theorie

Fliegende Autos David Graeber erklärt uns, warum die Bürokratie enttäuscht und wir sie trotz allem lieben

Von Friedrich Balke

Als ich die Lektüre von David Graebers neuem Buch The Utopia of Rules gerade beendet hatte, fiel mir ein Interview mit Alain Badiou in die Hände, in dem er einen «Vorschlag für ein Ereignis» unterbreitet. Neben dem Text war ein großformatiges Bild montiert, in dem der Philosoph in Uncle-Sam-Manier den gestreckten Zeigefinger auf den eingeschüchterten Leser richtet, den er fest im Blick hat. Mitte Juli 2015: Wir befinden uns gerade mal wieder auf einem der Höhepunkte des sogenannten Griechendramas, als der Theoretiker des Kommunismus vorschlägt, Deutschland und Frankreich sollten jetzt politisch fusionieren. Tolle Idee, sehr hintersinnig. Aber kann man sich wirklich vorstellen, fragt sein Gesprächspartner, dass Merkel und Hollande so einen Vorschlag gerne in ihr Programm aufnehmen würden? Schwerlich. Für den Zusammenhang von Bürokratie und Fantasie, den David Graeber in seinem Buch entfaltet, gibt es kein besseres Beispiel als diesen Vorschlag Badious. Denn nur Bürokraten können sich überhaupt vorstellen, dass man ein Ereignis ‹vorschlagen› kann; und nur ein kommunistischer Geopolitiker kann Freude darüber verspüren, sich vorzustellen, wie das die Engländer und Amerikaner wohl ärgern würde, wenn sich die beiden europäischen Hegemonialmächte politisch zusammenschlössen. «In den Staatskanzleien», reibt sich Badiou die Hände, «würde großes Geschrei ausbrechen, denn eine solche Angelegenheit ist kein Spiel. Die Fusion unserer beiden Länder wäre nichts anderes als die Entstehung einer neuen Großmacht.» Und weil ein derartiger realpolitischer Utopismus nicht genügt, kokettiert Badiou noch mit der gewissermaßen messianischen Erwartung eines wahren Großereignisses in Folge dieser Fusion, das in nichts Geringerem als in der Veränderung der Weltordnung bestünde.

Ok, dachte ich mir, Badiou sagt es ja selbst: Dieser Vorschlag hat jetzt nicht direkt etwas Kommunistisches an sich. Aber er erstattet der Politik die Verfügung über das Ereignis und die Entscheidung zurück, die sich die Ökonomie widerrechtlich angeeignet habe. Selbst eine falsche Entscheidung ist besser als gar keine Entscheidung: Das ist geradezu die Quintessenz bürokratischer Mentalität, macht wiederum Graeber klar, denn Bürokraten sind nichts anderes als Entscheider. Sie nennen sich inzwischen auch ganz offen so und erinnern damit daran, dass sie es sind, die souveräne Befugnisse exekutieren. Badiou legt ausdrücklich Wert darauf, dass er seinen Fusionsvorschlag «selbstlos» unterbreitet, denn als Kommunist hätte er eigentlich an radikaleren Entscheidungen viel mehr Spaß. Welche könnten das sein? Warum, fragt man sich nach der Lektüre, schlägt er nicht zum Beispiel eine privilegierte Partnerschaft zwischen Deutschland und Griechenland vor, damit dieses unendliche Schuldendrama endlich von der weltpolitischen oder jedenfalls europäischen Agenda der Bürokraten genommen werden kann? Als Philosoph muss er doch wissen, was das deutsche philosophische Denken, das in Frankreich so bewundert wird, Griechenland verdankt. Heidegger hat es erklärt und Derrida hat es noch mal bekräftigt. Eine Entscheidung wäre es unbedingt gewesen, die metaphysischen Schulden der deutschen Philosophie abzutragen und das Geld, das man ohnehin nicht wiedersieht, im Sinne eines höheren, wahrhaft philosophischen Realismus abzuschreiben.

