rissen und Zäsuren, aber auch in Latenzen, zeitlichen Verschiebungen und Schichtungen lassen sich Kräfte und Kräfteverhältnisse orten, die als Politiken neuen Wahrnehmungsräumen zugrunde liegen, als Grund für Verhalten und Verhandeln und als deren Resultat.
Der Moses-Komplex setzt sich mit dem Monotheismus als Problem der Vorstellung des Unvorstellbaren unter je historischen Bedingungen auseinander. Es geht nicht um jene «furchtbare Abstraktion», in der George Steiner eine Provokation und «jüdische Erpressung» erkennt2, sondern um eine Zäsur und ein daraus entspringendes «Jetzt der Erkennbarkeit».3
Deshalb werden nicht Bedeutungen von Klängen oder Bildern untersucht, sondern die Beschaffenheit der Konnektivität von Tönen und Einstellungen. Darin liegt das Mediale des Moses-Komplexes: Die zugrundeliegende, aber selbst nicht wahrnehmbare Struktur oder Ordnung möglicher Relationen in Kunstwerken und Praktiken zu heben. Diese Ordnung wird vorschnell und unter wechselnden Medienbedingungen immer neu dem Göttlichen zugeordnet, besonders dann, wenn aus ihr Befehle und Anordnungen wie aus dem Nichts ergehen. In Zeichen-, Licht- und Klangverhältnissen, aus elektromagnetischen Feldern und elektronischen Schaltkreisen wird das Auftauchen von Göttern vermutet. Stattdessen wären Götter vielmehr andersherum zu begreifen als Vorstellungen medialer Anordnungen, die, über alle kurzfristigen Einzelinteressen hinaus, Prozesse und Prozeduren größerer Kollektive auf Dauer aufrechthalten. In diesem Sinne schrieb Gregory Bateson 1967: «I suggest that one of the things that man has done through the ages to correct for his short-sighted purposiveness is to imagine personified entities with various sorts of supernatural power, i. e., gods. These entities, being fictitious persons, are more or less endowed with cybernetic and circuit characteristics.»4 Batesons ökologisch und rückkoppelnd konzipierte Gottesmedien oder Mediengötter sind allerdings zu gütig entworfen für das 20. Jahrhundert, in dem sich die Kreisläufe überhitzen und alles, was schaltet und waltet, als Gott oder Führer begrüßt wird. Vor dem Gesetz herrscht Gewalt, «die Gewalt, die uns von innen her daran erinnert, daß das Recht stets eine Gewalt ist.»5
Der ungute, unmenschliche Gott Moses’ aus dem Buch Exodus weist sich aus als furchterregender Agent des Medialen. Daher kehrt die Mosesfigur insistierend in den Künsten und Wissenschaften des 20. Jahrhunderts zurück. Sie korrespondiert mit der Erfahrung, dass die Medien zunächst verborgen bleiben, wenn neue Gesetze mit ihnen Einzug halten.6 Wenn Moses auf den Berg steigt, werden die Tafeln, an denen sich die Zäsuren der Schrift erweisen, schon zuhanden sein, während die Leute noch in der Wüste lagern, spielen, Unfug treiben, gewalttätig werden, Ausschau halten nach dem «Befreier und Gesetzgeber.»7 Irgendeine vielleicht vorstellbarere Gesetzlichkeit muss jedoch auch für die Gesetzlosen im Lager schon da gewesen sein, sonst bliebe das Fehlen des Führers unbemerkt. Auffällig aber werden die Zusammenhänge erst durch die Unterbrechung der Kreisläufe: wenn Tafeln zerbrochen, Felsen gesprengt, Wasser geteilt, Hab, Gut und Böse verteilt werden. Stets ist das verbunden mit unvorstellbarer Gewalt. Neue Medien zeigen sich, nach einer Unterscheidung Walter Benjamins, gerne als rechtserhaltende oder noch einfacher als dem Rechtserhalt dienliche Datenverarbeitungen, setzen dabei jedoch in ihrer Transparenz neues Recht mit Gewalt durch.8 Die Gewalt daran ist spürbar, während das Mediale nur in Riss und Zäsur