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Ein Reim auf die Kindheit «If you want – you can call it a home» – Bill Douglas’ Schottische Trilogie

Von Nikolaus Perneczky

Stephen Archibald in My Ain Folk (1973)

© BFI

 

Als Mamoun Hassan im Sommer 1971 zum interimistischen Produktionsleiter des British Film Institute (BFI) berufen wird, stapeln sich auf dem Schreibtisch seines Vorgängers die Fördermittelgesuche aufstrebender Filmemacher. Karge 5 000 Pfund stehen ihm zur Verfügung, doch Hassan zögert nicht, mehr als die Hälfte davon für den eigenwilligsten aller Vorschläge aufzuwenden. Das Drehbuch trägt den Titel «Jamie» und handelt von einer Kindheit im südöstlich von Edinburgh gelegenen Minenarbeiterdorf Newcraighall Anfang der 40er Jahre, einer Kindheit in erdrückender Armut und gesellschaftlicher Isolation. Die Besonderheit rührt weniger von der Geschichte selbst, als daher, wie der Autor – ein gewisser Bill Douglas, der davor als Schauspieler an Joan Littlewoods Theatre Workshop und später fürs Fernsehen in der Serie The Younger Generation hervorgetreten war – diese Geschichte erzählt.

Das Skript liest sich nicht wie ein konventionelles Drehbuch, kommt zur Gänze ohne filmtechnische Anweisungen und dramaturgische Erläuterungen aus. Etliche Szenen sind um einen profanen Gegenstand, wie eine Tasse oder einen Lehnstuhl, gruppiert, manche dieser Gegenstände entwickeln im Fortgang der Handlung eine unheimliche Insistenz, hallen wie gegenständliche Echos durch den Bildraum. Außerhalb dieses Konkreten gibt es nichts – keine Hintergrundgeschichten, die den Darstellern Anhalt böten, kein erklärendes Beiwerk, das noch «filmisch» aufzulösen wäre. Zwischen zwei Absätzen / Einstellungen indes tun sich häufig große – räumliche, zeitliche, handlungslogische – Lücken auf, die auch später keine Schließung erfahren.

Noch bevor Mamoun Hassan bei der letzten Seite angelangt war, wusste er, dass Douglas Schwierigkeiten haben würde, seine Vision zu realisieren. Zum zeitgenössischen Politisierungsschub, der spätestens Anfang der 70er Jahre auch von der britischen Filmbranche Besitz ergriffen hatte, verhielt sich sein Entwurf geradezu antithetisch: dem poetischen näher als dem sozialen Realismus, so sehr ins Detail verstrickt, dass das große Ganze der Gesellschaft selten bis gar nicht in den Blick rückte, keine Maßnahme zur Bewusstseinsbildung, keine politische Intervention und, was ihm von der Linken den Vorwurf unzulässiger Ästhetisierung einbringen sollte: schön, wo in Wirklichkeit wenig Schönheit war.

Materielle Not, Enge, Eifersucht

Dass Bill Douglas nach seinem Abschluss an der London Film School (LFS) nicht das Schicksal eines artiste maudit ereilte; dass wir heute auf ein, wenngleich schmales, OEuvre von drei Kurz- und einem Langspielfilm zurückblicken können, ist seinen zahlreichen Verehrern und Förderern zu verdanken. Zum Beispiel Mamoun Hassan, der Douglas, um dessen finanzielles Auskommen längerfristig abzusichern, nahelegte, den ursprünglich als Einzelprojekt angelegten Film in Anlehnung an Satyajit Rays Apu-Trilogie auf drei Etappen auszuweiten, die das BFI, handelte es sich doch um einen geschlossenen Zyklus, sämtlich bezuschussen würde. Oder der Regisseur Lindsay Anderson (If …, O Lucky Man!, Look Back in Anger), der Douglas beim Abfassen des Drehbuchs zur Seite stand und als erster erriet, dass die Figur des Jamie ein stand in des Autors war. Wollte Douglas aus den autobiografischen Anleihen zunächst ein Geheimnis machen, ließ er sich von Anderson schließlich überreden, den Erfahrungscharakter seiner Erzählung offenzulegen, ja herauszukehren, wie das besitzanzeigende Fürwort im finalen Titel suggeriert: meine Kindheit, My Childhood.

