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Brasilianisches Barock Von der Ästhetik des Hungers zur Ästhetik des Traums: Glauber Rochas Hauptwerke in digitaler Rekonstruktion

Von Bert Rebhandl

© Acervo IMS / trigon film

 

Im Jahr 1966 wurde der Politiker José Sarney zum Gouverneur des brasilianischen Bundesstaates Maranhão gewählt. Er war ein Mann, der sich den Künsten nahe fühlte, und so kam es nicht überraschend, dass er seinen Freund Glauber Rocha zu einem Dokumentarfilm über seinen Amtsantritt einlud. Maranhão 66 kann man sich heute auf Youtube ansehen. Der Film dauert ungefähr so lang wie die Antrittsrede, aber während die Kamera noch über die Zuschauermassen schwenkt, lässt Glauber Rocha sie abschweifen, sie verlässt den Platz der Kundgebung und gelangt in Quartiere der Hauptstadt, in denen nur noch die Stimme zu hören ist, in die aber der politische Wille nicht reicht.

In der Bewegung von Maranhão 66 wird die politische Rhetorik schon zurückgenommen, bevor das Amt überhaupt noch angetreten worden ist. Die Menschen stehen gewissermaßen im leeren Raum, sie werden vom Diskurs nicht erreicht, und von den öffentlichen Leistungen erst recht nicht. Unter den Youtube-Clip hat ein Nutzer die Quintessenz des Films in die Gegenwart hinein verlängert: «40 anos depois … e nada mudou no Maranhão.» 40 Jahre sind seither vergangen, und nichts hat sich verbessert in Maranhão.

Verändert hat sich allerdings der Status von Glauber Rocha in Brasilien. Aus dem ungebärdigen Regisseur, der zugleich Avantgardist und Volkskünstler sein wollte, ist eine repräsentative Figur geworden, um deren Werk sich die Cinemateca Brasileira mit aufwendigen Rekonstruktionen bemüht. Glauber Rocha selbst hat nichts mehr davon, er starb 1981 in Rio de Janeiro. In Brasilien regierten zu diesem Zeitpunkt noch die Generäle, die 1964 in einem Staatsstreich die Macht übernommen hatten. Es ist das zentrale Datum des filmischen Schaffens von Glauber Rocha. Es zwang ihn, die Rolle der Intellektuellen neu zu überdenken, also auch seine eigene Rolle. Er tat dies in Terra em Transe, seinem zentralen Werk der Sechzigerjahre, in dem es eine Szene gibt, die direkt an Maranhão 66 anzuschließen scheint. Denn der Dichter Paulo Martins (Jardel Filho) gerät in den bewaffneten Kampf, weil er Bilder von der armen schwarzen Bevölkerung sieht – die Ikonografie der Sklaverei, die darin beschworen wird, lässt folgerichtig an einen Bürgerkrieg denken, der in Brasilien im Gange ist.

Paulo Martins taumelt zwischen den Parteien hin und her, er schlägt sich gegen seinen Mentor, den reaktionären Porfirio Diaz (Paulo Autran) auf die Seite des Populisten Vieira (José Lewgoy), sieht aber, dass das Volk durch keinen der beiden Politikertypen vertreten wird. Der fiktive Vieira hat in der Figur von José Sarney ein Vorbild, der ganze Film Terra em Transe ist allerdings stark kulturell überformt und hat bei der Kritik immer wieder zu ähnlichen Vokabeln geführt: «un opéra de baroque flamboyante», schrieb eine Zeitung nach der Premiere in Cannes 1968, «a baroque allegory of disenchantment» schreibt Robert Stam in Tropical Multiculturalism, dem noch immer besten Buch zum brasilianischen Kino dieser Ära. Barock wirkt dabei wie ein Hilfsbegriff für die Strategien von Glauber Rocha, der mit dem Wissen eines Modernisten auf die Volkskultur blickt und die Figuren zum Beispiel durch spezifische Musiken charakterisiert. Diaz, der einen Coup plant und sich nicht nur zum Diktator aufschwingt, sondern dies in einer Krönungstravestie auch noch mit einer zynischen Legitimität versieht, kann auf die europäische nationale Oper zurückgreifen (Verdi und sein brasilianischer Epigone Carlos Gomes). Vieira, der bevorzugt in der Menge badet, gehört in die Welt des Samba, während dem Poeten Paulo Martins die musikalischen Formen zugeordnet werden, die dem Stil des Films entsprechen – avancierter Jazz in Manier von Art Blakey und Kompositionen von Heitor Villa-Lobos, dem bedeutendsten brasilianischen Musiker des 20. Jahrhunderts (seine Bachianas brasileiras zählen zu den interessantesten kulturellen Hybridbildungen: eine Brasilianisierung der Musik von Bach).

Diner’s Club Catering

Auf der DVD von Terra em Transe, die seit einem Jahr im Programm der Schweizer trigon-film vorliegt, ist auch ein ausführlicher Dokumentarfilm über die Umstände der Entstehung enthalten, aus dem sehr gut hervorgeht, wie wichtig der Soundtrack für Glauber Rocha war. Er baute persönlich das Schlagzeug auf, das für eine wichtige Partyszene gebraucht wurde, und schuf mit der Montage und Vertonung erst recht eigentlich den Film. Die einprägsamen ersten Bilder von Terra em Transe können so auch als Metapher für die kulturelle Reise begriffen werden, die das Kino unternommen hat: Die Kamera fliegt über dem offenen Meer (nach Westen), bis sie die Küste eines Landes erreicht, das im Film «Eldorado» heißt. Die rituellen Gesänge, die dabei zu hören sind, entstammen dem afrodiasporischen Zusammenhang des candomblé. Sie treten dann aber in den Hintergrund, weil es vor allem um ein Machtdrama der kolonialen, patriarchalen weißen Männer geht, um die Manipulationen des Kapitals (verkörpert durch ein Konglomerat namens Explint) und um die prekäre Rolle der Presse, der auch Paulo Martins zugeordnet wird.