der Zusammenhänge erkennbar wird. Wenn Benjamin waltende Gerechtigkeit als inhärentes Prinzip göttlicher Zwecksetzung gegen die offenkundige Manifestation von Macht in mythischer Rechtsetzung als Formen der Gewalt in Anschlag bringt, thematisiert er in seinem Text Zur Kritik der Gewalt 1920 exakt die Pole, die Moses und Aron in den Bearbeitungen der Bilderfrage als Gewaltfrage im 20. Jahrhundert markieren: unvorstellbare gegen vorstellbare Gewalt. Gegen die Heraufkunft einer rechtsvernichtenden, letalen aber unblutigen, plötzlich zuschlagenden Macht, deren Form sich der Erkenntnis entzieht, setzt Benjamin recht- und grenzensetzende, drohende, verschuldende und blutige, das heißt, das «bloße Leben»9 treffende mythische Gewalt.10 Beides aber gehört zusammen, wie Samuel Weber in seinen Kommentaren des Textes deutlich macht.11
Der Moses-Komplex und seine verschiedenen Reprisen im 20. Jahrhundert fordern medientheoretische Fragestellungen heraus und stellen zugleich laufende Medientheorie zur Diskussion. Ausgehend von einer offenkundigen Leere, von einem radikalen Nicht-Wissen, vom Entstehen aus dem Unbekannten, untersucht der Moses-Komplex den Zusammenhang einer Geschichte, die von einer enormen, latenten, nicht spezifizierten Gewalt zusammengehalten wird. Er untersucht Unterdrückung, Befreiung und Verfolgung, die Frage nach dem, was ein Volk überhaupt sein soll, nach dem Gesetz und nach Formen und Möglichkeiten, Geschichte zu schreiben. Verhandelt wird die Unmenschlichkeit von Wahrnehmen und Entscheiden in reinen Formen, medialen, musikalischen, mathematischen, technisch-maschinellen. Insofern ist der Moses-Komplex furchterregend. Komplex ist er, weil er nicht das ganze System einer Kommunikation erfasst, sondern lediglich Knotenpunkte freilegt und Fluchtlinien: Sein Ort ist das Exil.
Die folgende Studie geht aus vom Film MosesundAron, den Jean-Marie Straub und Danièle Huillet nach langen Vorbereitungen und Recherchen 1974 realisierten. Die Arbeit beschäftigte sie seit 1959, durch mehrere Stationen eines europäischen Exils, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie, sicher vor der Rekrutierung Straubs im laufenden Algerienkrieg, in Ruhe ihre Filme realisieren könnten: politisch, ökonomisch, ästhetisch. Straub und Huillet setzten mit ihrer filmischen Bearbeitung der Oper Moses und Aron von Arnold Schoenberg neue technisch-akustische Parameter in der Geschichte der Opernverfilmung. Vor allem aber warfen sie mit der Oper 1974 grundlegende Fragen nach politischem Denken, Handeln, Verhalten auf, das von Operationen im Akustischen und Optischen ausgeht. Wenn Straub und Huillet Unterbrechungen zwischen Struktur und Dingen, zwischen Sprachlichem und Physischem in ihren Filmen provozieren, arbeiten sie am Potential von Widerstand im Sehen und Hören, verlangen Aufmerksamkeit, Unterscheidung, Entscheidung, Antwort. Verhandelt wird in ihrem Film MosesundAroneine Politik, die ihren Ausgang von kalkulierten ästhetischen Operationen nimmt, um Gebote, Anordnungen und Gesetze durch Körper schießen zu lassen. Die Versuchsanordnung stellt Sehen und Hören im Verhältnis zu Gesetzlichkeit und Gehorsam auf die Probe. Diese Politik der Töne und der Bilder untersucht, mit Schoenberg, die Lage des Politischen vor dem Gesetz. Straub und Huillet genauso wie Schoenberg realisieren einen historischen Moment, in dem das Gesetz suspendiert ist. Ästhetische Politik vor dem Gesetz spielt sich dabei nicht jenseits von Begriffen ab, sondern im Hinblick auf das konstitutive Fehlen angemessener Begriffe.
