Der Stoff für alle Seriengespräch
Simon Rothöhler: Wenn ich mir die letzten zwei, drei Serienjahrgänge vor Augen führe, habe ich doch den Eindruck, dass wir uns, was die dominanten Bauweisen und Erzählgegenstände betrifft, in einer Phase fortschreitender Konsolidierung befinden. Im Grunde ein «post-kanonischer» Moment, die Tropen werden tendenziell starrer, genrehafter. Die eigene Trainiertheit in Bezug auf avanciertes Serienerzählen kommt als Ermüdungsfaktor mitunter hinzu. Redundanter als früher scheinen sich bestimmte Serienmodi selbst zu wiederholen. Ausnahmen bestätigen aufs Ganze gesehen die Regel: Vergleichsweise Gutes gibt es natürlich immer noch, aber seltener im Zentrum des Hypes, man muss eher wieder die Ränder absuchen. Zugleich geht es in medientechnischer Hinsicht, sozusagen unter der Motorhaube, gar nicht statisch zu, sondern ziemlich rasant in Richtung einer intensivierten, vielfältig abschöpfbaren Verdatung: der Form, der Ökonomie, der Rezeptionsweisen der Serie.
Diedrich Diederichsen: Was die post-kanonische Standardisierung betrifft, stimme ich Dir zu. Zur ökonomischen Rasanz gehört, denke ich, auch eine kultursoziologische Beobachtung: die heftige Omnipräsenz des Seriengespräches, auch im Unterschied zum Kino- oder Popmusikgespräch an allen kulturellen Orten und Schnittstellen. Der neue Film, der jetzt gerade angelaufen ist, den alle gesehen haben, zu dem jeder etwas zu sagen hat – der ist natürlich schon lange, bevor die Serie neuen Typs in der zweiten Hälfte der 90er Jahre entstanden ist, vorbei gewesen. In unserem erweiterten Milieu verfolgen die Leute schon seit einiger Zeit nicht mehr, was es etwa an neuen Actionfilmen gibt. Auf der anderen Seite ist auch niemand mehr routinemäßig darüber informiert, was Godard gerade noch so treibt – und was Costa und Weerasethakul machen, interessiert Spezialisten, oft noch unterhalb der Feuilletonschwelle. Das war in den 80er Jahren noch anders, als sich auch die Intellektuellen noch für den neuen Bond und das Feuilleton sich für die Avantgarde interessierte. Dieses allgemeine Gespräch gibt es nicht mehr – außer eben bei den Serien. Die sind nach wie vor Gesprächsstoff. Und zwar weit über alle Spezialisierungen hinweg. Sie bringen auch keine hohen Distinktionsgewinne mehr, sind weder Hochkultur noch Popspezialistenkultur. Und trotzdem wollen alle dabei sein. Das interessiert mich, wie das sozial strukturiert ist, wie es dazu kommt.
Die Frage wäre also, auf welchen Kanälen die Serie die sonst im kulturellen Feld aufgestellten Grenzziehungsroutinen außer Kraft setzt – nicht als ästhetisch mehr oder weniger werthaltiges Objekt, sondern als populärer Kommunikationsanlass.
Genau – und meine Vermutung wäre, dass der Genuss nicht zuletzt in der Kommunikationsstruktur selbst liegt, eben darin, dass man sich wieder über etwas mit allen unterhalten kann, dass es ein solches Reservoir gibt. Man sitzt im Zug, im Flugzeug, überall auf der Welt, schaut auf das Pad des Nachbarn und kann prinzipiell sagen: Ach, Sie sehen also die neue Soundso und wie finden Sie das und wie ist die dritte Staffel von – undsoweiter. Selbst das Lowste vom Lowen, die Entertainmentprogramme der Fluglinien, haben die neuesten oder zweitneuesten Staffeln im Angebot. Dieses Phänomen kann nicht allein an der Handlichkeit des angesprochenen digitalen Vertriebs liegen. Der ist bei der Popmusik auch schon länger digital – beziehungsweise: es sah lange so aus, als ob es in der Popmusik nichts anderes als ein volldigitales Geschäftsmodell mehr geben würde –, und trotzdem hat es nicht diesen Effekt wie bei der Serie gehabt. Im Gegenteil, die hohe Erreichbarkeit hat hier die Tendenzen zu Aufsplitterung und Vervielfältigung von Rezipientinnengemeinschaften noch weiter verstärkt. Es gibt keine Popstars mehr, die alle interessieren. Aber was Walter White macht, wollen alle wissen.
