essay

Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt Zu Lars von Triers Antichrist

Von Elfriede Jelinek

Antichrist

© Zentropa

 

Therapeuten geben einem oft Hausaufgaben. Man muß aufschreiben, wovor man am meisten Angst hat. Was aufgeschrieben wird, wird auch wahr, aber man kann alles aufschreiben, auch auf Film, und man kann genausogut das Gegenteil schreiben. Es ist egal, ob Gott oder Satan die Welt erschaffen hat, man kann ein Diagramm davon anfertigen und es aufzeichnen, aber es hat keinen Sinn, das zu tun. Man kann weder Satan noch Gott sehen, aber Film ist schließlich: sehen.

Ein Ehepaar fickt, und derweil fällt der kleine Sohn, der die Tür seines Laufstalls öffnen konnte, aus dem Fenster, seinem Teddy Kindes, hinterher, und stirbt. Die Welt stürzt ein. Hätte Satan die Welt nicht geschaffen, sondern Gott, wäre das nicht passiert. Es hätte etwas ganz andres passieren können, und das hätte auch ein Film sein können, wenn auch nicht genausogut. Alles, was getan wird, ist ein Verstoß gegen irgendetwas, alles ist auch eine Ausnahme. Film ist eine Ausnahme zwischen Licht und Schatten, die man auch Aufnahme nennt. Etwas wird im Film aufgenommen. Doch das Ausgenommene (Ausgeweidete) ist das, was man am Ende sieht. Die Welt ist schon da, die Menschen sind von ihr ausgenommen, leere Flecken, die jeder füllen kann. Auch jemand wie Lars von Trier, der die Schöpfungsgeschichte beseitigen will, indem er sie in ihr Gegenteil verkehrt. Das Ende, der Tod eines Kindes, ist der Anfang eines Höllensturzes der Eltern, obwohl der Tod nicht der Anfang, sondern das Ende ist. Aus keiner Geschichte kann aber die Macht beseitigt werden. Die größte Macht haben die Menschen, die alles machen und alles kaputtmachen können. Die Tiere (hier: Rabe, Reh und Fuchs, Naturwesen, Unschuldige, ihrer eigenen Natur und der größeren Natur um sie herum ausgeliefert, im Gegensatz zum Menschen, der sich gegen sein Ausgeliefertsein, ans Schicksal oder was auch immer, sträubt, sich dagegen wehrt und nur schuldig werden kann, eine andre Möglichkeit hat er nicht) schauen freundlich herein, dem Reh hängt das Kitz zum Uterus hinaus, halb draußen ist es, halb drinnen, als das Muttertier vor dem Menschen (dem Mann) scheut und flieht, bevor es noch in Ruhe hätte gebären können. Der Rabe wird in der Erd-Gebärmutter vom Mann erschlagen werden (aber immer weiter- und weiterkrächzen, als er doch längst schon tot sein müßte), als der sich vor dem Mordversuch (der eigentlich zum Bleiben zwingen soll, nicht zum Gehen. Wenn jemand stirbt, sagt man von ihm: er ist gegangen. Hier soll der Tod ein Bleiben und Behalten sein) seiner Frau dorthin geflüchtet hat, denn das kreatürliche Krächzen des Vogels verrät den Mann und seinen Aufenthaltsort. Der Fuchs schaut, es geschieht etwas mit ihm, ich sehe nicht genau, was, aber er schaut. Mich an. Den Zuschauer an. Er spricht sogar kurz. Gegen Ende werden alle drei Tiere in ihrer Unschuldigkeit, für die sie aber auch nichts können, drei Bettler? auf dem Fluchtweg des Mannes, der gerade seine Frau erwürgt hat, wieder kurz auftauchen, unversehrt. Eine göttliche Dreieinigkeit, in der es keinen Gott gibt, und dennoch sind die drei Tiere für mich Gott, der verloren hat, von Anfang an, der er ist. Anfang und Ende gleichzeitig. Und dabei hat er doch angeblich alles gemacht, der Herr Gott! Also hier jedenfalls nicht. Ist er einer der drei Bettler, von denen im Film die Rede ist? «When the three beggars arrive someone is going to die.» Kann auch sein.