Der Film von Straub und Huillet ist eine Übertragung von musikalischen Prinzipien Arnold Schoenbergs in kinematografische Formen. Aspekte musikalischer Verfahren Schoenbergs werden im Folgenden nur insofern beschrieben, wie sie für das Filmprojekt von Straub und Huillet wichtig sind. Bereits in diesem Rahmen jedoch erweist sich, dass auch Schoenberg seine Opern medienästhetisch konzipierte. Das betrifft nicht nur sein Interesse an der Implementierung von Medientechniken in die Aufführungspraxis seiner Musik, sondern vielmehr sein prinzipielles Denken in Relationen und Differenzen. Der lange Zeitraum der Arbeit an der Oper Moses und Aron, die Schoenberg im Europa Ende der zwanziger Jahre begonnen und nach 1933 im US-amerikanischen Exil wieder aufgenommen, unterbrochen, schließlich unvollendet gelassen hatte, umfasst sein Engagement gegen Antisemitismus und Faschismus und für die jüdische Sache, den Zionismus.12 Unter medientheoretischen Aspekten zeigen sich Korrespondenzen zwischen Schoenbergs ästhetischem Verfahren und seinen politischen Strategien.
Neben der Oper von Arnold Schoenberg und dem Film von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet gehört noch ein drittes Werk, das die Gewalt im 20. Jahrhundert als eine Geschichte des suspendierten Gesetzes und damit der Wahrnehmung und ihrer Unterbrechung untersucht, zu den Gegenständen des Moses-Komplexes: der Text Der Mann Moses und die monotheistische Religion, an dem Sigmund Freud seit 1913 arbeitete, den er immer wieder aussetzte, wieder aufnahm und schließlich 1938 in London, ebenfalls im Exil, in einer dritten Abhandlung beendete.13 Mit diesem Moses-Buch unternahm Freud den Versuch, «Religion auf eine Menschheitsneurose» zu «reduzieren», also von der Individualpsychologie auf eine «großartige Macht»14 der Kollektive zu schließen. Bereits bevor er 1938 das von den Nationalsozialisten besetzte Österreich verlassen musste, war er sicher, dass dieses Projekt den «stärksten Unwillen der bei uns herrschenden Mächte» auf sich ziehen würde.15 In seinem Buch fordert Freud, Symptomatisches zu beobachten, also wiederum zwischen die Gestalten und Formen zu schauen, auf Risse und Vernarbungen, um so die in der Geschichte latent wirksame und unter Druck wieder ausbrechende Gewalt verdrängter Affekte zu diagnostizieren. Jacob Taubes, wenn er «nach den politischen Potentialen in den theologischen Metaphern» fragt und damit Carl Schmitts Projekt umkehrte, der die «theologischen Potentiale der juristischen Begriffe»16 erkundete, erkennt hier eine weitere Schichtung von Verfahren, von Texten und einen weiteren Riss: «Ich meine, daß Freud sich sozusagen in die Rolle des Paulus einlebt, den Paulus, der die Erlösung nur phantasmatisch bringe, während Freud sie durch diese neue Heilmethode, die nicht nur Individualmethode ist, sondern auch Kulturtheorie, verwirklicht.»17 An den Symptomen erkennt Freud eine fundamentale Versehrung der Gesellschaft, den Moment, an dem etwas grundsätzlich falsch entschieden wurde und also grundsätzlich rückgängig gemacht werden könnte. Auch Freud verhandelt in seinem Moses-Buch das Verhältnis von Gesetzlichkeit und Gewalt im Kontext des jüdischen Exils und des Völkermords, den er, wie Schoenberg — und vermutlich auch Benjamin — mit erschreckender Präzision antizipiert. Aber er stellt ihn nicht vor. Er schlägt vielmehr ein Verfahren vor, ihn zu erkennen, und dann zu verhindern, abzubrechen. Freuds Text lässt sich als Entwurf einer medialen Historiographie verstehen, die Geschichtlichkeit an den Symptomen ihrer zirkulär-kausalen Logiken, an Wiederholungen und Entstellung zu erkennen lehrt.
