Geschichte
«wie auf ein Stichwort (auch die Musik setzt aus)»
Les Hautes Solitudes von Phillipe Garrel. 1974 gedreht, sechs Jahre nach 1968 (als ob das Bedeutung hätte), in einer Wohnung in Paris mit Nico, Jean Seberg, Tina Aumont, drei Frauen, die mittlerweile tot sind, aber vielleicht waren sie es schon damals, denkt man, während man sie anschaut, nicht ganz 80 Minuten lang, schwarzweiß, grobkörnig, manchmal unscharf, ohne Ton. Jean Seberg wird Ende August 1979 in Paris tot in einem Auto gefunden, neben ihr Schlaftabletten und ein Abschiedsbrief, Nico stirbt im Juli 1988 nach einer Gehirnblutung, Tina Aumont 2006 an einer Lungenembolie. Schon bei Garrel sind sie nicht mehr ganz da (oder noch immer nicht ganz da), bloß Gesichter, Augen, Münder, um verstehen zu können, was sie sagen, müsste man Lippen lesen können. Nur eine Kamera kann, nur im Kino kann man Frauen so lange ins Gesicht schauen, ohne dass etwas geschieht. Dann geschieht etwas: Jean Seberg wird während des Films einen Selbstmord spielen, eine Tablette, ein Schluck zum Nachspülen, eine Tablette, ein Schluck, noch eine Tablette, oder vielleicht doch nicht spielen, sondern schon damals Ernst machen wollen, bis ihr doch in den Arm gefallen wird (und die Szene verdorben). Eine Kamera, die Frauengesichter belauert, als ob sie Bedeutung hätten. Garrel wird Anweisungen gegeben, vielleicht aber auch nur abgewartet haben, Kino sei Freud plus Lumière, hat er mal gesagt, Traurigkeit, Schwermut, Verzweiflung, Kummer, Tränen, ein paar Jahrzehnte nach der Erfindung des Tonfilms das Repertoire alter Stummfilmgesichter, auf denen jede Regung für etwas steht, von dem man nicht erfährt, was es ist (doch die Gewohnheit verlangt, ein gebrochenes Herz zu vermuten), die Frauen reden miteinander, aufeinander ein, man muss weitermachen, setzen die Echos aus dem eigenen Leben ein, es wird besser mit der Zeit, in ein paar Monaten wirst du darüber weg sein. Es sei denn, sie sprächen über etwas anderes als über ein gebrochenes Herz. Jean Seberg liegt in einem Bett und weint, Jean Seberg raucht eine Zigarette und weint, Jean Seberg schaut und weint, es könnte aber auch irgendeine, jede andere Frau sein. Ein langsamer Sommer, in dem nicht viel geschieht (ein Selbstmordversuch, Kummer, Tränen, Rauchen, ein selten aufgeführter Film, ein prophetisches Werk, was Jean Seberg, ein abschließendes, was 1968 betrifft), bloß noch Bilanz gezogen wird (denn die Gewohnheit verlangt, Tränen für eine Bilanz zu halten), ein wenig übertrieben (aber das wirkt nur so, weil Stummfilme immer übertrieben wirken; könnte man das Schluchzen auch hören, wäre dessen Last auf zwei Sinne verteilt), viel zu sparsam: sagt nichts, gibt keine Auskunft, erklärt nichts, erzählt keine Geschichte, es sei denn, man hielte das Weinen und Rauchen für eine, und eine Geste, die 41 Jahre danach immer noch fast zu viel ist, sich nicht wieder abschütteln lässt, auch der Echos aus dem eigenen Leben wegen, Frauen, die in Zimmern saßen und weinten, rauchten, aufeinander einredeten, einander trösteten; während draußen alles weiterging, immer nur weiter. Oder eben doch nicht.
Irgendwann im Film, jetzt in einem Café statt in der Wohnung, sitzt im Hintergrund unscharf ein Mann. Er schlägt eine Zeitung auf, liest ein paar Minuten lang, schlägt die Zeitung wieder zu, steht auf, geht wieder hinaus. Eine andere Geschichte. Als ob sie Bedeutung hätte.