Der Tod des Kindes setzt die Katastrophe des Anfangs, inmitten der Lust des stöhnenden, zur Musik von Händels Arie lascia ch’o pianga – diese Musik ist mit Sicherheit das Gegenteil von «Natur», sie ist das Gemachte schlechthin – fickenden Elternpaares fällt es hinaus aus dem Fenster, ein ausgeschlossenes Drittes, das alles weitere damit in sein Gegenteil verkehrt. Der väterliche Phallus wird mit dem toten Sohn ausradiert, der Vater wird kastriert, denn er verliert, als zeugendes Subjekt, seine Vaterschaft, als einer, der sich, im Zeugen, als Gott fühlen durfte. Die Mutter hat das Kind ausgetragen, nachdem es in sie eingelegt worden ist, und jetzt ist diese Frucht tot und fort. Beide Elternteile sind hiermit verfallen. Gott hat seine Schöpfung zurückgezogen, und so ist auch ihre Schöpfung, die Schöpfung der Schöpfung (na, von selbst geht das nicht, von nichts kommt nichts!), das Kind, dem Gegenteil Gottes, dem Antichrist, verfallen, der auch nur ein andrer Christus ist. Denn was ein Gott schaffen kann, das kann er auch wieder nehmen, er kann ja alles.

Als die Eltern keine mehr sind, als sie ins Nichts gefallen sind (die Mutter bricht auf dem Begräbnis ohnmächtig zusammen, liegt einen Monat, ohne von sich zu wissen, im Spital), gehen sie fort. Sie ziehen sich in eine Hütte im Wald zurück, allein miteinander, was nicht bedeutet: gemeinsam. Laut Verhaltenstherapie muß sich die Frau ihrer größten Angst stellen: der Natur. Dem, was sie doch selber ist. Der Vater, ein Therapeut, versucht eine Zeit lang, das für seinen Beruf Erlernte auf diese zusehends verfallende Frau anzuwenden, die ein Jahr zuvor ihre Doktorarbeit zum Thema «Gynocide» so plötzlich aufgegeben hat, in dieser Hütte im Wald, zu der sie nun unterwegs sind, und dort betritt der Mann dann irgendwann das Verbotene Zimmer, einen Blaubart-Raum, in dem die Holzschnitte gefolterter, getöteter Hexen an den Wänden hängen, und er findet auch die Notizen der Frau, ihre Schrift im Notizbuch wird von Seite zu Seite unleserlicher, am Schluß läßt sich nichts mehr entziffern, mit Ziffern kann man ohnedies nichts ausdrücken. Es geht in dieser Doktor-Arbeit also in erster Linie um die Hexenverfolgungen im Lauf der Jahrhunderte (die Mutter weiß noch nicht, oder sie weiß es schon, daß sie zur Hexe werden und vernichtet wird, und der Vater weiß noch nicht, daß auch er schon ans Nichts und an dessen Gegenteil, das eben auch: nichts ist, verfallen ist; er könnte auch ein neues Kind machen, aber dieses eine Kind kann er nicht mehr machen, es ist ausgelöscht, und damit sind er und seine Frau zunichte geworden), aber gegen das kreatürliche Wüten der Frau, die eben in sich selbst das bekämpft, was sie ist: Natur, in ihrem Rasen gegen sich und ihn, «ihren» Mann, können die Diagramme, die er zeichnet, nichts ausrichten, nicht einmal Pentagramme könnten es. Auch wenn man noch so oft das Geschriebene ausstreicht und stattdessen etwas andres hinschreibt – hinschafft – es muß doch wieder fortgeschafft werden, denn diese Schöpfung ist keine auf dem Papier, keiner hat sie entworfen, sie ist in jedem Augenblick: verworfen. Und ein völlig andres Verhältnis zur Macht besteht dort, wo die Natur herrscht, im mannshohen Farnkraut, im