Komplex heißt das vorliegende Projekt, die schriftlichen, akustischen und visuellen Texturen unter der Signatur des «Moses» in einen Zusammenhang zu bringen, insofern es in allen um Verhältnisse von Kräften geht, die, im Anschluss an die Moses-Bücher Exodus und Numeri, durch Zahlen und Zählen, Abzählen, Aufzählen und Durchmustern ins Werk gesetzt sind. Kulturtechniken werden als Möglichkeit der Verhandlung und Intervention, nicht als anthropologisch Unbewusstes begriffen. Wenn, wie Mary Douglas anlässlich einer ethnographischen Entzifferung des Buches Numeri schreibt, Kultur ein differenziertes Muster von Ansprüchen ist und Gemeinschaft als ein Feld von Beziehungen zu beschreiben wäre,18 so sind diese Beziehungen im Moses-Komplex als strukturelle, nicht mimetische, als Beziehungen ohne Bild verfasst. Für die Neue Musik wie für ein neues Kino der sechziger und siebziger Jahre war die Kritik des Abbildens und der repräsentativen Formen konstitutiv.19 Kein Mensch nahm damals eine verbindliche Realität an, bevor das Kino sie nicht durch sein Licht erst erschaffen hatte. Die Verfahren von Straub und Huillet unterscheiden sich allerdings grundlegend von Filmformen, wie sie in Frankreich und Italien unter dem Eindruck semiotischer Theorien diskutiert werden. Sie beziehen sich nicht auf semiotische Verfahren der Subjektivierung, sondern auf die notwendige Materialisierung und Verkörperung aller Zeichen und Regeln.20 Das Problem der Gesetzlichkeit ist ihre Remanenz im Physischen und ihr Insistieren im Verhalten der Körper. Da treffen Straub/Huillet auf Sigmund Freud.
Wenn Straub und Huillet Einstellungen in Relationen planen und montieren, folgen sie Schoenberg darin, Verhältnisse von Zahlen und Frequenzen in die vielfältigen Materialitäten einer realen Welt zu implementieren, so dass unvordenkliche, unvorstellbare Räume und Richtungen aufspringen. Sie senken Texte und Verse als Sprache in Körper, in Schauspielerkörper, Sängerkörper, Bauernkörper und in Landschaften ein, um eine Ästhetik des Widerstands sichtbar zu machen.
Dass die Wahrnehmung mathematischer, frequentieller, rhythmischer Relationen durch die Sinne, durch Hören und Sehen, niemals «rein» sein kann, ist das zentrale Sujet der Moses-Oper. Wo mathematisch reine Relationen durch materielle Instrumente, technische Anordnungen, Dinge und Stoffe realisiert werden, produzieren diese neue Effekte und Affekte für neue und wirkliche Beziehungen, menschliche und unmenschliche. In Schoenbergs Oper entfaltet sich, in Resonanz mit der Akustik der Umgebung, unvorstellbar schöner Klang, und dieser wird wahrgenommen, nicht die Arithmetik der Tonverhältnisse. Die Operationen strenger Relationen, wenn sie auf Materie treffen, lassen ihre Effekte an den Protagonisten sichtbar werden, an Moses und Aron, genauso wie am Volk Israel, den Leuten der Oper und an deren Publikum als heterogenem Weltvolk. Das Dispositiv Kino wiederum entsteht bei Straub und Huillet als Raum, in dem diese Verhältnisse zugleich erfahren und beobachtet werden können. Die Musik der zwölf nur aufeinander bezogenen Töne von Arnold Schoenberg und deren Übertragung ins Kino von Straub und Huillet werfen damit die Frage nach der Poetologie medientechnischer Anordnungen im Hinblick auf mögliche kommende Gemeinschaften, Gesellschaften, Gesetzlichkeiten auf. Hölderlin macht in diesem Komplex darauf aufmerksam, das Poetologie schön klingt, aber Gewalt realisiert. Freuds Moses-Text schließlich eröffnet die Wahrnehmung für historische und historiographische Dimensionen dieser Politik des Medialen.
