Nach dem Spuk Kein Kind von Traurigkeit: Francesco Casettis The Lumière Galaxy
Aus Sicht der derzeit maßgeblichen Positionen der Filmtheorie befinden wir uns schon seit längerem in einem «post-kinematografischen Zeitalter», in einem Zustand, in dem das Kino im Sinne des klassischen Dispositivs der Aufführung künstlerischer Leinwandwerke in einem öffentlichen Raum nicht nur an sein Ende gekommen ist, sondern sich in einem auf Dauer gestellten Zustand des Gerade-geendet-Habens befindet. Das Kino, das Leitmedium des 20. Jahrhunderts, der Ort, an dem sich noch nach der Einschätzung der ideologiekritischen «Apparatus»-Theorie nichts weniger als das Schicksal des Subjekts in der Moderne entschied, führt nun das «spukhafte Unleben» (McCrea) einer jener Cartoon-Figuren, die über den Abgrund hinaus geraten, einen Moment in der Luft hängen und dann abstürzen, nur um in der nächsten Einstellung in alter Frische wieder an den Start zu gehen.
Der Begriff des «post-cinema» variiert Diagnosen aus der Kunstwissenschaft und der Medientheorie, wo Felix Guattari, Rosalind Krauss und andere schon länger von einer «post-medium condition» sprechen. Krauss konstatiert mit diesem Begriff den Verlust der Medienspezifik in der bildenden Kunst, die seit Lessing ein so zuverlässiger Maßstab der Bewertung künstlerischen Gelingens gewesen war. Sind es in der Kunst das Auftauchen von Mischtechniken und Konzeptkunst, die das Problem schaffen, so lässt sich für den An- und Ausbruch des «post-kinematografischen Zeitalters» im Wesentlichen die Digitalisierung haftbar machen. Neue Techniken der Bildherstellung und der Distribution – digitale Kameras, portable Medien und Streaming-Plattformen – machen Filme überall verfügbar und bringen neue Formen und Formate hervor, vom GIFüber das Youtube-Video bis zur «Quality»-Serie. Sie unterwandern vollends den Anspruch des Kinos, der Filmkultur und der Kunstform Film als privilegierter Ort zu dienen, den allerdings auch schon Fernsehen und Heimvideo in Frage gestellt hatten. Im Jargon der Filmwissenschaft ausgedrückt, ist «post-cinema» der Zustand, in dem die Trias von Index, Dispositiv und Kanon fraglich wird, die für die Zwecke der Disziplin immerhin rund drei Jahrzehnte lang eine taugliche Bestimmung des Gegenstands «Kino» lieferte. Das Filmbild ist ein Index im Sinne von Peirce, insofern und so lange es photochemisch hergestellt wird und eine Spur der Sachen ist, die sich im Moment der Aufnahme vor der Kamera befanden. Das Dispositiv ist die Anordnung der Elemente – Techniken, Bauten, Subjekte –, die zur Produktion einer öffentlichen Vorführung eines Films notwendig sind. Der Kanon ist der Katalog der Filme, die es verdienen, besprochen zu werden – Filme großer Regisseure, sogenannter Autoren, die wichtige Kinonationen repräsentieren. Den Index stürzte die Digitalisierung der Fotografie in den 90er Jahren in die Krise; ein lautes Wehklagen erhob sich damals in der Filmtheorie, das umso erstaunlicher war, als die Digitalisierung des Tons einige Jahre zuvor gänzlich unkommentiert vonstatten gegangen war. Das Dispositiv zersetzten die portablen Medien, und den Kanon schließlich – eine Liste von Filmen, die von französischen Kritikern in den 50er und 60er Jahren treuhänderisch für den Rest der Welt zusammengestellt wurde und die zu Beginn der 80er Jahren Gilles Deleuze noch als Stoff für seine Kinobücher genügte – erweiterten und entstellten die Praktiken des Streaming und Sharing bis zur Unkenntlichkeit.