Unterholz, in den riesigen alten Bäumen, im seltsamen Hagel (was ist es, das da vom Himmel kommt, was sind diese kleinen Körner, die sich auch in die Haut graben? Es sind Eicheln, die da fallen, aber sind es wirklich Eicheln?), der gegen das Dach und die Scheiben prasselt. Die Natur gewinnt immer. Doch jedes Verhältnis unter Menschen ist in der Umkehrung der Schöpfung, wenn Satan regiert, in der Natur dann auch möglich bzw. nicht möglich. Die Menschen können sich nirgendwo mehr einrichten (und wohnlich schon gar nicht!), diese beiden jedenfalls können sich nicht selbst vergessen, im Sex schon gar nicht («don’t screw your therapist», sagt der Mann einmal zur Frau), auch wenn sie das in einer existentiellen Katastrophe noch so wünschen mögen, sie müssen sich erinnern, und nur in der eigenen Auslöschung ist die Erinnerung an das Kind (das im Film immer wieder kurz eingeblendet wird) dann weg. Sie versuchen, sich in der Macht häuslich einzurichten, aber ihr Haus haben sie verloren, und die Hexe/Frau wird versuchen, diese Macht umzukehren, im Sinn und im Auftrag des Antichrist. Erst mal ist der Therapeut dran, in den lächerlichen Atemübungen, die er seiner Frau gegen das Hyperventilieren bei der Panikattacke verordnet, in seinen Fragebogen, was sie am meisten fürchtet, das solle sie aufschreiben, dem muß sie sich konfrontieren, sonst wird sie ihre Ängste nie loswerden. Es ist also die Natur, die ihr am meisten Angst macht, aber was soll jemand aufschreiben, den es im Grunde gar nicht mehr gibt? Oder nur noch als Gespenst?, auch wenn es die Gewalt, die das einzige ist, was Menschen zusammenhält – die Liebe ist es jedenfalls nicht, wenn die Schöpfung vom Antichrist, von Satan, geschaffen wurde –, auch dann wird es die Gewalt noch geben, sie wird auch sich selbst überleben (und nicht Kafkas Scham am Ende des «Proces»), sie wird das letzte und einzige sein, was übrigbleibt, was Mann und Frau noch übrigbleibt. Wenn der Mann sich also in dem ausdrückt, woran er sich festhalten kann und was er für das therapeutische Setting gelernt hat, mit der Technik, die er erlernt hat, und die Frau sich ihrer kreatürlichen Verzweiflung ergibt (sich ergebend in das Schicksal des Gynozids an den Frauen, indem sie eine von ihnen wird, Frau ist sie schon, aber in der Identifikation mit der Hexe wird sie auch Macht haben als Frau), heulend wie ein Tier, durch ihre bloße Existenz, ihre Naturhaftigkeit jeder Naturkatastrophe wehrlos ausgeliefert (und die weibliche Natur war es letztlich, derentwegen all die Frauen als Hexen gefoltert und verbrannt wurden), auch dann werden diese beiden der Macht aneinander und gegeneinander verfallen und darin erfahren, daß diese Macht in Wirklichkeit eine Ohnmacht ist. Sie ermächtigen sich gegenseitig zur Ohnmacht, in der das Erzwungene und Niedergehaltene (der Naturhaftigkeit) zerfließt und jedes Bewußtsein von sich selbst, das man haben kann, ausradiert wird. Und tatsächlich haben beide, Charlotte Gainsbourg wie Willem Dafoe hier seltsam tierhafte Gesichter (was in einem andren Film sicher nicht auffallen würde), jeder von ihnen mit einer deutlich hervortretenden Mundpartie, einer Prognatie, die das Äffische, das Primatenhafte an ihnen betont.

