Village Voice Das Village Documentary Project verwandelt Bauern in Filmemacher und verlegt die Utopie der digitalen Technologie in die soziale Praxis
Ein großes Haus aus rotem Backstein mit eingeschlagenen Frontscheiben. Wang Wei filmt dieses Haus und spricht einen ruhig, aber bestimmt vorgetragenen Voice-Over-Kommentar. Das Haus ist das medizinische Zentrum seines Dorfes, aber zur Zeit steht es leer. Die Fenster gingen während der SARS-Epidemie zu Bruch, niemand fühlte sich zuständig, sie zu reparieren. Wang Wei filmt in seinem kurzen Film Allocation of Land neben diesem noch einige weitere defekte und verlassene Gebäude, die Zeugnis ablegen vom katastrophalen Zustand der dörflichen Infrastruktur. Jede Einstellung ist in diesem Film die direkte politische Geste eines Mannes, der ein Medium über seinen sozialen Gebrauchswert für sich entdeckt und (neu) definiert.
Allocation of Land ist Teil eines Omnibusfilms der besonderen Art. Dieser Omnibusfilm, betitelt Village Documentary Project, entstand im Rahmen des «China Villagers Documentary Project», das von China und der EU gemeinsam finanziert und vom Dokumentarfilmregisseur Wu Wenguang (einem der Pioniere des unabhängigen chinesischen Dokumentarfilms, u. a. Bumming in Beijing, 1990) koordiniert wird. Erklärtes Ziel der 1995 ins Leben gerufenen Unternehmung ist es, die Fortschritte und Schwierigkeiten der Demokratisierungsversuche in chinesischen Dörfern aus der Sicht der Betroffenen zu dokumentieren. Nach einer landesweiten Ausschreibung beschenkten die Organisatoren des generalstabsmäßig geplanten Projekts zehn Dorfbewohner von jeweils unterschiedlicher geografischer Herkunft (Tibet bis zum Umland von Beijing) und Alter (24 bis 59) mit digitalen Videokameras, einem Stativ und jeweils zehn bespielbaren digitalen Videotapes. Die Amateurfilmer – die in der Mehrzahl vorher noch nie eine Kamera in der Hand gehalten hatten – wurden vor, während und nach dem Dreh ihres Erstlingswerkes von professionellen Helfern unterstützt.
Bauern und Basisdemokratie
Seit Jahren schon befindet sich China in einem basisdemokratischen Experiment von gigantischen Ausmaßen. Die Wurzeln dieses Experiments reichen bis in die frühen 80er Jahre zurück. Damals wurde im bevölkerungsreichsten Land der Erde das so genannte Kommunensystem, die vollständig kollektivierte Landwirtschaft, durch eine marktwirtschaftlicher orientierte Landnutzung ersetzt. Die ökonomische Verantwortung verschob sich vom Kollektiv der Kommune zur einzelnen Familie. Die politische Macht aber blieb in den Händen der Funktionäre der lokalen Niederlassungen der Kommunistischen Partei Chinas. Da die im neuen System essentielle (und nicht zufällig bereits im Titel von Wang Weis Kurzfilm präsente) Aufgabe der Verteilung des einst gemeinschaftlich bewirtschafteten Landes von diesen zentral berufenen Funktionären übernommen wurde, entstand ein System, das in erster Linie auf Korruption gründet. Erst in den frühen 90er Jahren setzten Versuche ein, die chinesische Bauernschaft in das potentiell größte Elektorat der Welt zu verwandeln und dadurch die lokalen Verwaltungen gegenüber der Bevölkerung verantwortlich zu machen. Seither wird in immer mehr Dörfern die Verwaltung direkt gewählt. Die Probleme, die dabei entstehen, beschränken sich nicht nur auf die prinzipielle Unvereinbarkeit des neuen Systems mit dem absoluten Demokratiedefizit auf nationaler Ebene.