Man könnte entlang dieser Beschreibung sagen, dass Serien irgendwann in den Nullerjahren – wir sprechen von Serien, die damals noch unhinterfragt Fernsehserien genannt werden durften, auch wenn sie da schon zunehmend weniger nach televisuellen Distributionsmodi auf unseren Schirmen landeten – angefangen haben, der wahrscheinlichste Kandidat für potenziell global anschlussfähige Kommunikation zu sein. Popkulturell formatiertes Material, mit dem, von dem aus sich reden lässt – einverstanden. Die Frage bleibt – mit Blick auf das aktuell produzierte Serien- Sortiment –, ob wir nicht doch langsam über diesen Punkt hinaus sind, zumal die Anschlussfähigkeit ja auch eine Angebotsseite hat, die noch vor wenigen Jahren wesentlich zentralisierter, weniger unübersichtlich, repetitiv, kopistisch war als heute, wo alle möglichen digitalen Dienstleistungsunternehmen auf seriellen Content ähnlichen, weil erprobten Zuschnitts setzen, um interessierte Rezipienten in tief gestaffelte Konsumtionsakte hinein zu manövrieren. Wer etwa Amazon-Serien legal und sofort sehen will, muss Amazon Prime-Kunde werden. «Gratis» zum Serien- Access gibt es postwendenden Versand für das ganze Amazon-Warenhaus, nach dem eigentlich gar nicht gefragt worden war. Man soll beim virtuellen Shoppen auf allen Etagen bequem zugreifen können, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen. Die Welt der Serien und die Warenwelt kommen dann zu dir nach Hause, in deine kleine Welt – die dadurch nicht wirklich größer wird. Und abgesehen von diesen neuen Logiken der Umwegamortisierung jenseits klassischer Abonnementmodelle, die zumindest noch den initial nachgefragten Content ins Zentrum stellten: Ist es nicht auch auffällig, dass die «großen Serien», auf die sich mehr oder weniger alle auch urteilsmäßig einigen konnten, Nullerjahreprodukte mit eindeutig « prädigitalen » Formatgenealogien und Adressierungsmodi waren und die nun – wie die ikonischen Produkte Mad Men und Breaking Bad – fürs erste finalisiert, Serien- und Mediengeschichte sind?
Klar, das ist schon ein Einschnitt, aber ich würde nicht sagen, dass das die letzten Serien waren, über die alle geredet haben. Es sind vielleicht so gesehen die letzten Serien, wo ein eindeutiger künstlerischer Fortschritt vorlag: Die haben mit dem Format etwas Spezifisches gemacht, was vorher noch nicht auf diese Weise gemacht worden ist. Diese Mischung aus Kino und Buch zum Beispiel. Auf der Ebene gibt es nichts Neues mehr, da findet eindeutig die Konventionalisierung statt, von der Du vorhin gesprochen hast. Aber die Rezeptionssoziologie ist damit nicht synchron. Die Gespräche sind vielleicht weniger gehaltvoll, aber sie finden weiter statt und erreichen sogar noch mehr Leute als in den Nullerjahren.
Deine Diagnose lautet also: ungebrochene Ausweitung der Gesprächszone bei nachlassender Avanciertheit der Gesprächsgegenstände?
So würde ich das sehen. Vor zwei Wochen ist ja das neue Buch von Charlotte Roche erschienen. Roche hat dazu dann flächendeckend Interviews gegeben – und ausschließlich über Serien geredet. Wirklich jede Äußerung, die Roche zu ihrem Roman vorzutragen hatte, ist in Analogie zu irgendeiner Serie formuliert: Das ist genau so, wie wenn X in Serie Y das und das macht. Immer und immer wieder.
Diese Interviews sind mir dankenswerterweise entgangen.