Aus dem Bonusmaterial geht auch sehr gut hervor, wie Glauber Rocha inszeniert hat: Hinter dem Kameramann, die linke Hand auf dessen Schulter, die rechte Hand den Weg durch die Menge bahnend, schrie er den Schauspielern die Anweisungen zum Teil fast ins Gesicht (der ganze Film wurde nachsynchronisiert). Unweigerlich kommt es bei so einer Edition, die der Etablierung eines nationalen Klassikers dient, auch zu kleinen Mythenbildungen: So erzählt zum Beispiel einer der Produzenten, dass damals Mitte der 60er Jahre die ersten Kreditkarten in Brasilien eingeführt wurden (Diner’s Club), wodurch die ganze Filmcrew es sich leisten konnte, fürstlich in Restaurants zu speisen (während es beispielsweise zu den Gründungserzählungen des Cinema Novo gehört, dass bei der Produktion von Rio, 40 graus von Nelson Pereira dos Santos Mitte der 50er Jahre auch das Filmteam Hunger litt). Wie die Kreditkartenrechnung später bezahlt wurde, danach wird in der Dokumentation auf der DVD Terra em Transe nicht gefragt.

Mit Ende des Jahres werden voraussichtlich die fünf Hauptwerke von Glauber Rocha in rekonstruierten und digital verbesserten Fassungen vorliegen: Barravento (1962, eine Auseinandersetzung mit messianischer Religiosität, die als Faszinosum und Gegenstand der Kritik das ganze Werk durchzieht), Deus o Diabo na Terra da Sol (1964) und O Dragão da Maldade contra o Santo Gueirrero aka Antonio das Mortes (1969), seine beiden Beiträge zur Mythologe der sozialen Banditen (Cangaçeiros), sowie sein letzter Film aus dem Jahr 1980: Idade de Terra (Das Alter der Erde), ein Welttheater, in dem das künstlerische Subjekt nicht mehr, wie noch in Terra em Transe, seinen Ort auf der politischen Szene suchen muss, sondern selbst zur Szene der global-kulturell-kapitalistischen Hegemoniekämpfe wird. So verdienstvoll vor allem die für November angekündigte Veröffentlichung von A Idade de Terra ist, bleiben danach doch noch deutliche Lücken, und nach dem, was aus der Website der Cinemateca Brasileira zu schließen ist (von der in diesem Fall alle weiteren Anbieter auf der Welt abhängen), sieht es auch nicht danach aus, als wäre mit deren Schließung in absehbarer Zeit zu rechnen.

Eine Ästhetik des Traums

Dabei gibt es allein zu Terra em Transe zwei verwandte Projekte aus den 60er Jahren, die ähnlich wie Maranhão 66 ein weniger «barockes» Bild der brasilianischen Situation unter der Militärherrschaft geben. Cancer wurde 1968 in Rio gedreht und 1972 fertiggestellt. Es handelt sich dabei um eine Art Regieübung in Form von Plansequenzen, die hauptsächlich das Team den Umgang mit Kamera und Ton unter extremen Bedingungen erproben lassen sollte. Das Ergebnis ist bestes «direct cinema» im Stadtguerillastil. Cabeças Cortadas (1970, der Titel bedeutet: «Abgeschnittene Köpfe») ist sogar eine direkte Fortsetzung von Terra em transe, eine Studie der Macht im Delirium, in Eldorado herrscht ein zweiter Diaz, der aber zunehmend die Kontrolle über sich und die Welt verliert. Glauber Rocha beschäftigte sich damals intensiv mit strukturalistischer Theorie und verfasste ein neues, zweites Manifest nach der Ästhetik des Hungers – eine Ästhetik des Traums. Cabeças Cortadas müsste eigentlich mit Terra em Transe gemeinsam veröffentlicht werden, aber der DVD-Markt gehorcht anderen Gesetzen als der Buchmarkt (wo von den wesentlichen Klassikern doch verbindliche, vollständige Ausgaben vorhanden sind), zudem bedürfte das Werk von Glauber Rocha ganz neuer Präsentationsformen, denn es besteht eben nicht nur aus den Filmen, sondern wurde begleitet von intensiver intellektueller Arbeit und war schon früh im Grunde multimedial. A Idade de Terra gibt davon einen Eindruck, wer mehr wissen will, muss den Zugang zu cinephilen Tauschbörsen im Netz suchen (wo zumindest in portugiesischer Originalfassung de facto alles von Glauber Rocha vorhanden ist) oder darauf hoffen, dass der Ehrgeiz der Cinemateca Brasileira nicht nur auf das unmittelbar Repräsentative zielt.

Der Politiker José Sarney, dessen Worte Glauber Rocha in Maranhão 66 ins Elend laufen ließ, wurde übrigens 1985 der zweite Präsident Brasiliens nach der Abdankung der Generäle. Er ist gegenwärtig der Präsident des brasilianischen Senats und musste erst vor wenigen Wochen von Staatspräsident «Lula» da Silva gegen den Vorwurf des Nepotismus und der Unterschlagung in Schutz genommen werden.

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