In diesem ersten Teil der Trilogie schildert Douglas Jamies Zusammenleben mit seinem Halbbruder und seiner Großmutter in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs. Sein Vater, der nicht willens ist, seiner Verantwortung nachzukommen, lebt mit seiner zweiten Familie in einem Haus auf der gegenüber-liegenden Straßenseite. Nach dem Tod der Großmutter am Ende von My Childhood flüchtet sich Jamie zur Familie des Vaters. Der zweite Teil, My Ain Folk, zeigt Jamie in den Fängen seiner Großmutter väterlicherseits, die sich wie ein böses Zerrbild der verstorbenen ausnimmt.

Auch diese Familie steht bald vor dem Aus: Materielle Not, Enge und Eifersucht münden in die vollständige Zersetzung ihres Zusammenhalts, Jamie kommt in ein Heim. Der dritte und letzte Teil, My Way Home, ist Aufhebung und Apotheose der Trilogie. Jamie landet auf der Straße, trägt sich mit Selbstmordgedanken und findet zuletzt doch einen Ausweg. Er heuert bei der Royal Air Force an und wird in eine Militärbasis am Suezkanal versetzt. Dort lernt er Robert kennen, einen aufgeschlossenen und wissbegierigen Vertreter der englischen Mittelklasse. Über ihn kommt er mit Kunst, Musik und Literatur in Berührung und findet zu sich selbst. Als Jamie abgemustert werden soll, gibt ihm Robert seine Heimatadresse: «If you like you can stay. If you want – you can call it a home.»

Quantenphysik der Kindheit

In einem Interview, das Douglas 1980 dem britischen Fernsehen gab, beschrieb er die Beschäftigung mit seiner Biografie als obsessives Abarbeiten an der eigenen Herkunft. Von Crewmitgliedern ist überliefert, mit welchem Ernst er jede Szene einrichtete, welche Genauigkeiten er bei der Wiederherstellung einer erinnerten Situation walten ließ. Die Korrespondenzen mit seiner Vita sind zahlreich und betreffen nicht nur den faktischen Gehalt dieses oder jenes Handlungselements. Douglas’ Ernst und Genauigkeit zielen nicht auf eine Nachahmung des so Gewesenen, sondern auf eine Neuschöpfung seiner Kindheit als Erinnertes. Um den originären und im britischen Kino solitären Stil zu bezeichnen, den er zu diesem Zweck entwickelte, verwiesen Filmkritiker auf so disparate filmhistorische Einflüsse wie die sowjetische Avantgarde oder den italienischen Neorealismus. Auch Douglas’ notorische Sammelwut, die den Grundstock zu einer der größten Sammlungen von Büchern, Drucken, Artefakten und anderen Paraphernalia zur Vor– und Frühgeschichte des Kinos legte, befeuerte solche Versuche einer genealogischen Herleitung.

Mamoun Hassan fand eine Metapher, die Douglas’ Idiosynkrasie als solche, also ohne Rekurs auf Filmgeschichte, anspricht: «If classical narrative is like light in Newtonian physics, in that it travels in a straight unbroken line, then Bill’s narrative is akin to quantum physics, where light moves in discrete packages of energy.» Er bringt auf den Punkt, worin sich My Childhood, My Ain Folk und My Way Home von anderen biografischen Texten, kinematografischen wie literarischen, unterscheiden. Zwar wird die zeitliche Linearität des Geschehens nie angetastet. Aber die so etablierte Linie verdichtet sich nie, oder fast nie, zu einem dramaturgischen Bogen. Nicht einmal der Minimalforderung kausaler Verkettung gibt Douglas’ kompromisslose Montage nach, und dass die einzelnen Szenen immerhin einer chronologischen Ordnung folgen, ist über weite Strecken kaum nachvollziehbar und daher eigentlich unerheblich. Es muss schon Jamies Großmutter sterben und damit eine grundlegende Neuausrichtung seines Alltags notwendig machen, damit sich in das verewigte Elend seiner Existenz so etwas wie Veränderung einschreiben kann.