Die Natur, innerhalb derer ein andres Verhältnis zur Macht nicht möglich ist als eben deren gradlinige, direkte Ausübung (was noch keiner hat lange lernen oder üben müssen, der das gewollt hat), ist hier das Furchtbarste überhaupt, nämlich die ungebremste Gewalt, nur sind die Tiere, als reine Natur, in ihrer Machtausübung unschuldig (der Raubvogel, der im Film das Küken frißt), und in der vom Antichrist geschaffenen Welt ist die Bewußtheit der Macht der einzige Grund, daß die Menschen existieren, ein andres Verhältnis als das Herrschen durch diese Machtausübung ist nicht möglich. Im Tod eines Kindes, einem welterschütternden Ereignis, an dem keiner schuld ist, außer vielleicht die Unachtsamkeit der Eltern (die Mutter weiß allerdings, daß das Kind Schlafwandler ist, sie ist gewarnt, und sie wirft dem Vater vor, er hätte sich nie wirklich für sie und das Kind interessiert), wird die Unentbehrlichkeit der Macht (des Mannes) und die Verfallenheit (der Frau) an diese bewußt, das versteckte Wirken der Macht in allem, was sichtbar und wirksam ist. Die Hexen waren ja angeblich gegen Gott, das heißt, sie waren mit dem Teufel im Bunde, sie haben Macht an sich gerissen, die ihnen nicht zustand, und sie waren überhaupt: angeblich, und sie waren auch das Gegenteil davon. Sie waren mächtige, durch sich selbst ermächtigte Frauen.

Selbst als die beiden, Mann und Frau, vormals: Eltern, noch erkennen können, wohin es sie treibt, als noch kurze Glücksmomente möglich sind (die Frau schafft es plötzlich, über die kleine Brücke zu gehen, was in ihrer schrecklichen Angst zuvor noch ein Problem war, das sie bis in ihre Träume verfolgt hat, fast unüberwindlich, sitzen die beiden noch einmal kurz beisammen, sprechen miteinander wie Menschen, doch das endet, als der Mann in dem Verbotenen Zimmer erkennen muß, daß die Frau eine Hexe sein muß, daß sie sich mit der Hexe vollkommen identifiziert (und nicht mit dem blutigen Feldzug gegen diese), und jetzt beginnt SEINE Angst, und dem Mann kann in seiner Angst keiner mehr helfen. Denn diejenige, die dazu berufen wäre, ist seine größte Feindin, die nicht duldet, daß er sich ihr entzieht. «Freud is dead, isn’t he?», sagt sie, der moderne Therapeut greift nicht mehr auf ihn zurück, sondern auf die Technik. Nein, tot scheint er nicht zu sein, Freud. Ja, ist er schon, aber es hat ihn gegeben, wie alles tot ist, was es einmal gegeben hat, und alles, was lebt, je schon tot ist. Rationale oder philosophische Erklärungen, egal nach welchem System, sind sinnlos, wie jedes System sinnlos wird, Systeme sind interessant, aber sinnlos. Wo die Macht wirkt und ihr Wesen enthüllt, wozu