non-fiction

Identität und Legitimität Warum hat China Angst vor der Freiheit? In seiner materialreichen Studie geht der Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer Selbstverständnis und Problemhorizonten der Volksrepublik nach

Von Christian Neuhäuser

China fürchtet sich vor dem Selbstverlust. Diese These vertritt der Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer in seinem neuen Buch Chinas Angst vor der Freiheit. Der lange Weg in die Moderne, das diesen Herbst in der Beck’schen Reihe erscheint. Die diagnostizierte Zerrissenheit des Reichs der Mitte spiegelt sich auch in der Anlage des Buches: In zahlreichen kurzen, oftmals aporetisch endenden Abschnitten zeichnet Schmidt-Glintzer ein Bild Chinas, das wenig zu tun hat mit jener monolithischen Vorstellung eines sich immer gleich bleibenden, immerwährenden Großreichs, die sich in Europa schon so lange großer Beliebtheit erfreut. Gerade die ungewöhnliche collagenhafte Architektur des Buches, die zahlreiche historische und literarische Zitate einwebt, verleiht der zentralen Annahme, Chinas Angst vor der Freiheit sei vor allem Ausdruck einer orientierungslosen Suche nach sich selbst, ihre intuitive Überzeugungskraft.

Geprägt ist diese Suche nicht zuletzt von der traumatischen Erfahrung des europäischen und japanischen Imperialismus und dem damit verbundene Zerfall des Reichs in zahlreiche von Kriegsherren beherrschte Regionen. Dies erklärt, warum Sun Yatsen von China als einem unbeschriebenen Blatt sprechen wollte, aber zugleich auch, warum dies nicht gelingen kann. Denn alle heutigen Probleme und Herausforderungen stehen auf die eine oder andere Weise in direkter Verbindung mit jenem historischen Identitätsverlust. Beispielsweise hängt der historische Zerfall mit dem spezifischen Charakter des starken wirtschaftlichen Wettbewerbs zwischen den Regionen innerhalb Chinas zusammen – ein Umstand, dem in der europäischen Wahrnehmung eines harmonischen Einheitsreichs nicht Rechnung getragen wird. So erklärt sich auch die panische Angst der Zentralregierung vor allen Gruppierungen, die in irgendeiner Form Merkmale einer verschworenen Bruderschaft aufweisen und auch nur entfernt an die Zusammenarbeit Chiang Kai-sheks mit der Unterwelt erinnern.

Wichtiger noch ist, dass die chinesische Bevölkerung insgesamt einen nur schwachen Glauben an die Legitimität der Regierung besitzt, die sich immer wieder im Umgang mit neuen Herausforderungen beweisen muss. Besonders die Erfahrung der Hungerkatastrophen sitzt nach wie vor tief und erklärt die zunehmenden Forderungen nach Bildung und Versicherungssystemen, aber auch nach einer Angleichung der Lebensverhältnisse auf dem agrarischen Land und in der modernen Stadt. Die Stabilität der Regierung steht und fällt mit ihrer Kompetenz, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, denn es gibt weder eine Legitimierung durch Verfahren, noch eine charismatisch legitimierte Elite, wie es die konfuzianischen Literaten einst waren.

Hinzu kommen weitere, nicht für alle offensichtliche, aber nicht weniger akute Herausforderungen, wie der massive brain drain in die USA, die sich immer konkreter abzeichnende Umweltkatastrophe und die sich stark verändernde Alterspyramide. Angesichts dieser Aufgaben und der Tatsache, dass es sich bei China um einen Vielvölkerstaat handelt, wird deutlich, warum China eine klare Abgrenzung nach außen und eine neue Identität im Inneren sucht.

Die Hoffnung der Mächtigen ruht nicht zuletzt einmal mehr auf den Literaten und anderen Kulturschaffenden, die das Bild einer geeinten Nation produzieren sollen, die vielleicht nicht mehr den Traum eines harmonischen chinesischen Dorfes in Umlauf bringt, aber der Vereinzelung und der Desintegration eine stabile nationale Identität entgegensetzt. Hier zeigt sich auch die bleibende kulturelle Bedeutung des großen Staatschefs und daoistischen Dichters Mao Zedong, der die Nähe von revolutionär-autoritärer Regierung und identitätsstiftender Literatur symbolisieren soll.