Man muss dazu sagen, dass Roche einen unglaublich breiten Geschmack hat, der zu seltsamen Konstellationen führt: Lauter Sachen, die eigentlich gar nicht zusammenpassen. Von unerträglich bis zu fein ausgesucht. Klar ist auf jeden Fall, dass sie da nicht mit kunstkritischen Kriterien herangeht, die im Umgang mit Serien wie Sopranos, The Wire ff. eingeübt wurden, sondern über die bekannte Sprache des Süchtigseins, des vollkommen darin Verschwindens, des Asozialwerdens. Drogensprache, völlig euphorisiert. Egal was es ist: Solange es Serie ist, hat es diesen Sog. Wenn Roche erzählen soll, was gerade so passiert in ihrem Leben, dann redet sie von Serien. Und zwar auf eine bestimmte Art, die auf die Form des Konsums schließen lässt. Das scheint mir symptomatisch.
Wie die Serie zum Stoff des Lebens wird?
Und wie die Serie zum Gesprächsstoff wird.
Und das wäre ein Symptom ihres Allgemeinheitsgrades? Wie hieß das noch: Reste eines gesellschaftsweit teilbaren Kommunikationshorizonts.
Eher wie auf dem Schulhof, in der Adoleszenz, als man sich eigentlich kaum noch mit jemandem über irgendetwas unterhalten konnte, weil man gerade so stark und peinlich individuierte – außer eben über das, was am Vorabend im Fernsehen gelaufen war. Auch und gerade, wenn man das, was da gelaufen war, nicht gut fand. Dieser Gesprächsstoff ist dicht genug, wie das wirkliche Leben, aber man kann sich bei aller Immersion und Involviertheit noch distanziert genug darüber äußern, kann fanatisch sein, ohne sich eine Blöße zu geben. Heute dienen Seriengespräche einerseits als sozialer Kitt in diesem Sinn – anschlussfähige Kommunikation hattest Du vorher gesagt –, andererseits ist die Serienrezeption mit einem Cocoon-artigen Rückzug verbunden. Das korrespondiert mit typischen Adoleszenzkonflikten: zwischen Sozialisierung und Individuation. Man wohnt noch zu Hause, ist aber eigentlich schon woanders.
Apropos woanders: Woher beziehst Du denn Deine Serien? Etwa legal? Es wird ja durch den Einstieg von Playern wie Amazon, Google, Hulu etc. als Produzenten und Erstverwerter eigener Originalserien langsam unübersichtlich, auch auf der pragmatischen Ebene.
Ich bin da glaube ich überall Mitglied und insofern privilegiert. Nur mein iTunes habe ich abgeschafft. Das hatte aber mit der Musik zu tun, ich mag die iTunes-Musikverwaltung nicht und ich mag auch nicht ständig mit Kaufaufforderungen belästigt werden. Das mit der Musik mache ich lieber über Zune, da kann ich mit dem Archiv besser umgehen, habe mehr Parameter und werde überhaupt nicht belästigt. Zune ist vor zehn Jahren von Microsoft lanciert worden und existiert als Plattform gar nicht mehr, soweit ich weiß. Aber das Programm ist halt noch da und verwaltet meine Musik.
Weil Du Archiv sagst: Sammelst Du Serien?
Nein. Die, die ich auf DVD hatte, schon – aber sonst nicht. Die neueren Sachen werden entweder gestreamt oder landen irgendwo im Download-Ordner. Anders als digitale Musik, die wird geordnet. Im Grunde habe ich aber auch früher Filme nicht gesammelt, auch wenn zu Hause natürlich DVDs und Videokassetten gestapelt wurden. Eine besondere Systematik hat sich dabei nie ergeben. Es kommt in meinem Alltag auch äußerst selten vor, dass ich einen Film oder eine Serie ein zweites oder drittes Mal ansehen möchte. Nur dann, wenn ich darüber schreiben soll. Musik ist einfach eher zur Wiederholung da, ob via Schallplatte, CD oder File. Bei den Serien ist es schlicht so: Wenn ich irgendwas sehen will, dann kaufe ich es halt für zwei Euro, ist ja immer noch nur ein Fünftel des Kinoeintritts. Wenn man drin ist, wie Charlotte Roche drin ist, will man das eben sofort sehen und nicht warten müssen. Shows wie Better Call Saul oder jetzt gerade die fünfte Staffel von Homeland habe ich ganz normal im Wochentakt geschaut. Da gibt es einen Termin, zu dem eine neue Episode da ist und dann wird die halt rezipiert.