sie ja immer einen anderen braucht, und das Verstörende an diesem Film ist, daß immer nur ein andres, das nächste Wesen, das es gibt, die Frau dem Mann, der Mann der Frau dieses versteckte Wesen, die Macht, vorführen muß, obwohl der Kindstod die Eltern auch hätte zusammenführen können, wo also die Macht wirkt, dort hat Gott sein Recht verloren, die andre Partei gewinnt, der Antichrist. In einem der erhellendsten und schrecklichsten Augenblicke des Films, einem der letzten, die sie noch miteinander verbringen können, schleudert der Mann seiner Frau ins Gesicht, ob ihr bewußt sei, daß Jahrhunderte lang Frauen nur deshalb getötet worden seien, weil sie Frauen waren. Aber es war eben nicht jede Frau: eine Hexe. Der Mann hat nicht die Wahl, ob er auf seine Macht verzichten will. Der Mann denkt nicht an Machtausübung, als er seiner Frau einfach nur helfen will, die zunehmend an der Tragödie zerbricht. Aber im Reich des Antichrist wird Ficken zum Töten und Töten zu Sex. Eine Tätigkeit, die Leben schaffen könnte, wird zur Vernichtung inmitten der (wie gesagt: ebenso grausamen, doch das in aller Unschuld) Natur, die hier düster und bedrohlich ist, ein Hochwald, ein Ur-Wald. Freud wird zur Parodie, wenn die Frau dem Mann – in einem grotesken ödipalen Zitat – einen Schleifstein, den sie aus dem Gestell herausmontiert (ein Mühlstein? Der Mühlstein, den sie um seinen Hals ist? Aber jetzt kann er nicht mehr weg, er kann nicht mehr fliehen!) ins Bein rammt und auch noch mit einer Schrauben-Mutter dort fixiert, den Mann zu einem Schwellfuß, einem Hinkefuß macht, ihn beinahe lähmt, nachdem sie ihn zuvor mit einem Brett bewußtlos geschlagen hat. Und er, den sie danach masturbiert, spritzt ihr sein Blut auf die Bluse. Sie will damit nur erreichen, daß er bleibt («don’t leave me!», der Urschrei schlechthin, schon von Jesus am Kreuz an seinen Vater gerichtet, ergebnislos, weil er ergebnislos auch sein sollte und von Anfang an so gedacht war). Ödipus, einer der großen Angelpunkte von Freuds Theoriewerk, wurde als Kind zum Schwellfuß gemacht und in die Wälder gejagt, also: fortgejagt. Sein Bleiben war unerwünscht, denn Entsetzliches drohte durch ihn; doch dieser Mann hier muß bleiben, er darf nicht fort. Die Frau, von ihrem Mann/Therapeuten (Vater/Rationalist) wiederum, ebenfalls ein Akt der Infantilisierung, denn auch der Vater will ja das Kind zurückhaben, was nicht geht, zu ihrem eigenen (unmündigen) Kind, das sie verloren hat, gemacht, reagiert mit äußerster Wut auf diesen Prozeß der Entmündigung, eigentlich: des Entzugs, denn das Schlimmste ist ja, daß Gott, der Mann, geht, daß er die Frau verläßt.

