spielfilm

Das Kind in seinem Dunkel Zu Ich seh, Ich seh von Veronika Franz & Severin Fiala

Von Gertrud Koch

© Ulrich Seidl Filmproduktion

 

Ein Farbfilm der 50er Jahre: Ruth Leuwerik singt mit einer Kinderschar das populäre Brahmslied Guten Abend, gut’ Nacht, bis ihre Großaufnahme das Bild füllt und sie der Kamera zugewandt uns allen eine « gute Nacht » wünscht. Schwarzfilm. Erst nach dieser Ouvertüre mit der Ikone des deutsch-österreichischen Heimatfilms, der Trapp-Familie (Wolfgang Liebeneiner, 1956), beginnt Ich seh, Ich seh von Veronika Franz und Severin Fiala; ein Film, der als schwarzes Wiegenlied mehr und mehr in den Tod führt, von dem bereits das Brahms-Lied kündet – in der berühmten Zeile, « morgen früh, wenn Gott will, wirst Du wieder geweckt. »

Die düstere Aussicht in dieser Zeile – dass es ungewiss ist, ob man morgens wieder aufgeweckt wird, oder Gott sich über Nacht umentscheidet – hat sicher Generationen von Kleinkindern verstört, die die süße Stimme nicht ohne Ambivalenz in den Schlaf begleitete. Adorno hat mit sicherem Gespür die unheimliche Seite im Lied erfahren. In den Minima Moralia schreibt er unter dem Stichwort «Regressionen »: « Meine älteste Erinnerung an Brahms, und gewiß nicht nur meine, ist Guten Abend, gut’ Nacht. Vollkommenes Mißverständnis des Textes: ich wußte nicht, daß Näglein ein Wort für Flieder oder in manchen Gegenden für Nelken ist, sondern stellte mir kleine Nägel, Reißnägel darunter vor, mit denen die Gardine vorm Himmelbettchen, meinem eigenen, ganz dicht zugesteckt sei, so daß das Kind, in seinem Dunkel vor jeder Lichtspur geschützt, unendlich lange […] ohne Angst schlafen könne. Wie bleiben die Blüten zurück hinter der Zärtlichkeit solcher Vorhänge. Nichts steht uns für die ungeschmälerte Helle ein als das bewußtlose Dunkel; nichts für das, was wir einmal sein könnten, als der Traum, wir wären nie geboren. » (Theodor W. ­Adorno « Regressionen », in: Gesammelte Schriften, Band 4, S. 226ff.).

Die Sicherheit, ohne Störung von außen endlos schlafen zu können, träumt davon, nie geboren worden zu sein. Die älteste aller Umdeutungen des höchsten Glücks, von den Epikureern bis zu Schopenhauer, der ewige Schlaf, die Einkehr ins Freudsche Nirwana, einem Zustand völliger Spannungslosigkeit.

Der überraschende Film von Franz und Fiala findet Bildallegorien, die auf merkwürdige Weise Übergänge vom Psychohorror zweideutiger Identitäten zur Märchenwelt der Volkslieder finden. Selten hat man eine Wasseroberfläche in tieferem Schwarz zum Spiegel werden sehen, selten einen Vollmond hinter Wolken in so romantischer Unheimlichkeit strahlen lassen wie in Ich seh, Ich seh.

Zwei bildschöne Knaben, die eineiigen Zwillinge Lukas und Elias, leben in einem abgeschiedenen Haus an einem Seeufer inmitten grüner Maisfelder und Wälder. Die Kamera verfolgt ihr Fangenspiel durch die Felder in Einstellungen, die man zuletzt in Malicks The New World (2005) gesehen hat. Auf Augenhöhe der Knaben verlässt sie nie das Feld, das endlos scheint, weil es keinen Horizont mehr freigibt.

Zurück im Haus werden die Brüder von einer Frau mit einbandagiertem Kopf begrüßt, die sich als ihre nach einem Unfall aus dem Spital zurückgekehrte Mutter zu erkennen gibt. Nun beginnt ein neues Spiel: Die sadistischen Aktionen der Mutterfigur lassen die Zwillinge zweifeln, ob es tatsächlich die Mutter ist oder eine Betrügerin. Immer mehr spitzen sich Strafen und Fluchten zu, bis die Lage sich dreht. Jetzt haben die Zwillinge die Frau ans Bett gefesselt, foltern sie und wollen sie zum Geständnis zwingen, nicht die Mutter zu sein. Am Ende steht das Haus in Flammen, alle und alles brennt. Die Frage, wer die Frau war oder ist, bleibt offen, man sieht, kaum merklich, eine helle Frauengestalt unerkannt von den Löschmannschaften im Wald verschwinden – aber auch die Zwillinge bleiben undurchsichtig. Die Vermutung liegt nahe, dass der eine bei einem Unfall gestorben ist, der andere ihn, den Zwillingsbruder, fantasiert.

 

© Ulrich Seidl Filmproduktion

 

Böse Mutter, böser Sohn? Nichts wird aufgelöst. Der Film bleibt rätselhaft wie ein Schauermärchen, die Gewalt heftig und real, die Landschaften von der surrealen Schönheit eines Max Ernst. Eine Stimmung in diesen Landschaften wie in The Night of the Hunter (1955). Die Mischung aus realistisch inszenierten Gewaltszenen mit Allegorien schließt an Lars von Triers Antichrist (2009) an – hier wird Haneke das Fürchten gelehrt, der seine sadistischen Anfälle kausal in moralische Geschichten verhüllt, die in Ich seh, Ich seh keinen Grund mehr haben.

Ein Schauermärchen von verlassenen Kindern und bösen Stiefmüttern, von dunklen Seen, die Kinder verschlucken, Maisfeldern, die Arme zum Fangen zu haben scheinen und Tieren, die im transparent gläsernen Architektenhaus eigenartigerweise immer Verstecke finden.

Die große Konzentration auf minimalistisch erzeugte Situationen, die sich zwar zu prägnanten, psychologisch aufgeladenen Szenen erweitern, aber nie narrativ aufgelöst werden, die Fähigkeit in farblich fast monochromen 35mm-Bildern zu denken, in einem gesättigten Grün und samtenen schwarzen Wasseroberflächen – verleihen Ich seh, Ich seh eine in Bann schlagende Dichte, die ganz auf die Erzeugung einer Atmosphäre abzielt, die einen ergreift wie ein Windhauch oder das Geräusch raschelnden Laubs im Dunklen Wald.

Die ständige Verschmelzung von Innen- und Außenaufnahmen, überhaupt von Innen und Außen, von Verinnerlichung und Veräußerlichung verleiht dem Film eine Kohärenz, die weit über die Einzelszenen hinausreicht. Mit endlosen Jalousien, die in das Haus eingebaut wurden, wird diese Membran-Ästhetik zusätzlich verstärkt – eine Membran der sinnlichen Erfahrung von Hören, Sehen und Tasten, die unheimlich dort wird, wo sie die Sinne umdreht, wo das Wasser undurchsichtig wie schwarzes Öl wird, die Kleidung der Zwillinge Hitze suggeriert, die von den Bildern durchgestrichen wird etc.

Diese widersinnigen Sinnlichkeiten machen die Qualität des Films aus, der das Unheimliche dort implantiert, wo wir uns am Sichersten wähnen: in den unmittelbaren Wahrnehmungen unserer Sinnesorgane, « ich seh’ etwas, was Du nicht siehst! » 

 

 Ich seh, Ich seh startet am 2. Juli 2015