bühne & bild

Bühne & Bild

Von Helgard Haug

START. Eine Entscheidung vor Bildschirmen

Das erste Mal erfuhr ich von Stanislav Petrov über Markus Kompa. Wir hatten gerade begonnen, miteinander an einem neuen Theaterstück zu arbeiten. Markus Kompa ist Zauberer, er ist aber auch Rechtsanwalt, unter anderem vertritt er Uri Geller in Deutschland. Und er ist Verschwörungstheoretiker, bewandert in der Geschichte der Kriegsführung, staatlicher Desinformation und der Kunst internationaler Täuschungsmanöver.

Und während wir uns mit Robert-Houdin, Jasper Maskelyne und Erik Jan Hanussen durch die Jahrzehnte der Kriegszauberer dachten, kamen wir schließlich zum Kalten Krieg und zu Stanislav Petrov, dem Mann, der heute als derjenige gilt, der die Menschheit vor dem Dritten Weltkrieg bewahrt hat. Als der Mensch, der nicht auf den roten Knopf gedrückt habe. Stanislav Petrov hat nicht gezaubert – er hat sich lediglich nicht täuschen lassen, als er 1983 vor seinen Überwachungsmonitoren saß und fünf rote Buchstaben das Wort START formten.

Wir hatten die Information, dass Stanislav in der Nähe von Moskau lebt und konnten ihn aufspüren und uns über einige Umwege bei ihm einladen und ihn schließlich dafür gewinnen, seine Geschichte auf der Bühne zu erzählen, die dann damit anfängt, dass sie eigentlich immer und überall falsch dargestellt wird, verkürzt, verknappt, zugespitzt – kastriert, wie er sagt. Es war streng genommen nicht einmal so, dass Petrov, wie in Berichten oft behauptet,1983 eine Befehlskette durchbrochen hätte. Eher war es paradoxerweise sein Glaube ans System, der den atomaren Weltkrieg verhindert hat.

Stanislav Petrov war an diesem Abend des Jahres 1983 wachhabender Offizier in der Kommandozentrale des Raketenfrühwarnsystems, zuständig für die optische Überwachung Nordamerikas. Er arbeitet in der Nachtschicht. Sein Arbeitsablauf ist auf die Sekunde festgelegt. Vor sich hat er ein Display, ein Bild der Erde, fokussiert auf das Gebiet der USA. Er sagt: «Wir hatten das Überwachungssystem so weit entwickelt, dass es kaum möglich gewesen wäre, eine Rakete unbemerkt abzuschießen. Schon in dem Moment, in dem die Rakete auf der anderen Seite der Erde den Schacht verlässt, mussten wir sie sehen.»

Kurz nach Mitternacht schlägt das Frühwarnsystem Alarm. Petrov bekommt die Meldung, dass eine Interkontinentalrakete von einer amerikanischen Basis gestartet sei. Obwohl so eine Situation oft trainiert wurde, beschreibt Petrov den Alarm als Schock. Der Ablauf sieht vor, dass er den Raketenstart nun an die nächste militärische Stelle meldet. Eine zweite visuelle Kontrolleinheit kann den Raketenstart nicht bestätigen. Die Radarüberwachung könnte eine möglicherweise existierende Rakete erst auf weiter fortgechrittener Flugbahn erkennen. Die erste Rakete würde in 20 Minuten aufschlagen. Spätestens dann werden die russischen Raketen zum Gegenschlag abgeschossen. Ein Schlag führt immer zum Gegenschlag. Es gibt nur einen einzigen Unterschied: Der, der den Erstschlag beginnt, lebt zwanzig Minuten länger.

Die Bilder der optischen Systeme widersprechen sich noch immer. Rund drei Minuten sind vergangen. Petrov hat, wie er später erzählt, Angst vor dem «Hühnerstall-Effekt»: «Sobald ein Hahn den Morgen verkündet, krähen alle anderen Hähne auch, selbst wenn es mitten in der Nacht ist.» Er beschließt, das ganze als Fehlalarm zu bewerten und nicht weiterzumelden. Da sieht er auf dem ersten Bildschirm einen zweiten Raketenstart. Er beschließt, seinem Wissen zu trauen, nicht dem, was er sieht. Einzeln abgeschossene Raketen passten nicht in das, was die Sowjetunion den Amerikanern als Kriegsstrategie unterstellten. Petrov entschließt sich, einen Fehlalarm zu melden. Auch die dritte, die vierte, die fünfte Rakete auf seinem Bilschirm ignoriert er.

Nach dreizehn Minuten müssten die Raketen im Radar auftauchen. Das System gibt Entwarnung: keine Raketen. In der späteren Auswertung wurden unter anderem Sonnenlichtreflexe auf Wolkenformationen als Grund für den Fehlalarm angegeben. Zehn Jahre blieb die ganze Geschichte streng geheim – niemand durfte von der Anfälligkeit des Kontrollsystems erfahren, niemand das Zögern eines einzelnen Menschen gut oder schlecht nennen.

 

Der Zauberlehrling von Helgard Haug und Daniel Wetzel. HAU Berlin/Düsseldorfer Schauspielhaus April/Mai 2009