Diesen Verlust der Medienspezifik, die Krise von Index, Dispositiv und Kanon könnte man als Befreiung empfinden. Für die Filmtheorie scheint «post-cinema» allerdings bislang weniger Anlass einer Feier- als einer Trauerstunde zu sein. Die Filmwissenschaft ist ein Fach, das jung genug ist, um eine Gründergeneration zu haben, die noch tätig ist und schreibt. Erstellt man ein kleines Inventar der Bücher, die Angehörige dieser Generation, allesamt Autoren, die in den 40er Jahren (und manchmal auch ganz am Ende der 30er Jahre) geboren wurden, in den letzten Jahren über die «post-cinema condition» geschrieben haben, so stellt man fest, dass sie alle von der selben Erfahrung handeln: Cinephilen kommt der Gegenstand ihres lebenslang unverbrüchlich liebenden Erkenntnisinteresses abhanden. Miriam Hansen hat 1993 einen Aufsatz mit dem Titel «Early Cinema, Late Cinema. Transformations of the Public Sphere» geschrieben, in dem sie am Leitfaden des Öffentlichkeitskonzepts von Negt und Kluge die kommenden Umbrüche skizziert, gelassen und neugierig. Nun, da es so weit ist, dominiert bei ihren Kollegen der Tonfall der Elegie, so sehr, dass man versucht ist, ihre Bücher zumindest probehalber den fünf Stufen des Trauerns nach Kübler-Ross zuzuordnen. Von «The End of Cinema» (Verneinung – André Gaudreault und Philippe Marion) über «What Cinema Is!» (Zorn – Dudley Andrew) und den «Streit der Dispositive» (Verhandlung – Raymond Bellour) bis zu «Was vom Kino bleibt» (Depression, Jacques Aumont) reicht dabei das Spektrum. Was noch fehlt, ist ein Buch zur Akzeptanz.
Ein solches Buch braucht es: «Post-cinema» ist im Begriff, ein Dauerzustand zu werden; die Trauer droht in Melancholie zu kippen; es gilt zu fragen, was nach «post-cinema» kommt. Ein weiterer aus der Gründergeneration, ein Autor mit Jahrgang 1947, hat nun ein solches Buch vorgelegt, eines, das im Feld der cinephilen Trauerarbeit der Stufe der Akzeptanz zuzurechnen ist, ohne aber auf dieser zu verweilen. The Lumière Galaxy. Seven Key Words for the Cinema to Come von Francesco Casetti, der nach einer langen Laufbahn in Italien seit einigen Jahren in Yale lehrt, ist das Buch eines Cinephilen, der sich vom vermeintlichen Verlust seines geliebten Objekts nicht beeindrucken lässt und geradezu entschlossen scheint, diesem auch in seinen vielfältig gewandelten Gestalten weiter zugetan zu sein. Weit davon entfernt, in die Litanei des «Das ist aber kein Kino mehr!» einzustimmen, mit der manche seiner Kollegen auf die neuen Seinsweisen des Films jenseits des klassischen Dispositivs reagieren, geht Casetti davon aus, dass von den neuen Technologien der Produktion und Distribution ein neues, potenziell durchaus goldenes Zeitalter des Kinos ausgeht. Mit kraftvoller Geste – der Titel, der McLuhans «Gutenberg-Galaxie» variiert, annonciert einen gesunden Ehrgeiz – entwirft Casetti in sieben Kapiteln ein Inventar der Themen und Problemlagen, die sich der Filmtheorie nach dem Ende der «post-cinema»-Etappe stellen werden.
«Relocation», das Eröffnungskapitel, greift einen Begriff auf, den Casetti in einer Reihe von Aufsätzen in den letzten Jahren verwendet hat, um den Wandel des klassischen Kinodispositivs nicht nur im Zeichen der Krise und des Zerfalls, sondern der Erneuerung zu denken. «Relocation» lässt sich mit «Ortswechsel» übersetzen und meint zunächst einfach nur das Faktum der Migration des Films in Umgebungen jenseits des Kinos. Das zweite Kapitel, «Relics/Icon» stellt die Krise des Index ins Zentrum und zeichnet den Übergang von einer Theorie, die den Spurcharakter des fotografischen Bildes zur differentia specifica der Kunstform Film erklärt, zu einer, die aus den Debatten um die Digitalisierung die Bilanz zieht, dass es nicht so sehr auf den Index-Charakter des Bildes ankommt als vielmehr auf den anderen Aspekt der Doppelgestalt des Filmbildes, seine Ikonizität, also die Ähnlichkeitsbeziehung, die es mit dem Gegenstand auch verbindet.