Seine Aktualität bezieht der Moses-Komplex daraus, dass erinnert wird an die Entstehung von Kulturen als Feldern sich gegenseitig hervorrufender Relationen. Aus der Perspektive der Medienwissenschaft, die eine Wissenschaft von differentiellen Verhältnissen zwischen Materialitäten und Immaterialitäten, Rauschen und Botschaften, Kanälen und Signalen, Apparaturen und Wahrnehmungen ist, erweist sich das Verhältnis zu Gott oder Göttern als ein Verhältnis von Menschen zu den Systemen ihres Denkens. So spricht Medienwissenschaft gegen Fundamentalismus, ontologischen ebenso wie anthropologischen oder technizistischen.
Die Figur des Moses ist ein entscheidender Knotenpunkt im Netz eines Diskurses, der als jüdisch-christliche Tradition neuerdings angerufen und laut ausgerufen wird. Es tendiert dazu, zu unterschlagen, dass an seinem Grund und in seinem Bund Gewalt konstitutiv war und ist, als Opfer, Befehl, Ordnung. Es tendiert ebenso dazu, unterschlagen zu wollen, dass es drei große monotheistische Religionen sind, die Gewalt am Grund des Bundes verhandeln müssen. Gegenwärtig, wohl nicht zufällig gegen Ende der Kultur des Buchdrucks, wird diese Tradition in einer Konjunktur des Moses- Komplexes erneut aufgeworfen, als Frage, was ein Volk sei, wer dazu gehört, in Deutschland wieder als Frage des Ausschlusses, wiederholt am Thema eines Bübchens, das gezeichnet sein soll, völkisch ohne Gedächtnis.21 Welche Frage aber ist denn gestellt, auf die das Volk eine Antwort ist? Eine nach dem Rousseau’schen Souverän, nach dem Marx’ schen Proletariat? Nach der exklusiven Organisation des Stimmenzählens im deutschen, angelsächsischen oder etwa im Schweizer Modell? Die strukturale Frage nach dem, was oder wer zu zählen, zu symbolisieren, zu repräsentieren ist oder nicht? Die ästhetische Frage nach der Sichtbarkeit, dem Ort, wo Volk erscheint und damit Politik herausfordert? Was heißt auf diesem Feld Konflikt, Streit, Widerstand? Welche Politik können Klänge und Bilder, Töne und Einstellungen in diesem Kontext machen? Für Straub und Huillet ist Volk, das Volk, da, wenn es an einem Ort auftaucht, wo es nicht erwartet, nicht vorgesehen, nicht vorgestellt worden war. Oder, wie Straubs Kalauer will, wo es sich sträubt. Das zu zeigen ist nicht nur filmisch komplex, sondern verlangt, Bilder zu machen jenseits von Figurationen, Konventionen und Gesetzen.
Vorabdruck aus: Ute Holl, Der Moses- Komplex. Politik der Töne, Politik der Bilder (erscheint im Herbst 2014 bei Diaphanes)
1 Vgl. Bernhard Siegert, Tobias Nanz, «Vorwort» in: dies. (Hg.), ex machina, Beiträge zur Geschichte der Kulturtechniken. Weimar 2006. S. 7–10.