Wenn Satan die Welt von hinten her aufrollt, also das zunichtemacht, was er als Luzifer geschaffen hat, der der Lichtbringer ist (Film ist Licht und Schatten, Hell und Dunkel!), als das, was er selbst einmal war, nämlich ein Engel, Gottes Stellvertreter – und im Film muß ein Engel geopfert werden, damit Satan entstehen und das in Besitz nehmen kann, was sowieso ihm gehört, als dem negativen Schöpfer –, wenn die Welt also eine Schöpfung des Antichrist ist, dann gibt es vielerlei Möglichkeiten auf Leben, aber alle sind sie nur Möglichkeiten zum Tod hin. Die Frau stürzt sich (als Mutter wäre sie der Schöpfung Gottes, in der alles seine Richtigkeit hat, ja näher und damit der Unschuld, denn sie kann gebären, als Hexe aber ist das, was sie geboren hat, verfallen, verurteilt, und im Reich der Hexe können die Frauen zwar einen Überschuß, ein Surplus an Leben erzeugen, aber nur damit der Tod im Universum des Antichrist auch ordentlich sein Futter bekommt) also auf ihren Mann, der in der wirklichen (Gottes) Welt «nur» zeugen konnte, gebären wie ein Reh oder ein andres Tier kann er sowieso nicht. In diesem Negativ der Welt aber kann er nur noch vernichten, nicht mehr Vater sein, und die Frau wirft sich auf ihn wie auf einen Todfeind (ach, wäre er im richtigen Augenblick doch ein Feind des Todes gewesen! Hätte er das Kind zurückgerissen, als noch Zeit war!). Er rettet sich, schwer verletzt, ins Erdloch des Fuchses hinter einem Stein, dort schleppt er sich hin, zum Raben, der dort wohnt und ihn verrät und daher auch getötet werden muß (doch offensichtlich nicht getötet werden kann, denn er krächzt ja endlos weiter). Die Frau kreischt und kreischt («where are you? You bastard! Bastard!»), sie sucht nach ihm, dem Feind, den sie aber um keinen Preis verlieren will, den sie, als ihren Feind, zum Bleiben zwingen will, um ihm auch noch den Rest zu geben, wie man sagt. Und wenn der Mann sich als unschuldiger Mutterficker und Vatermörder den Schwellfuß, den Betonklotz am Bein einhandelt, um bleiben zu müssen, dann muß es eben so sein, das ist ein Handel, bei dem er nichts zu bieten hat, von der Frau, die Mutter war und es nicht mehr ist und daher auch keine Frau mehr sein kann, über ihren Mann verhängt. Am Ende kastriert die Frau sich (als hätte Freud sich selbst auseinandergenommen, kastriert sich hier das ohnehin immer schon kastrierte Wesen, die Frau, «Die Hexe», als müßte sie ihre eigene Ermordung, die Ermordung der Hexe schlechthin, auch noch sühnen), sie schneidet sich einen Teil ihres äußerlich sichtbaren Geschlechts, die Klitoris (einen Teil, den man sehen und damit auch: erreichen kann, wohingegen das Unheimliche der Frau, die dem Mann schließlich ein Heim bieten sollte, ein schönes, darin besteht, daß ihr Geschlecht, das eigentliche Heim, aus dem damals das Kind gekommen ist, eben nach innen geht und nicht gesehen werden kann, es kann nur indirekt repräsentieren, durch Zuckungen oder Säfte, die fließen. Oder wenn das Kind bei der Geburt nach außen rutscht. Nicht von ungefähr sieht man während des Vorspanns einen erigierten Penis, der ins Loch stößt), mit einer großen Schere weg. Die Kastrierte kastriert sich noch einmal selbst. Das Kind ist fort, auch durch ihre Schuld, also muß ihr Geschlecht auch weg. Ödipus, Vater und Mann seiner eigenen Mutter (hier: einer Frau, die durch ihn Mutter geworden ist und dann alles verloren hat), geht in diesem Fall aber nicht in die Wildnis, in die Natur, in der er sich ja schon befindet, nein, auch er löscht die Frau aus, erwürgt sie am Ende. Sonst würde sie ihn töten. Sie würde es immer wieder versuchen. Es war Notwehr.

