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Die letzte Expansion Die Geschichte des britischen Experimentalfilms als Flashmovie-Archiv: luxonline.org.uk

Von Jakob Hesler

Sie springen einen nicht mehr an, die bewegten Bilder, sie stechen und schreien nicht mehr. Allenfalls eine Tröpfchenfolter bewirkt der im Netz gestaute Bildchenfluss. Wie vom Fernsehen und Video vorweggenommen, geht das Kino im Zeitalter des Internet nun seinem Ende zu. Durch universale Verfügbarkeit verändert sich auch die Rezeption. Mit Youtube als Währung und der Zahl der Aufrufe als ihrer Einheit ist die Herrschaft der Quote vollendet, Netzdemokratie als brutale Aufmerksamkeitsökonomie entlarvt. Und «demokratisches» Peer-to-Peer weicht unidirektionalem Streaming à la kino.to.

Doch dieser Abgesang ist einseitig. Er übersieht die neuen diskursiven Möglichkeiten im Netz: Die Protagonisten des Post-Kinos müssen ihr Schicksal nur in die Hand nehmen und analytische Pfade durchs Archiv schlagen. So wie die Webseite luxonline.org.uk, die einen reichen und reich strukturierten Fundus zum britischen Experimentalfilm vorhält; oder zu «artists’ film and video», wie es ästhetikpolitisch korrekt heißt. Das Film-, Bild- und Textmaterial ist kein bloßes Konvolut, sondern kuratiert: ein portables Museum, eine Duchamps’sche Schachtel im Koffer, die sich aber gleich fünf Dutzend Künstlern widmet, in Biografien, Filmclips, Filmographien und -beschreibungen, Fotos und Pressespiegeln. Essays, thematische Rundgänge und eine Timeline der Filmgeschichte aus britischer Sicht schaffen Querverbindungen. Das Betrachten von Filmkunst als Flashmovie ist nun zwar eine Zumutung. Doch behandelt Luxonline, anders als Seiten wie tank.tv, die reduzierte Onlineversion nicht als authentische Instanz der Werke, sondern als Illustration: Luxonline ist ein museumspädagogischer Gegenentwurf zum freien Flottieren der Bilder, ein dynamischer historischer Verknüpfungsversuch.

Psychedelische Transgression, serielle Stringenz

Zugleich steht die Seite selbst in dieser Historie. Denn Luxonline ist der web-publizistische Arm einer Organisation mit filmgeschichtlicher Tradition, dem Londoner LUX, einer «internationalen Kunstagentur», einem Archiv (und Europas größtem Verleih) für Experimentalfilm, einem kreativen Zentrum für Filmemacher und -seher. LUX entstand 1997 aus (unter anderen) der Londoner Filmmakers’ Co-Operative (Co-Op), jenem Labor des strukturalen und materialistischen Films, dessen Mitglieder Grundlagenforschung zwischen psychedelischer Transgression und serieller Stringenz betrieben. 1966 wurde die Co-Op u. a. von US-Exilant Stephen Dwoskin nach dem Vorbild der von Jonas Mekas & Co. initiierten New Yorker Film Co-Op gegründet. In Luxonline schreibt sich diese Bewegung in die Geschichte ein. Und in der digitalen Form dieser Einschreibung verwirklicht sich symbolisch die noch andauernde technikgeschichtliche Umwälzung, das Ende des Kinos, noch einmal. Daher hat Luxonline auch etwas Trauriges. Es ist ein Denkmal. An sich stellt die Seite zwar ebenso Künstler aus anderen Zusammenhängen dar, von der Orkney-Poetin Margaret Tait bis zum Essayfilmer Patrick Keiller. Trotzdem ist der rote unter den vielen Fäden dieses Geflechts die Co-Op. Zum stillschweigend monumentalen Charakter passt das Webdesign nach der veralteten Logik einer CD-ROM, eines intern verlinkten, aber nach außen abgekapselten, proprietären Wissenspools. In schöner, rettungslos altmodischer Demut vor der Aura fungiert die Seite so als Firewall, die die im Archiv gelagerten Originale vor dem ontologischen Mausfraß der Virtualität schützt.