You look like a gentleman

Die narrative Entkoppelung der einzelnen Szenen wiederholt sich in deren Innerem. Vorgänge erscheinen häufig als unverständlich und werden erst retrospektiv, vom Ende der Einstellung her, lesbar. Um diesen Effekt zu vervollkommnen, hielt Douglas nicht nur sein Publikum, sondern auch seine Darsteller an der kurzen Leine, und ließ sie während der Dreharbeiten über alles, was die gegenwärtige Aufnahme überschritt, bewusst im Unklaren. Viele dieser Operationen erinnern an die akausalen Montagen in Bresson-Filmen. Auch das berückende Ende der Trilogie legt diesen Vergleich nahe. Nachdem Robert Jamie ein neues Zuhause in Aussicht gestellt hat, verharrt die Kamera, wie sie es schon davor oft getan hat, auf dessen Gesicht. Es ist kein Ausdruck darin zu erkennen, nur Gesicht. Es folgt eine mit ominösem Maschinenlärm unterlegte Sequenz, in der die Kamera jene vier Wände, die Jamies Kindheit in Schranken wiesen, in lateralen Schwenks abtastet. Das Zimmer ist leer, aber anhand einiger weniger Marker als der Raum wiederzuerkennen, in dem er den Großteil seiner Kindheit verbracht hat. Tapetenmuster, ein Kamin, ein Fenster ziehen unaufgeregt vorüber, entfalten als rare Instanz eines bewegten Kamerastandpunkts zusammen mit dem lauter werdenden Lärm eine nahezu disruptive Wirkung. Wenn das helle Fenster ins Bild tritt, es ansaugt und in ein gleißendes Nichts auflöst, wird klar, dass es sich bei dem Geräusch um die Turbine eines Flugzeugs handelt, das im Begriff ist, abzuheben. Schnitt. Die letzte Einstellung zeigt, zum allmählich verhallenden Geräusch des Flugzeugantriebs, für vierzig Sekunden eine Baumgruppe in voller Blüte – ein unvermittelt gewährter Moment der Gnade.

Was man bei Bresson hingegen nie finden würde, ist eine Bildfolge wie diese: Jamie probiert einen Anzug an, der ihm viel zu groß ist. Jemand sagt: «You look like a gentleman». Die übernächste Einstellung zeigt eine öffentliche Toilette, auf der sich Jamie des schlecht sitzenden Anzugs entledigt, darüber prangt ein Schild mit der Aufschrift «Gentlemen». Nicht nur in diesem Beispiel wird die sehr britische Faszination des pun in einen ganz und gar unlustigen Kontext transferiert. An anderer Stelle sind es visuelle, motivische Echos, Douglas selbst nannte sie auch «Reime», die ein nachgerade verspieltes Montagekalkül zu begründen scheinen. Es ist ein Kind, das sieht, und dessen Wahrnehmung noch der unerträglichsten Lebensumstände ein spielerisches oder besser: ästhetisches Moment eignet – sicher auch, um sich kraft der Wahrnehmung von diesem Unerträglichen zu distanzieren. Bill Douglas’ Trilogie ist vieles, aber auch und vor allem: eine Künstlerbiografie.

 

Bill Douglas Trilogy: My Childhood (1972), My Ain Folk (1973), My Way Home (1978), gemeinsam erschienen auf 2 DVDs beim BFI