Papierkram und paperwork

Aber ‹die Institutionen› beharren wie Badiou auf der «Utopie der Regel », die der Anarchist Graeber als die maßgebliche Legitimationsinstanz bürokratischen Handelns versteht: Follow the rules ist ihr kategorischer Imperativ. Immer hat man in der linken sozialkritischen Tradition die Utopie den realexistierenden Mächten entgegen gestellt. Aber das ist ganz falsch, denn Bürokratien konfrontieren die Leute beständig mit Regeln, die sie gar nicht oder bestenfalls mehr schlecht als recht erfüllen können. Bürokratien verfolgen das Ziel, uns in Papierkram ertrinken zu lassen und unterstellen unser gesamtes Leben wahrhaft utopischen Präzisionsstandards. Wie konnte es soweit kommen, dass uns Institutionen zwingen, in einem derart abenteuerlichen Maße alles, was wir sind, denken, wollen und zu tun beabsichtigen, zu Papier zu bringen? Warum, fragt Graeber, waren Max Weber und Michel Foucault die intellektuellen Heroen der westlichen theorieaffinen Intelligenzija der letzten Jahrzehnte? Weil sie mit Hartnäckigkeit diesen utopischen Zug bürokratischer Anordnungs- und Verwaltungsmacht betonten und zu zeigen versuchten, dass diese Macht noch den geheimsten Winkel unserer Existenz durchdringt. Von Weber ließ man sich die Schauer des «stählernes Gehäuses» der Bürokratie über den Rücken jagen. Foucault dagegen akzentuierte den subtilen, invasiven Modus ihrer Techniken. Sie bringen die Leute massenhaft zum Sprechen über sich selbst und ihr Verhalten, damit die Staatsapparate genügend Daten akkumulieren, um ihre Regime nicht nur auf Gewalt, sondern auch auf Wissen zu gründen. Ausgerechnet vom Christentum mit seiner fabelhaften Beichtpraxis lernten die weltlichen Potentaten, dass es darum gehen musste, den Zugriff der Macht auf das Gewöhnliche, den Alltag, kurz: unser ganzes unspektakuläres Leben auszudehnen. Graeber räumt vor diesem Hintergrund mit einem verbreiteten Missverständnis auf: Der vielbeschworene Rückzug der großen Staats- und Unternehmensbürokratien im Zuge der Privatisierung von immer mehr hoheitlichen Aufgaben ist paradoxerweise mit einer Vervielfachung von paperwork verbunden. Ihr leisten der Computer, emblematisches Medium unserer Gegenwart, und die weltweit vernetzten Kommunikationstechnologien Vorschub, die ja im Kern Bürotechnologien sind und genealogisch von Graeber auf die (preußische) Post, Archetyp bürokratischer Zustellungsgenauigkeit und bewundertes Vorbild der staatlichen Administration in den USA zurückgeführt werden.

Paperwork, das heißt konkret und aktuell: Formulare runterladen, studieren (es handelt sich nicht um leicht zu konsumierende Fließtexte) und ausfüllen. Formulare für alles, um bestimmte Zugangsschwellen zu überschreiten und Anspruchsberechtigungen abzuklären. Für die Perspektive, die Graeber auf diese Praxis wirft, ist tröstlich, dass selbst die bestgemeinten bürokratischen Ordnungsentwürfe, in der sogenannten Wirklichkeit wie auf dem Papier, an der Dummheit der Menschen scheitern. Das Buch ist gespickt mit witzigen Anekdoten, die dieses Scheitern anschaulich machen. Statt auf irgendwelche dokumentierten Bürokratiegeschichten zurückzugreifen, führt uns Graeber einfach seine eigene stupidity vor – wenn er vergeblich versucht, von der Bank seiner an einem Schlaganfall erkrankten Mutter Kontovollmacht zu erhalten, nur weil er seine Unterschrift an einer falschen Stelle im entsprechenden Formular geleistet hatte. Dann fällt auf, dass weitere Unterlagen beizubringen sind, bevor der Antrag bearbeitet werden kann. Graebers Mutter stirbt, bevor sich die Sache regeln lässt. Graeber, von Haus aus nicht nur Vordenker und Aktivist der Occupy-Bewegung und Theoretiker der direkten Aktion, ist seiner wissenschaftlichen Provenienz nach Anthropologe. Und als Anthropologe hat er feststellen können, dass die Unerträglichkeit bürokratischer Regulierungswut keineswegs alternativlos ist. In Madagaskar zum Beispiel, wo er Feldforschung betrieben hat, gibt es eine Bürokratie, die durchaus eine Funktion erfüllt, aber nicht die, jeden Aspekt des Alltags der Leute zu regeln. Bürokratische Apparate werden in dieser Kultur als Ausdruck einer Befehlsgewalt wahrgenommen, die sich von den sozial eingeübten alltäglichen Koordinationsmechanismen abhebt und in ihrer Bedeutung mit der Sklaverei verglichen wird. Statt sie nun aber als koloniale Fremdkörper zu bekämpfen, erweisen sich die Leute äußerst geschickt darin, die Apparate ihren Zwecken unterzuordnen, weil sie wissen, dass sie allein über sie Zugang zu begehrten sozialen und kulturellen Gütern erhalten.

