Chinese Capitalism Wang Bing, einer der radikalsten Dokumentarfilmemacher der Gegenwart, beschäftigt sich in seinen vielstündigen Arbeiten mit dem Erbe der Kulturrevolution und der ökonomischen und sozialen Modernisierung Chinas. Ein Werkportrait
«Am 14. Juli 1967 zerschmetterte der Konterrevolutionär Chen Tiande seinen Schädel an einer Ziegelmauer. Sein Suizid beweist seine Schuld.» Ein gleichgültiger Parteischerge spricht dieses zynische Protokoll im Namen einer politischen Kampagne, die als «Große proletarische Kulturrevolution» in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Eingeständnisse zu erzwingen oder nachträglich zu fabrizieren gehörte zu den staatsterroristischen Routinen in Maos Volksrepublik.
Von den atmosphärischen Details dieser unmenschlichen Verhör-Praxis handelt Wang Bings vierzehnminütiges Dokudrama Brutality Factory, das den historischen Terror in ein zeitgenössisches und wie halluziniert wirkendes theatrales Arrangement überführt. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich weigert, ihren bereits ermordeten Ehemann zu denunzieren. Entstanden ist diese skizzenhafte und doch eindringliche Auftragsarbeit im Rahmen des Omnibusfilms The State of the World (O Estado do Mundo, 2007), der von der in Lissabon ansässigen Gulbenkian Foundation finanziert wurde und aus der notorischen Mittelmäßigkeit solcher Projekte auch dank der sehenswerten Beiträge von Pedro Costa (Tarrafal) und Apichatpong Weerasethakul (Luminous People) herausragt.
Die Spielfilm-Miniatur Brutality Factory erscheint wie ein Kondensat jener beiden monumentalen dokumentarischen Arbeiten, die den 1967 in Shanxi geborenen Wang Bing zu einem paradigmatischen Regisseur der vergangenen Jahre avancieren ließen: Tiexi District: West of the Tracks (2003) und Fengming, a Chinese Memoir (2007), zwei Filme, die in gewisser Weise die gesamte Geschichte der Volksrepublik China enthalten.
Arbeiter verlassen die Fabrik
Die heruntergewirtschaftete Fabrikhalle, die in Brutality Factory zur Bühne einer Rückblende in die Zeit der Kulturrevolution (1966-1976) wird, gehört zum visuellen Register von Tiexi District, Wangs neunstündigem Film über die Demontage der Schwerindustrie in der nordöstlich von Beijing gelegenen Provinzhauptstadt Shengyang. Mit einer geliehenen Consumer Digitalkamera hatte der Regisseur bei seinen ausgedehnten Streifzügen durch das unüberschaubare Revier von 1999 bis 2001 über dreihundert Stunden Material produziert.
Tiexi District ist nicht nur aufgrund seiner schieren Dauer ein singuläres Werk, sondern auch, weil Wang eine filmische (Montage-)Form findet, von einem epochalen ökonomischen und sozialen Umwälzungsprozess zu erzählen, ohne die Individuen, denen dieser widerfährt, aus den Augen zu verlieren. Vor allem anderen ist Tiexi District ein emphatisches Porträt der chinesischen Arbeiterklasse, die bis zum Beginn der Ära Deng Xiaopings staatspropagandistisch heroisiert und dann im Zuge des forcierten Eintritts der Volksrepublik in den Weltmarkt rücksichtslos der Pauperisierung ausgeliefert wurde.
Wie ein Archäologe läuft Wang Bing durch die Ruinen der ersten industriellen Revolution Chinas, die selbst «Palimpseste der Weltgeschichte» (Jie Lie) sind: Die Produktionsstätten des Tiexi-Viertels wurden 1934 von den Japanern zur Versorgung ihrer Imperialarmee gegründet, dann 1949 massiv erweitert durch vormals deutsche Anlagen, die nach dem Zweiten Weltkrieg über die Sowjetunion ihren Weg in die neu gegründete Volksrepublik fanden. In der Gegenwart des Films werden sie einem letzten Recycling zugeführt: der Deinstallation folgt die Einschmelzung.
Wie kein anderer Film zeigt Tiexi District, mit welcher Brutalität die beschleunigte Modernisierung Chinas Zonen der Exklusion und «überflüssige» Menschen produziert. In langen Zugfahrten durch das verschneite Revier, in einsamen Gängen durch die größtenteils verlassenen Fabrikhallen, Stahlhütten, Kupfer- und Zinkgießereien hält Tiexi District den historischen Moment fest, in dem eine ganze Produktionsweise anachronistisch wird.