Wobei die von den neuen Streamdienstleistern selbst produzierten Formate wie Transparent (Amazon) oder House of Cards (Netflix) von dem Veröffentlichungsprinzip wöchentlicher Episodenspeisung zur Freischaltung ganzer Staffeln übergegangen sind. Da gibt es einen mehr oder weniger globalen Starttermin samt Marketingtsunami wie beim zeitgenössischen Blockbusterkino. Auf einen Schlag ist das gesamte Material in der Kultur – nicht zuletzt in der Kultur des File-Sharing.
Immer mehr Serien sind immer schneller in der Kultur und immer mehr Leute nehmen daran teil, so ist das. Der generelle Eindruck nachlassender Avanciertheit hat meiner Meinung nach aber nicht nur damit zu tun, dass jetzt das Vokabular der Kritik von einem unspezifischen Vokabular abgelöst worden ist. Die Sachen sind auch einfach langweiliger geworden. Heute sind einander widersprechende Erzählbögen eine Konvention. Professionalisierung führt zu Standardisierung. Und vielen Rezipient_innen gefällt genau das: Neulich habe ich in einem öffentlichen Verkehrsmittel ein Gespräch zweier weiblicher Game of Thrones-Fans belauscht, die sich in so einer Profidrehbuchautorsprache über Arcs und Gegen-Arcs unterhielten, wie imaginäre Co-Produzenten – so wie männliche, halbwüchsige Rock- Fans in den U-Bahnen meiner Pubertät Gitarrensoli von Jeff Beck im Gespräch nachbauten und sich auf Widersprüche aufmerksam machten.
Welche Rolle eine sich begrifflich erschöpft fühlende bzw. ausgedeutet anfühlende kritische Rezeption und deren Urteilsroutinen dabei auch spielen mag: Ähnliche Zyklen sind in der Kulturproduktion allgemein vertraut, zumindest erscheint es uns auch in anderen Feldern oft so, also würden innovative Phasen geradezu zwangsläufig von tendenziell restaurativen abgelöst. Das Neue kann als Neues ja auch nicht auf Dauer gestellt werden, da ist die Serienevolution also eher der Normalfall.
Man könnte ja eine Analogie zum Arthousekino ziehen. Das entstand in gewisser Weise mit der Nouvelle Vague, unter einer bestimmten Struktur von Filmkunsttheatern – die dann Lupe 2 oder so hießen – und hat sich über viele Entleerungen und Neufüllungen erhalten, auch wenn es zu keinem Zeitpunkt fünfzig Godards gab. Für die Serie stellt sich die Frage, ob sie noch in diesem Kontinuum der Serie neuen Typus drin ist, das sagen wir 1997 begonnen hat, wofür es natürlich auch medienökonomische Gründe gibt – oder ob das inzwischen etwas anderes geworden ist, wir uns also nicht mehr in besagtem Kontinuum befinden. Im französischen Kino kam nach Godard dann halt Claude Lelouch, aber Arthouse ging weiter.
Es ging weiter, auch im Sinne eines enger definierten Kontinuums an Kunstkino, aber weniger wegen Lelouch, sondern weil Autoren wie Garrel und Pialat dieses Kontinuum mit einer zweiten Welle renovierten, die als eine spezifische Reaktion auf Godard und Co. verstanden werden konnte, eine Welle mit anderen Körpern und Montage-Ideen, mit einer Anmutung von Rauheit und Sentimentalität, irgendwie ja auch Ganzheiten, die von der Generation Godard gerade mühsam dekonstruiert worden waren. Es lässt sich jedenfalls – zumindest in der Rückschau; es ist schwierig, diesen Effekt aus der Gleichung rauszurechnen – ästhetisch wie politisch eine Bezugnahme erkennen, die nicht nur eine Konstruktion späterer Geschichtsschreibungen des französischen Nachkriegskinos ist. Eigentlich kann man doch nur dann von einem Kontinuum im Sinne der Ästhetik sprechen, wenn die Formen untereinander dialogfähig bleiben. Die aktuellen Serien scheinen mir, ich verallgemeinere, derzeit eher formelhaft und insofern monologisch zu sprechen, über ein konventionalisiertes Vokabular, das auch nicht mehr in die Formatgeschichte hinein kommuniziert, sondern Templates abgreift, um « qualitätsgeprüftes » Serienerzählen zu reproduzieren. Was dabei entsteht, ist, jetzt mal kunstgeschichtlich gesprochen, höchstens ein Kontinuum anwachsender Epigonalität.