Ein langer Marsch

Aus dieser Perspektive zeigt sich China mehr als hundertfünfzig Jahre nach den Opiumkriegen als immer noch fragiles Staatengebilde, dessen langer Marsch in die moderne Demokratie, wenn er überhaupt möglich werden soll, durch ein neues Selbstverständnis der eigenen Geschichte und Kultur hindurch führen muss. Für den europäischen Blick auf China hat dies zwei weitreichende Konsequenzen. Weder wird das romantisch verklärende, zumeist aus einem zumindest leicht antimodernen Impuls heraus geformte Bild Chinas, als dem in sich homogenen Reich der Mitte, das keine Pluralität kennt und will, der Wirklichkeit gerecht, noch kommt die liberale Demokratie automatisch im Schlepptau von Kapitalismus und Welthandel und lässt sich durch bloße Institutionenreform implementieren, wie so mancher Technokrat allzu gerne glauben machen will. Hier zeigt sich, warum es vielleicht doch eines Sinologen, also eines Geisteswissenschaftlers bedarf, um ein komplexeres Verständnis der vorliegenden Dynamiken und historisch-kulturellen Tiefenschichten zu vermitteln.

Gerade weil Schmidt-Glintzer diese Einsicht in ein vielfältiges, geschichtsträchtiges, literarisches, zerrissenes, hochmodernes und mit gewaltigen Problemen belastetes Chinas so eindrucksvoll nachzeichnet, ist es um so bedauerlicher, dass seine Schilderung mitunter apologetische Züge annimmt. Das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens im Juni 1989 wird mehrmals erwähnt und immerhin als blutige Auflösung einer Demonstration bezeichnet. Aber was es für den Zustand eines Staates bedeutet, Polizei und Armee mit derart massiver Gewalt gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, wird nicht analysiert, sondern zur rein situativ motivierten Entscheidung Deng Xiaopings gegen den Generalsekretär der Partei und Anwalt der protestierenden Studierenden Zhao Ziyang stilisiert.

An anderer Stelle weist Schmidt-Glintzer zwar darauf hin, dass die Todesstrafe in der Bevölkerung eine hohe Akzeptanz genießt, aber auf die Frage, warum die Regierung so freimütig davon Gebrauch macht und was dies möglicherweise mit dem Thema Organtransplantation zu tun hat, gibt es keine Antwort. Auch die Wanderarbeiter finden zwar Erwähnung. Dass deren Arbeitssuche aufgrund der rücksichtslosen Ausbeutung ihrer Arbeitskraft mittlerweile den Charakter eines ziellosen Exodus angenommen hat, wird allerdings kaum festgehalten. Nicht zuletzt ist von der Tibet-Frage erstaunlicherweise kaum die Rede. Auch die anhaltenden Unruhen in Xinjiang, zurückgehend auf die kürzlich wieder aufgeflammte und gewaltsam unterdrückte Unzufriedenheit der Uiguren, werden nicht angemessen erörtert. Wenn schließlich hin und wieder darauf verwiesen wird, dass auch Europa nicht frei von Problemen sei, ein recht einseitiges Verständnis von Menschenrechten besäße und über seine (medien-)demokratische Formen neu nachdenken sollte, dann erinnert dies an ein eher bescheidenes Argument: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

Doch es geht nicht darum, mit Steinen zu werfen, sondern zu verstehen, was China bewegt. Hier leistet Schmidt-Glintzer mit seiner Zeitdiagnose einen fundamentalen Beitrag zur Diskussion um das zukünftige Gesicht des Reichs der Mitte. Es ist eine offene Frage, wie sich China zu seiner Geschichte stellen und das Verhältnis von Kontinuität und Wandel ausbalancieren wird. Ob die vielen drängenden Herausforderungen wirklich gemeistert werden können, bleibt ebenfalls offen. Vor allem aber macht Schmidt-Glintzer am Ende seines materialreichen und kenntnisreichen Buches unmissverständlich deutlich, dass nicht nur unklar ist, ob sich China zu einer Demokratie entwickeln wird, sondern vielmehr einiges dafür spricht, dass dies in absehbarer Zeit nicht geschehen wird.

Hellwig Schmidt-Glintzer: Chinas Angst vor der Freiheit (C. H. Beck 2009)