Ausdauernd beobachtet der Film den alltäglichen Überlebenskampf der wenigen Zurückgebliebenen, die hier und da noch einen Hochofen in Betrieb halten, ohne Schutzkleidung giftige Materialien verarbeiten oder erschöpft in klaustrophobischen Pausen- und Waschräumen auf eine Erholung warten, die den von Krankheit und Hunger gezeichneten Körpern, die wie ferngesteuert den Arbeitsroutinen einer auslaufenden Form der Produktivität nachgehen, nicht mehr vergönnt ist. Die Fabriken erodieren, die Physis der Staatsunternehmen löst sich auf, die Ausbeutung geht weiter. Es ist ein apokalyptisch anmutendes Szenario. In den Industrieruinen harren die Arbeiter jener Privatisierung, von der kurze Zeit später andere profitieren sollten: 2003, zwei Jahre nach Drehschluss, wurde Shengyang offiziell zu einer «prioritären Entwicklungszone» erklärt, die den vormaligen rust belt in atemberaubender Geschwindigkeit in ein Schaufenster für die chinesischen Wachstumsambitionen verwandelte.
Jahrhundertzeugin
Deutlicher noch steht Brutality Factory mit Wangs zweitem Film in Verbindung, der eine zu Tiexi District diametral entgegensetzte, minimalistische Form wählt. Fengming, a Chinese Memoir spielt bis auf die ersten beiden Minuten ausschließlich in der Privatwohnung von He Fengming, einer ehemaligen Journalistin, die ihre durch politische Verfolgung, mehrfache Internierung und Verlusterfahrungen geprägte Lebensgeschichte erzählt. Unbewegt, in wenigen Einstellungen und quasi in Echtzeit nimmt die Kamera diese fließende mündliche Überlieferung auf. Wang Bing unterbricht die biografische Rede nur einmal, als er He Fengming mit dem Hinweis auf die eingetretene Dunkelheit bittet, das Wohnzimmerlicht anzudrehen.
Von der Gründung der Volksrepublik bis in die Gegenwart reicht He Fengmings Erzählung. Dabei entsteht das Bild einer Intellektuellen, die die Revolutionsideale der Anfangsjahre zutiefst verinnerlicht hatte und umso ungläubiger und hilfloser war, als sie und ihr Mann Wang Jingchao (beide arbeiteten für die Gansu Daily) 1957 in der Folge der Hundert-Blumen-Bewegung als Rechtsabweichler identifiziert und zur «Umerziehung» für Jahre in getrennten Arbeitslagern interniert wurden – ein Schicksal, das sich nach einer zwischenzeitlichen Entlassung während der Kulturrevolution mit gleicher Härte wiederholen sollte, bevor dann Anfang der 90er Jahre die offizielle «Rehabilitierung» He Fengmings erfolgte. Neben den übergeordneten politischen Linien der Geschichte der Volksrepublik, dem Großen Sprung und dem Großen Hunger, enthält He Fengmings Bericht in den Nebensätzen auch eine große Liebesgeschichte, die in einem entsetzlich tragischen Wettlauf mit der Zeit mündet, den die Ehefrau nicht gewinnt.
Wie Tiexi District handelt auch Fengming vom Überleben, von einer geschichtlichen Erfahrung, die dem Einzelnen unversehens zustößt. Während Tiexi District die Geschichte in langen Plansequenzen aus dem Raum herausliest – einem Raum der die Individuen überwältigt und zum Schweigen bringt – spielt Fengming in einem Raum, der aus der Geschichte gefallen scheint. Wie ein Geist, der aus einem Grab heraus spricht, sei ihm He Fengming vorgekommen, sagt Wang Bing und meint damit wohl vor allem, dass seine Zeugin in der Vergangenheit lebt, einer Vergangenheit, die sich nicht mehr ändern lässt. Und dennoch ist Fengming auch ein Film über die Kraft der Sprache, den heilsamen Aspekt des Erzählenkönnens, die Macht des Zeugnisses als Geste des Widerstands.
Gebrauch der Welt
Nach Brutality Factory, der sich als Re-enactment einer Episode aus He Fengmings Leben begreifen lässt, verlagerte sich Wangs Interesse wieder Richtung Ökonomie, seinem Kernsujet. In zwei aktuellen Arbeiten befasst er sich mit der materiellen Basis der chinesischen Modernisierung: dem gigantischen Rohstoff- und Energiebedarf, der zunehmend auch die Geopolitik des Landes bestimmt.