In vielen der zehn kurzen Filme, aus denen Village Documentary Project besteht, spielen diese demokratischen Strukturen selbst nur eine Nebenrolle. Wenn doch einmal der Wahlakt in den Mittelpunkt rückt, wie im ersten, vom 59 Jahre alten Nong Ke inszenierten Segment A Welfare Council, wird schon im filmischen Zugriff deutlich, dass sich die Demokratie auf dem chinesischen Land grundlegend anders institutionalisiert als in europäischen Industrieländern: Nong Ke positioniert die Kamera hinter der Urne und zeichnet das Stimmverhalten jedes einzelnen Wählers direkt auf. Die anderen Beiträge zeigen zum Beispiel Auseinandersetzungen um einen Steinbruch, der unter zweifelhaften Umständen den Besitzer gewechselt hat (The Quarry) oder sie beschäftigen sich mit dem Wahlverhalten von Wanderarbeitern, die in den Städten arbeiten, um ihre im Dorf verbliebenen Familienangehörigen finanziell zu unterstützen (Did You Go Back For the Election?). Shao Yuzhen, eine 58-jährige Hausfrau, benennt ihren umwerfenden Beitrag schlicht: I Film My Village. Und genau so ist es: Shao Yuzhen filmt ihre Familie und das Land, das sie bebaut, sie filmt die Nachbarn und gerät dabei zufällig in einen wüsten Streit.
Eine Perspektive für das digitale Kino
Das «China Villagers Documentary Project» war mit dem 2006 fertiggestellten Omnibusfilm noch nicht beendet. Im gleichen Jahr entstand Seen and Heard, ein sehr interessanter Dokumentarfilm über die zehn Dokumentarfilmer. Und immerhin vier der zehn «village filmmakers» sind ihrer neu entdeckten Berufung denn auch treu geblieben. Wang Wei, Shao Yuzhen und zwei weitere Bauern haben, ohne deswegen an ihrem Lebensstil viel zu verändern, den Sprung vom Kurz- zum Langfilm gewagt. Insgesamt acht weitere abendfüllende Dokumentarfilme sind in den letzten Jahren im Rahmen des Projekts entstanden: jeweils zweimal My Village in 2006 und My Village in 2007. Eine Perspektive fürs digitale Kino: das Leben bleibt das Leben, die Filme entstehen nebenbei.
Die explosionsartige Vermehrung der Bilder als die vielleicht unmittelbarste Auswirkung der Digitalisierung hat die chinesische Provinz erreicht. In den My Village-Filmen erst zeigt sich das eigentliche Potential des Projekts, weil es sich in ihnen von seinem unmittelbaren ideologischen Einsatz zu emanzipieren vermag. Insbesondere Wang Wei, dem artikuliertesten und reflektiertesten der Dorffilmer, sind zwei beeindruckende dokumentarische Arbeiten gelungen. Seine Langfilme haben den intervenierenden Gestus von Allocation of Land beibehalten, kommunizieren aber gleichzeitig das Wissen des Regisseurs um dessen eng umgrenzte Wirkungsmacht angesichts der realen Machtverhältnisse. Gleichzeitig öffnen sich die Filme hin auf das komplexe soziale und historische Feld, in das die neu erschaffenen demokratischen Strukturen eingebettet sind und ohne das man nichts Sinnvolles über sie aussagen kann. Insbesondere über die verbitterten Erzählungen und traumatischen Erinnerungen der ältesten Bewohner seines Dorfes sucht Wang Wei einen Zugang zu den Problemen der Gegenwart.
Ganz nebenbei machen diese Filme ein weiteres Mal klar, dass das Digitale wie jede andere Technik vor allem anderen eine soziale Praxis darstellt. Und dass Filme wie Wangs My Village in 2007, die das Verhältnis von Ästhetik und Sozialem neu justieren, auch in ästhetischer Hinsicht interessanter sind als solche, die das Digitale vorrangig als Technik interessiert.