Die Analysen der Co-Op waren dabei selbst ästhetische Vorboten der Auflösung des Kinos, erfolgten nicht zufällig zum Zeitpunkt von deren Beginn. Dass sie aus seiner Zersetzung Erkenntnis und ästhetische Dynamik gewannen, ist ihr wesentlicher Zug. Der Strukturalismus der Co-Op ist ein Dekonstruktivismus, wie Peter Gidal schreibt. Material statt Repräsentation, «Konstrukt» statt Inhalt, Film als Film soll den Fetischismus des Realen durchbrechen. Autoreflexiv war der Experimentalfilm zwar schon immer. Aber die Co-Op radikalisierte das; weniger persönlich, poppig oder romantisch als die US-Pioniere. Schon die Ausdünnung des Inhalts erzielt solche Effekte. In Clouds (1969) zeigt Gidal einen Himmel, von dem wenig mehr als graue Silberformationen zu sehen sind. Sie wirken dinglicher als das Flugzeug, das durch diesen Himmel zieht: eine Entleerung der repräsentationalen Rhetorik. Zweckentfremdung von Labortechniken ist der nächste Schritt. Bekannt dafür ist Berlin Horse (1970) von Malcolm Le Grice, der ein Filmsegment durch wiederholtes Umkopieren und Farbeffekte verfremdet, in zunehmend unwirkliche grafische Zustände versetzt. Die erratische Schnittweise sprengt temporale Kontinuitäten. Dann wird der Bildrand unterwandert, indem die Perforation ins Bild kommt (Le Grices Little Dog for Roger, 1967), oder indem, andersherum, das Bild auf die Lichttonspur ausufert, wie die Letraset-Balken in Lis Rhodes’ Dresden Dynamo (1971) oder serielle photographische Strukturen bei Guy Sherwin: Zaunstäbe in Railings (1977), oder Schienen in Soundtrack (1977): eine Überhöhung des reflexiven Topos «Eisenbahn», der Bilder von Bewegung vor und in der Kamera, zu klingender Form.

Material – und Auraverlust

Bewegung hat die Co-Op auch in die Idee des Kinos selbst gebracht, mit dem damals erweiterten Kinobegriff: Expanded Cinema. Raumzeitliche Ausdehnung zieht zusätzliche Koordinatenachsen in die Filmwelt ein. Die Vorführung wird zur Performance. In diesem letzten Schritt aus dem Abbilden schwappt der Film in den Kinosaal über. In Take Measure (1973) zieht William Raban den Filmstreifen bis zur Leinwand und lässt ihn dann bei der Vorführung auf die Projektorspule laufen. Projiziert wird ein Meterzähler, der die Filmlänge und damit die des Saals angibt. Film wuchert nun in alle denkbaren Erfahrungsrichtungen, ins Soziale, Historische, wo er natürlich schon längst war, es aber wie der flinke Hase einmal vom Igel gezeigt bekommen musste. Rabans 2'45 (1972) ist eine temporale Feedbackschleife: Jede Projektion des (anfänglich leeren) Films wird gefilmt, das dient als Material der nächsten Vorführung. Einen biographische Riss im Jetzt zeigt dagegen Sherwins vielfach reflexiver Film Man with Mirror (1976), in dem Sherwin mit einer Platte vor dem Leib Drehungen vollführt. Bei der Vorführung steht der reale Sherwin im Projektionsstrahl und vollzieht dieselbe Bewegung mit derselben Platte, die mal Projektionsfläche für den (gefilmten) jungen Sherwin ist, mal den Blick auf den (real anwesenden) gealterten Sherwin freigibt, auf die Sterblichkeit.

Doch je expansiver das Kino, desto flüchtiger in Wahrheit der von Gidal beteuerte Dekonstruktivismus. Was in solchen Performances betrieben wurde und in ihrer musealen Wiederholung heute noch wird, ist ein höherer Fetischismus, nicht mehr des Abgebildeten, sondern des Bildträgers. Die Expansion stiftet Einheit zwischen Bild und Ton, zwischen Zelluloid und Saal: «I wanted to hear what railings sound like», sagt Guy Sherwin. Er sucht den Lichtton der Welt. Eine entschieden analoge Operation, eine Re-Auratisierung des Sichtbaren, ein neues totales Kino. Und das wird gerade durch die mangelhafte Reproduktion im Flashformat sichtbar, der jede Aura abgeht. Die Expansion des Kinos ins Internet führt den erweiterten Kinobegriff metaphorisch ad absurdum. Unendlich erweitert, leert sich das Kino. Seine struktural-materialistische Dekonstruktion war ein Beschwörungsversuch im Moment seines Sturzes.

Natürlich hat die Expansion der Filmkunst auch neue Türen aufgestoßen, in die Galerie. Nur ist damit das Kino endgültig verlassen. Die ontologischen Randgänge des Experimentalfilms nahmen seine Marketisierung als Videoinstallation vorweg. Sie ist nichts Schlechtes, aber etwas anderes. Die Entwicklung spiegelt sich übrigens im Schicksal des Ur-LUX, das 2001 pleite ging und sein Kino in Shoreditch schließen musste, wo Bars, Büros, Yuppies und … Galerien die Mieten trieben. Die Nachfolgeorganisation, Avantgarde der Gentrifizierung wider Willen, zog ins ruppigere Dalston. Man nennt es «das neue Shoreditch».

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