2 Zuletzt anlässlich des Interviews zu seinem 85. Geburtstag, Georg Steiner, «Pessimisten sind lächerlich», in: Die Zeit, Nr. 17. 16. April 2014. S. 45.
3 Vgl. Anselm Haverkamp, «Kritik der Gewalt und die Möglichkeit von Gerechtigkeit: Benjamin in Deconstruction», in: ders. (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin. Frankfurt/Main 1994. S. 7–50. S. 34ff.
4 Gregory Bateson: «Letter to Warren McCulloch» vom 20.12. 1967. Wieder in: ders: They threw God out of the garden: Letters from Gregory Bateson to Philip Wylie and Warren McCulloch, ed. Rodney E. Donaldson. CoEvolution Quarterly, 32 (Winter), 1982, 62–67. S. 65.
5 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ‹mystische Grund der Autorität›. Frankfurt/Main 1991. S. 12.
6 Vgl. für das 20. Jahrhundert und den unheimlich bereits in allen Haushalten vorhandenen Computer cachiert als Videospiel Claus Pias, «‹Children of the Revolution›. Video-Spiel-Computer als Kreuzungen in der Informationsgesellschaft», in: ders. (Hg.), Die Zukunft des Computers. Berlin 2005. S. 217–240.
7 Sigmund Freud, «Der Mann Moses und die monotheistische Religion», in: ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet. Sechzehnter Band. Werke aus den Jahren 1932–1939. S. 101–246. S. 114.
8 Walter Benjamin, «Zur Kritik der Gewalt», in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band II.1. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1977. S. 179–203. S. 198.
9 Benjamin, «Zur Kritik der Gewalt», a. a. O., S. 201.
10 Ebd., S. 203.
11 Samuel Weber, «Im Namen des Gesetzes», in: Anselm Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit, a. a. O., S. 97–128; und Samuel Weber, «Dekonstruktion vor dem Namen: Einige vorläufige Bemerkungen zur Dekonstruktion der Gewalt», in: ebd., S. 185–195.
12 Vgl. Alexander Ringer, «Schoenberg and the Politics of Jewish Survival», in: Journal of the Arnold Schoenberg Institute. Volume III, Number 1, March 1979. S. 11–48.
13 Zur philologisch genauen Rekonstruktion anhand der Manuskripte vgl. Ilse Grubrich-Simitis, Freuds Moses-Studie als Tagtraum. Ein biographischer Essay, Überarbeitete Neuausgabe. Frankfurt/Main 1994.
14 Sigmund Freud, «Der Mann Moses», a. a. O. S. 157.
15 Ebd.
16 Jacob Taubes, Die Politische Theologie des Paulus. München 2003, S. 95/96.
17 Ebd., S. 131.
18 Vgl. Mary Douglas, In the Wilderness. The Doctrine of Defilement in the Book of Numbers. Sheffield Academic Press 1993. Paperback Reprint Edition 2004. S. 43.
19 1974, als Straub und Huillet ihren Film montieren, erreicht eine zehnjährige Debatte semiotischer Filmtheorie ihren Höhepunkt, die strukturale Beziehungen im Kino untersucht. Vgl. Umberto Eco, «Articulations of the Cinematic Code», in: Bill Nichols (Hg.) Movies and Methods, Berkeley 1976. S. 590–607; sowie Pier Paolo Pasolini, Empirismo eretico, Mailand, 1972.
20 Darin kommen sie eher der Semiotik Roman Jakobsons nahe, der im Winter 1942/43 in New York, ebenfalls im Exil, vermutete, dass sich Laut und Bedeutung niemals lösen ließen.
21 Vgl. Jakobson, Roman: Six leçons sur le son et le sense [1942/43], Paris 1976, S. 22. Vgl. dazu den Essay von Alfred Bodenheimer, Haut Ab! Göttingen 2012.