Ich würde auch sagen, dass die seriellen Komplexitätsversprechen von einst begraben wurden unter der Ausbildung von Genres. Wie bei True Detective: Was da mit sogenannter Komplexität winkt, sind vor allem so typische Whodunit- Verrätselungen, ein Schuss David Lynch und solche Sachen.
Die kalkulierte moodiness des True Detective-Bildes nervte irre.
Sicher – und auch erzählerisch wird es dann extrem schnell überschaubar und durchschaubar. Wobei das auch in den späteren Staffeln von Breaking Bad und Mad Men schon zu beobachten war, die sind doch auch nicht richtig weiter gekommen.
Warum haben wir es eigentlich immer noch mit dem alten Episodenprinzip zu tun? Sind das einfach nur die Beharrungskräfe kulturindustriell aufgespielter Formatierungen? Netflix könnte House of Cards doch auch schlicht als eine große 11-Stunden-Datei anbieten. Die kann dann jeder stoppen, wann er will. Dafür steht Streaming ja eigentlich auch, dem medientechnischen Nennwert nach: für eine kontinuierlich fließende, nach individuellen Rezeptionsbedürfnissen schaltbare Datenübertragung. Dass sich unter diesen Verteilungsbedingungen ausgerechnet die an televisuellen Taktungen entlang entwickelte Episodenform als Modell für massenkompatible Bewegtbilderzählungen durchgesetzt hat, kann man ja erstmal merkwürdig finden. Jedenfalls weiterhin erstaunlich viel altes Fernsehen in den neuen Medienkanälen.
Stimmt, auf Cliffhanger und Whodunits wird ja auch wieder stärker zurückgegriffen als auf Innovationen wie den Rausschmeißer-Song aus First-Generation-HBO-Serien. Zur Episodenform: Da scheint es eine Äquivalenz zu den magischen Vierminutendreißig zu geben, die ja auch unschlagbar sind. In anderen Medien, im Theater etwa, gibt es ebenfalls jahrhundertelang mit den gleichen Zeitformatierungen bediente Aufmerksamkeitsspannen. Dabei fällt mir diese Untersuchung ein, die besagt, dass die meisten Leute bei Youtube immer genau zwei Drittel anschauen. Egal wie lang das ist, was sie sehen wollen: Die Mehrheit belässt es bei zwei Dritteln. Sie sehen halt die Timeline und wissen, wieviel noch kommt. Daher kommt dann auch dieses Drehbuchautorbewusstsein. Minute 40 ist erreicht: jetzt müsste aber mal dies und das passieren.
Eine andere häufig gestellte Rückfrage der Kritik an aktuelles Serienerzählen ist die nach seinem diagnostischen Potenzial, seinem Beitrag zur Gegenwartsdeutung, auch im politischen Sinn. Einigermaßen symptomatisch scheinen mir da die Anfangscredits der Berliner Homeland-Staffel, auf die die Standortpolitikspezialisten vom Medienboard so stolz sind. Das ist Gegenwart als hyperaktuelle Mediencollage: Nachrichtensounds und Bildfetzen, die vom wilden Nahen Osten und nachrichtendienstlichen Verwerfungen künden. Snowden im Syrien-Remix oder umgekehrt. Selbst jüngst verkündete Merkelsätze und reingefadete Ansichten der sogenannten Flüchtlingsströme sind Teil dieser rein atmosphärisch komponierten Partitur an rhetorischer «Gegenwärtigkeit».
Das ist vielleicht auch ein wenig der Tatsache geschuldet, dass die fünfte Staffel schon läuft, während sie noch gedreht wird. Wahrscheinlich können die Macher dank der entsprechenden Feedbackschleifen am Ende der Staffel sogar noch auf diese Graffiti-Sache eingehen. Bei dem Vorspann ist auch auffällig, dass es da keinen Song oder sonstige Musik gibt, die uns reinziehen soll, sondern nur diese Sound-Collage.