Bewegen sich die beiden ersten Kapitel noch im Horizont einer konsensfähigen Diagnose der Krise von Index und Dispositiv, wenn auch ihr Tonfall dezidiert nicht elegisch ist, so schlägt Casetti in den nächsten vier Kapiteln «Assemblage», «Expansion», «Hypertopia» und «Display» eine Reihe von produktiven Breschen in das noch unübersichtliche Feld des Films nach dem vermeintlichen Ende des Kinos. Casettis Herkunft ist die Filmsemiotik, genauer die Semiopragmatik, die er als Schüler von Metz und gemeinsam mit Roger Odin in den 80er Jahren entwickelte. In den vier topologischen Kapiteln der Lumière Galaxy nun erweitert er seinen theoretischen Horizont ganz erheblich und bettet die Filmtheorie in den Zusammenhang der Medientheorie und der Medienarchäologie ein. «Assemblage» handelt von neuartigen Artikulationen und Medienverbünden, die der Film in der digitalen Medienumgebung eingeht; «Expansion» meint zugleich die erweiterte Mobilität des Films und die Erweiterung der Horizonte der ästhetischen Erfahrung; «Hypertopia» schlägt eine Topologie der komplexen Verschachtelungen von Filmraum, Bildraum und architektonischem Raum vor, die sich als Folge der «relocation» ergeben, und «Display» schließlich entwirft eine Ästhetik bewegter Bildoberflächen jenseits der Leinwand und des herkömmlichen Bildschirms. Im siebten Kapitel mit dem Titel «Performance» schließlich arbeitet Casetti einen weiteren Gedanken aus, den er in den letzten Jahren bereits in einer Reihe von Aufsätzen entwickelt hatte. Kennzeichnet sich die cinephile Filmkultur noch durch den Ritus der «attendance», des Beiwohnens und der Teilnahme an der öffentlichen Vorführung des Films, so fällt die Programmgestaltung in Zeiten von Streaming und Sharing in die Verantwortung der Zuschauerin und des Zuschauers. Der Kanon löst sich auf im Übergang von der « attendance » zur «performance»; an seine Stelle treten neue Listen, Inventare und Verzeichnisse dessen, was unverzichtbar scheint. «Wir machen Listen, weil wir nicht sterben wollen», sagte einmal Casettis Semiotiker-Kollege Umberto Eco. Was Casetti als «performance» beschreibt, mündet in eine Proliferation von Listen, mit denen das Kino seinen vermeintlichen Tod überwindet.
Wenn Casetti am Ende des Buches unter dem Titel «The Persistence of Cinema in a Post-Cinematic Age» eine Bilanz seiner Auslegeordnung einer Theorie des Kinos der Zukunft zieht, dann beschwört er mit dem Begriff «persistence» nicht einfach das Beharrungsvermögen des Mediums in einem sich verändernden technologischen Kontext. Sein Argument ist subtiler und kühner. Er verfährt zugleich medienarchäologisch und theoriegeschichtlich und leitet aus einer Re-Lektüre der frühen Filmtheorie von Canudo bis Epstein im Licht der aktuellen Umbrüche die These ab, dass das Kino der Zukunft das eigentliche Kino sein wird. Wohl mag das Kino jener Medienspezifik verlustig gegangen sein, wie sie mit der Trias von Index, Dispositiv und Kanon lange bestimmt wurde. In seinen neuen Gestalten, so Casetti, kommt das Kino aber überhaupt erst zu sich selbst und realisiert, was in der frühen Filmtheorie als Intuition seines Potenzials zu finden ist.
An die Stelle einer Haltung der Akzeptanz tritt so die Vision einer Wieder- oder Neu-Geburt des Kinos. Im Unterschied zu manchen seiner Altersgenossen ist Casetti kein Kind von Traurigkeit. Sein Denken war schon immer von einem Furor geprägt, der an die Futuristen erinnert: ein Denken mit Hammer und großer Geste, das keine falsche Pietät kennt und das Alte entschlossen veraltet, um das Neue aus den Trümmern zugleich ent- und erstehen zu lassen. Geophilosophisch gesprochen, bleibt Casetti so gesehen auch in seiner neuen amerikanischen Umgebung ein italienischer Denker, und es ist gerade diese Verortung, die er mit auf seine Reise über den Atlantik genommen hat, die es ihm erlaubt, in The Lumière Galaxy die bislang überzeugendste Antwort auf die Frage zu geben, was denn eigentlich nach dem «post-cinema» kommt.
Francesco Casetti: The Lumière Galaxy. Seven Key Words for the Cinema to Come (Columbia University Press 2015)