Neben Crude Oil (2008), einem vierzehnstündigen Film über den Arbeitsalltag auf Ölfeldern in der Wüste Gobi und in der Region Qing Hui, inszenierte Wang Bing, der während der kräftezehrenden Dreharbeiten schwer erkrankte, noch einen kürzeren Film, der die LKW-Strasse, die die Kohle-Minen der Nordprovinzen Shanxi und Hebei mit der Hafenstadt Tianjin verbindet, zum Ausgangspunkt nimmt: Coal Money (2009). Während Crude Oil von Anfang an als Installation konzipiert war und bislang auch nur galeriegemäß ästhetisiert, als Loop ohne Untertitel, aufgeführt wurde (im Oktober ist die Arbeit im Rahmen des Underdox-Festivals in München zu sehen), erschien Coal Money direkt in der von Stéphane Breton kuratierten Reihe L’usage du monde auf DVD (ein Medium, dessen individuelle Zeitökonomie gewaltige Arbeiten wie Tiexi District überhaupt erst adäquat rezipierbar macht).
Wie in den anderen Filmen von Wang Bing, verzichten auch die beiden neueren Arbeiten auf jede konventionelle Form der Kommentierung. Es wird einfach etwas beobachtet: ein Raum, ein Gespräch, eine Handlung. Der Kontext soll sich induktiv erschließen, aus dem Material. Kunstlos wirkt Wangs Kino dennoch nicht, obwohl es sich bis zur Unsichtbarkeit seiner formalen Eigenschaften zurücknimmt. Unmittelbarkeit und eine Art Übermacht des Faktischen (so ist es und nicht anders) sind der dazugehörige ästhetische Effekt: Eine Fabrik rottet vor sich hin, eine Frau spricht von ihrem Leben, ein Mann fährt einen LKW.
Paradigmatisch markieren Wangs Arbeiten eine Autorenposition, die aus der digitalen Individualisierung der Filmproduktion nicht die Konsequenz zieht, subjektivere Filme zu machen. Im Gegenteil realisiert sich hier eher eine radikale Idee dokumentarischer Objektivität: die Dauer, Dimension, Form eines Films ergibt sich aus den Gegenständen und Zusammenhängen, die es zu erfassen gilt. Wenn Digitalisierung also zunächst Deformatierung bedeutet (produktionspragmatisch, aber auch ästhetisch), stellt sich für einen «digitalen» Autor heute eher die Frage, wann er aufhört zu filmen, wie er das Material auswählt, montiert, kommunikativ öffnet. Der rund einstündige Film Coal Money ist ein gutes Beispiel dafür, dass es Wang nicht per se um Langzeitbeobachtungen, rekordverdächtige Filmlängen und insistierendes Dokumentieren als Selbstzweck geht. Sein Kino hat im Grunde auch etwas Journalistisches, ist durchaus an Vermittlung interessiert.
Coal Money gibt einen prägnanten Einblick in die gegenwärtige Realität des «sozialistischen Kapitalismus», zeigt Aspekte seines Funktionierens auf der untersten ökonomischen Ebene. Die regionale Rückführung planwirtschaftlicher Kontrollen und die Wiederbelebung eines Privatsektors mit Eigentumsrechten und Eigeninitiative, haben nicht nur zu enormen Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung geführt, sondern auf der lokalen Ebene auch zu fast regellosen Marktpraktiken.
In Coal Money ist der Staat nicht nur als dirigistischer, sondern auch als ordnungspolitischer Faktor fast völlig abwesend. Die LKW-Fahrer sind zugleich Händler, auf sich selbst gestellte, übermüdete Entrepreneure, die nach langen nächtlichen Fahrten auf staubigen Strassen in endlosen Preisverhandlungen landen. Deals finden auf Zuruf statt, nie fällt ein privates Wort, jeder beutet jeden aus, so gut es geht. Das Kohlegeld zirkuliert durch alle Bilder dieses Films und es scheint, als komme es nie zu einem Stillstand, zu einem gesicherten Moment des Profits. Coal Money entwirft ein düsteres Bild der Privatisierung, als wäre sie etwas, das alle Transaktionen unter unnachgiebigen Druck setzt, ohne faktischen Wohlstand zu schaffen. Ein endloser Verteilungskonflikt, der Gewinner hat, die nicht ins Bild finden, Profiteure, die man nicht sieht
Bisher auf DVD erschienen sind Tiexi District: West of the Tracks (bei mk2, mit franz. Untertiteln und ausführlichem Bonusmaterial) und Coal Money (bei Les Films d’Ici). Brutality Factory kann auf verschiedenen Seiten im Netz als Stream angesehen werden. Coal Money und Crude Oil werden Anfang Oktober auf dem verdienstvollen Münchner Underdox-Festival zu sehen sein