Büromedien der Entscheidung

Die Absurdität der Regeln und der überbordende Papierkram, mit dem Behörden in den westlichen Ländern die Bürger überziehen, lenkt davon ab, dass Bürokratien im Kern Organisationen sind, die Entscheidungen produzieren und durchzusetzen haben. Sie sind daher in einem besonders intensiven Sinne auf die Ausübung von Gewalt angewiesen – und dies ist vielleicht die schwierigste Lektion, die wir über sie zu lernen haben. Denn seit Louis Althusser in den 60er Jahren die berühmte Unterscheidung zwischen repressiven und ideologischen Staatsapparaten getroffen hat, haben die humanities, ganz gleich, wie sie es mit dem Marxismus halten und ob sie sich nun mit Texten oder (bewegten) Bildern befassen, ungeheuer viel Kreativität entwickelt, um die ideologische Seite dieser Unterscheidung auszuarbeiten: Machtausübung läuft entscheidend über Prozesse der Subjektivierung, ist der kleinste gemeinsame Nenner unserer Fächer. So lobt Jacques Rancière, neben Badiou ein anderer Schüler Althussers, Foucault überschwänglich dafür, dass dieser einen weiten Begriff der Polizei entwickelt habe, der sich nicht auf «die Gummiknüppelschläge der Ordnungskräfte und die Inquisition der Geheimpolizeien» reduziere. Polizei umfasst noch so viel mehr, das haben wir immer wieder gelesen.

Das ist nicht falsch, aber nach der Lektüre des Buches von Graeber wird klar, dass wir über die Beschäftigung mit den ideologischen das Studium der repressiven Apparate nicht vernachlässigen sollten, denen das law enforcement obliegt, die also in der Zivilgesellschaft überall dort ein- und durchgreifen, wo nicht mehr diskutiert werden soll, sondern der Vollzug der Entscheidung ansteht, wie absurd oder ungerecht auch immer sie ausfallen mag. Weil Papier eine derart wichtige Rolle in bürokratischen Operationen spielt, vergisst man allzu leicht das andere Ende der Entscheidung. Die erstaunliche interpretative Arbeit, die wir alltäglich aufwenden, um andere zu verstehen und uns verständlich zu machen, und zwar gerade dort, wo uns Widerstand oder gar Weigerung begegnet, wollen Bürokratien nicht auf sich nehmen. Lange bürokratische Entscheidungswege sind durchaus mit kurzen Prozessen vereinbar, ja münden regelmäßig in solche.