Mithilfe des Werkzeugs, das den Mann zum Herrn über die Welt gemacht hat (hier ein sogenannter Franzose, mit dem er es schafft, die Schraubenmutter, die den Klotz an seinem Bein festhält, herauszudrehen) kann er sich befreien, und als Freier hat er paradoxerweise nicht mehr die Wahl, denn die Frau wird eben wieder und wieder versuchen, ihn bei sich zu behalten. Es heißt jetzt: sie oder er. So ist es natürlich er, der nimmt und sich selbst damit behält. Die Hexe brennt am Schluß. Die drei Tiere erscheinen noch einmal, zeigen ihre freundlichen, lieben Gesichter, die Natur hat keinen Schrecken mehr zu bieten, keinen, den der Mensch nicht mühelos überbieten könnte jedenfalls. Der hinkende Mann mit seiner selbstgebastelten Krücke, sich von Beeren ernährend, hat seine Macht ausgeübt, was der Antichrist auch so vorgesehen hat, seine Schöpfung hat funktioniert, seine Ohnmacht hat nach nichts als Macht gedürstet (auch wenn die Frau hier zuerst Macht gegen ihn ausgeübt hat, aber die Frau gewinnt nie, ihre Gegengewalt, auch gegen eine kommende Gewalt, geht immer ins Leere), die Macht ist wesenhaft durch den Mann an sich selbst gefesselt, sie kann nur aus ihm heraus, aber sie kann nicht aus allem heraus, das es gibt, und die Ohnmacht der (natürlich körperlich schwächeren) Frau hat sich kurz umgekehrt, und dann hat sie sich in ihr Schicksal ergeben müssen. Das Scheinwesen der Macht (in der Ohnmacht, die sich umkehrt) hat die eigene Bedürftigkeit (nach dem für immer verlorenen Kind) ad absurdum geführt bzw. wurde die Bedürftigkeit durch die Gewalt des Mannes ins Absurde getrieben. Aus dem Tod eines Kindes ist etwas geboren, eine unbedingte Ohnmacht, die an den Antichrist abgegeben wurde (die Macht steht ja nur Gott zu), was gar nicht nötig war, denn er hatte sie ja ohnedies, die Macht, welche die Ohnmacht ist als die Mittelmäßigkeit aller Menschen. Die Frau, als der Natur näheres Wesen, das deshalb auch blutig bekämpft wurde als das Unheimliche schlechthin und immer noch bekämpft wird, ist der Willkür nicht mächtig, die zur Macht gehört (ihre Gewalt gegen den Mann, der durchs Bein getriebene Schleifstein, der die Werkzeuge alle schleifen soll, den Mühlstein, den Menschen füreinander sind, und zwar am Hals, sie haben einander gegenseitig am Hals, ist paradoxerweise eine «zivilisierte» Gewalt, weil sie Abstraktion und Interpretation im freudianischen Sinn zuläßt, während das Erwürgen der Frau durch den Mann kreatürliche Gewalt ist, eben Notwehr (macht kaputt, was euch kaputtmacht, bzw. wird man nur so einen Mühlstein am Hals wieder los) also, könnte man sagen: der Natur näher, einfacher, direkter, denn der Mann hat es nicht einmal nötig, in seiner Gewaltausübung zu sublimieren. Die Gewalt ist er, er ist die Gewalt. Die Frau kann die Schöpfung nicht «umdrehen», aber wenn der Antichrist die Welt geschaffen hat, so wäre sie umgekehrt ja richtig. Die Mutter hat dem Sohn, als er noch am Leben war, offenbar immer die Schuhe verkehrt angezogen, den linken an den rechten Fuß und und den rechten Schuh an den linken Fuß, die Deformation der Füße kommt bei der Autopsie heraus, der Mann/Vater hat den Befund schriftlich in einem Briefumschlag – auch die Füße des Sohnes wurden also schon mißhandelt, eigentlich: geradegerichtet – die Mutter wollte die Schöpfung noch herumreißen, wenn nötig auch auf Kosten des Sohnes. Jetzt erst sieht der Mann auf alten Fotos, daß das Kind die Schuhe an den «falschen» Füßen trägt, obwohl die Füße schon richtig wären, nur die Schuhe sind es eben nicht, die Zivilisation paßt nicht auf die Natur, den Schuh soll sich anziehn, wer will, nur eine Hexe kann es umkehren (heilen). Die Frau MUSS sublimieren, aber sie kann es nicht, laut Freud, der angeblich tot ist. Ihr Über-Ich ist zu schwach dazu, und wozu braucht sie überhaupt ein Über-Ich? Sie braucht es nicht. Sie kann es gar nicht ausbilden. Und wenn sie es sich doch anmaßt, wird sie bestraft, und als der Mann nun in die Zivilisation zurück «ab»-steigt, kommt ihm ein unübersehbares Heer, nein, nicht Heer, sie sind einfach da, gesichtslos, einfach Gestalten, Scharen von Frauen entgegen. Die toten Frauen der Jahrhunderte. Seine hat er, nachdem er sie getötet hat, verbrannt. Die Hexe ist tot. Die Schiffe, die uns alle einmal getragen haben, sind hinter uns verbrannt worden.

 

Antichrist

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