News Noise. Mit unser aller Gegenwart Stand jetzt hat das alles eher wenig zu tun, trotz gegenteiliger Kulissensignale. Die schieben den alten Stuss in diese hysterische Oberflächenaktualität. Schön jedenfalls, dass Carrie Mathisons legendäre Bipolarität nun offen als Performance-Schalter operationalisiert wird, den man durch Medikamentenentzug wie einen Lichtschalter anknipst. Instrumentell war diese agentische Psychostörung ja eigentlich immer schon, aber jetzt wird das endlich mal offen gesagt, in dieser Szene, als Carrie mit diesem bereits halb entgleisten Gesichtsausdruck erklärt, dass sie sich von ihrem akut anzuschaltenden bipolaren Selbst epistemische Vorteile erhofft. Auch um Sebastian Koch – er ist der Preis, den die Serie in dieser Auswärtsstaffel für das deutsche Produktionsgeld bezahlen muss – besser beschützen zu können. Ohne Meds hat sie den totalen Durchblick. Denkt die Serie.
Besonders in der dritten Episode, wenn Carrie endlich zu Dr. Mabuse wird.
Genau, dann zieht sie sich mit routiniert delirantem Blick zum Jagen in die Wälder zurück – und wird dann selbst erlegt. Weiter bin ich auch noch nicht – fraglich wie lange man das durchhält.
Ich habe mir neulich die Amazon-Kommentarbeiträge zur aktuellen Homeland-Staffel angesehen: Die drehen sich fast ausschließlich um diese Newsflashs, mit denen die Serie sich auflädt. Das wird von den Usern sofort decodiert. Das ist im Prinzip wie bei James Bond, da gab es auch immer Gegenwartssignale, die Anlass für Scherze waren. Die neue Homeland-Staffel zeigt aber sehr schön, was in Berlin so alles an Verkehrsmitteln kreucht und fleucht. Vom ICE bis zur Straßenbahn.
Das wird BVG wie DB freuen. Berlin ist zugegebenermaßen schon deutlich anders gefilmt als im öffentlich-rechtlichen Normalbetriebsmodus. Man merkt, dass da ein produktionstechnischer Kompetenzapparat in die Stadt eingerückt ist. Wird alles sauber abgewickelt.
Und der Libanon liegt jetzt in Babelsberg. Recht häufig stimmen die örtlichen Zusammenhänge allerdings auch. In der einen Episode steigt eine Figur an der U-Bahn- Station Eisenacher Straße aus und geht dann in diesen King George Club, der tatsächlich genau da ist. Da wird ein plausibler Fußweg gezeigt.
Realität ist auch ein anderer Trend, der aus Serien Spin-off-Material macht. Scheint mir eine vergleichsweise neue Idee im Serienkontext zu sein. Ein gelungenes Beispiel wäre hier Better Call Saul. Fand ich eigentlich ganz vergnüglich.
Mochte ich auch ganz gern. Die zehn Leben des Saul, fast eine Comicfigur. Außerdem hat Better Call Saul diese durchgeknallte Tiefe der Zeit. Man hat das Gefühl, dass das immer so weitergehen könnte, mit noch einer Vorgeschichte und noch einer Vorgeschichte. Gelungen fand ich hier auch die Geschlossenheit der einzelnen Episoden, die sich zudem visuell signifikant voneinander unterscheiden.
Die Tiefe der Zeit ist als Strategie der Verlängerung einer eigentlich auserzählten Serienzeichenkette wirklich interessant – und weil Saul Goodmann ja einer der Überlebenden des Erzählkontinuums von Breaking Bad ist, könnte das Prequel in seiner zweiten Staffel sogar ins Sequel umschlagen.
Das wird auch passieren. Aber ohne die Realität von Breaking Bad außer Kraft zu setzen. Und zur Verlängerung der Zeichenkette: Es gibt ja diese eine Simpsons-Episode, in der Bart durch das Spin-off-Museum der Fernsehgeschichte führt. Da sind dann lauter Serien untergebracht, die angeblich mit Nebencharakteren der Simpsons gedreht wurden. Skinner und der Polizeichef sind dann als Privatdetektive in Miami Beach. Es könnte immer so weitergehen.