Auch für Medienwissenschaftler hält Graebers Buch eine beherzigenswerte Lektion bereit. Gerade weil es ja Medien sind, die unsere Lage bestimmen, stellt sich die Frage, warum es immer Büromedien wie der Computer sein müssen, und nicht zum Beispiel einmal fliegende Autos. Ganz im Ernst: Warum haben wir das World Wide Web, Social und Mobile Media und Big Data, aber keine fliegenden Autos, obwohl sie uns doch auf dem Höhepunkt von Kaltem Krieg, des Wettlaufs der Systeme und eines fulminanten space race versprochen worden waren? Die spektakulären Schübe technologischen Fortschritts seit den 70er Jahren haben sich mehr oder weniger auf die Entwicklung der Informationstechnologien beschränkt – das Potenzial der epochalen Mondlandung mit seinem kosmischen Kolonialisierungsversprechen ist der Eroberung aller möglichen virtuellen Welten zum Opfer gefallen. Wir spielen jetzt bestenfalls noch, was einst selbst konservative Futurologen für die letzte Jahrtausendwende in Aussicht gestellt hatten.

Bureaucracies can do better. Graebers Buch reitet nicht eine weitere, wohlfeile Attacke gegen die bürokratische Mobilmachung. Er unterscheidet allerdings Regime danach, ob sie sich in der Anwendung bürokratischer Rationalisierungsprogramme auf alle Lebensbereiche beschränken oder ihrerseits «poetische Technologien» hervorbringen. Befördern sie, statt sich der Utopie der Regeln zu verschreiben, unmögliche, verrückte Lebensentwürfe und völlig neue Zivilisationsmodelle oder übersetzen sie bloß die alte Disziplinarmacht ins neue Zeitalter der Kontrolle? Bürokratien sind okay, wenn sie den Kathedralenbau, transkontinentale Eisenbahnen und Mondlandungen organisieren, denn dann demonstrieren sie, dass es möglich ist, die soziale und politische Schwerkraft, wie sie sich im Staat und seinen bürokratischen Routinen verkörpert, zu überwinden. Fliegende Autos, robotergesteuerte, wahrhaft autopoietische Fabriken, Raketenrucksäcke (jet-packs) für die individualisierte Flugreise, die Roboter-Wäschemagd: Der ganze Hype um die Informationstechnologien und die Informationsgesellschaft kann nicht vergessen machen, dass der Kapitalismus in den 50er Jahren seine Systemüberlegenheit mit dem Versprechen begründete (Graeber erinnert an die legendäre kitchen debate zwischen Nixon und Chruschtschow), das Leben der Leute zu erleichtern, indem er die schmutzige Arbeit an Maschinen delegieren und nicht auf andere Kontinente verschieben würde.

Wenn wir trotz aller gebrochenen Versprechen selbst die phantasielose Bürokratie lieben, dann deshalb, weil uns die Welt, wie sie die großen antibürokratischen Epen und ihre modernen Kino- und TV-Adaptionen erzählen, zwar fasziniert, wir aber keinen Augenblick in ihr leben möchten. Dafür haben wir die Spiele, die games, die die Fantasie, von Graeber als ein fundamentales anthropologisches Vermögen angesetzt, völlig durchbürokratisierten Verfahren unterwerfen, in denen es um das scoren und das Erklettern von levels geht, spielerische Umsetzungen jener fundamentalen Vorstellung von Hierarchie, der alles bürokratische Trachten und Treiben verpflichtet ist. Dass alles soziale Handeln ein Befolgen von Regeln ist, dass eine auf diese Vorstellung bezogene Kultur darauf erpicht ist, uns noch die willkürlichsten Entscheidungen der ‹Institutionen› als Regeln (mit der entsprechenden Rationalitätsunterstellung) und damit als die Alternative zu ‹Chaos› zu verkaufen, ist der Kern des von Graeber analysierten bürokratischen Projekts. Eine Welt ohne Regeln und die durch sie geschaffenen Erwartungssicherheiten wäre der Horror, keine Frage; aber eine Welt, in der sich Leben selbst da auf die Befolgung von Regeln reduziert, wo es keiner bedürfte, ebenfalls. Es geht gar nicht um Regeln oder Nicht-Regeln, Ordnung oder Chaos, Staat oder Naturzustand, sondern um die Eröffnung eines Spiels, von dem Graeber zeigt, dass es die andere Seite, die die Regeln setzt, immer schon spielt.

David Graeber, The Utopia of Rules: On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy, Melville House 2015