«Wie kann man das Individuum schützen?» Jia Zhang-ke im Gespräch über seine Erfahrungen mit der chinesischen Zensur, über die zentralistische Modernisierung und seine Einschätzung der Demokratiebewegung
Herr Jia, Ihr jüngster Film 24 City musste für den Start in China der Zensur vorgelegt werden. Gab es die Aufforderung, Szenen zu schneiden oder zu verändern?
Für den Inlandsverleih musste eine Szene am Ende des Films, wo die Arbeiter die Internationale gemeinsam singen, entfernt werden. Ich habe dies gemacht, um andere Teile, die mir auch noch gefährdet erschienen, zu schützen. Das ist das zweite Mal nach Still Life, dass ich derartige Erfahrungen machte, dort gibt es eine Einstellung mit Porträts von Marx, Engels, Lenin und Stalin, die wollte die Zensurbehörde auch weg haben. Ich habe das nicht ganz verstanden und wollte wissen, was an den Begründern des Sozialismus anstößig ist. Die Antwort war: Wir haben Angst, dass du eine Parodie daraus machst. Meine Sorge war, dass der ganze Film verboten wird, und da es nur um ein politisches Symbol ging, bin ich darauf eingegangen.
Wie können wir uns den Zensurvorgang konkret vorstellen, das klingt ja richtiggehend nach Verhandlungen?
Die zuständige Behörde ist ein Gremium, bestehend aus über zwanzig Köpfen. Es gibt Vertretungen vom Frauenverband, vom Religionsamt, vom Verkehrsamt, von politischen Körperschaften – also aus allen Bereichen des Lebens. Die einzelnen Personen haben individuelle Meinungen, es gibt keine festgesetzten Regelungen, sondern es geht manchmal sehr willkürlich zu. Es ist fast so wie Tai Chi. Man weiß nicht, was im nächsten Moment passieren wird. Ein oder zwei Personen sind Kader, also Beamte und Parteifunktionäre, die sprechen dann mit mir und erläutern mir die Meinung des Gremiums. Diese Kader sind vom Filmamt. Da die Mitglieder des Gremiums alle zwei, drei Jahre ausgewechselt werden, und eben nie konkrete Regeln aufgestellt wurden, verändert sich der Spielraum immer wieder und man weiß letztendlich nie genau, woran man ist.
Sie sprachen von Stellen in 24 City, um die Sie besorgt waren.
Ja, es gibt zum Beispiel diesen Fall: Eine Frau fährt mit der ganzen Belegschaft ihres Betriebs von Nordchina nach Chengdu. Ihr Kind geht verloren, da es aber eine organisierte Fahrt ist, darf sie nicht nach dem Kind suchen, weil das den Ablauf stören würde. Da war ich besorgt, dass diese ganze Geschichte gestrichen werden könnte, weil es darin um die Kontrolle eines Individuums durch das Kollektiv geht. In der zweiten Geschichte erzählt ein Arbeitsloser von seinen Problemen mit der Arbeitslosigkeit, auch da war ich besorgt, dass ich die ganze Szene würde opfern müssen, denn diese Angelegenheit wird im offiziellen China nicht gern thematisiert.
Sie haben ursprünglich fast alle Filme in ihrer Heimatregion im Nordosten gedreht, rund um die Stadt Fenyang. Inzwischen erschließen Sie allmählich den Rest des großen Landes, The World spielte in Beijing, Still Life spielte am Dreischluchtendamm am Yangtse, 24City spielt im Süden in Chengdu. Wie kam es dazu?
Bei Still Life war das ein Zufall. Ich habe einen Freund, Lia Xiadong. Er ist Maler, und ich wollte einen Dokumentarfilm über ihn machen, während er am Dreischluchten-Staudamm malte. Daraus ist dann auch noch der Spielfilm Still Life entstanden. Wenn man das Leben in China näher betrachtet, dann haben die Menschen im Norden oder im Süden die gleichen Probleme. Insofern ist es egal, wo ich einen Film drehe. Der kleine Unterschied ist, dass die Menschen im Süden andere Essgewohnheiten haben und einen anderen Dialekt sprechen. Immer schon wollte ich einen Film über das Leben von Arbeitern machen. Zufällig habe ich erfahren, dass in Chengdu eine ganze Fabrikimmobilie verkauft wurde – das Handelsvolumen war das bis dato höchste im Land, das war für mich Anlass genug, dieser Sache nachzugehen. Es geht dabei um eine Belegschaft von 100 000 Menschen.
Wie verläuft der Privatisierungsprozess in so einem Fall konkret?
Die großen Kombinate wurden in den 50er Jahren gegründet, damals waren Arbeiter die führende Klasse der Gesellschaft. Entsprechend fühlten sie sich sehr privilegiert. Damals gab es eine Planwirtschaft, der Staat machte den Plan, gab das Geld und kaufte die Produkte. Die Beschäftigten mussten sich keine Sorgen machen, sie bekamen vom Staat ein festes Gehalt, das im Vergleich zu dem der Landbevölkerung sehr hoch war und auch gesichert. Dazu kam ein garantierter Bezug von Lebensmitteln, die damals rationiert waren. In den Fabriken gab es viele Initiativen, man konnte Sport treiben oder Filme sehen. Dazu kamen das Rentensystem und eine medizinische Versorgung für Staatsangestellte. Viele Menschen trauern dieser Zeit nach. Diese Wirtschaft führte aber zu einer rückständigen Struktur. Der Betrieb in Chengdu produzierte in den 80er Jahren noch Flugzeugmodelle aus den 40er Jahren. Durch die Privatisierung sind viele Unternehmen entstanden, in denen die Beschäftigten viel mehr Geld verdienen als die in der Staatswirtschaft. Die im Zuge von Privatisierungen entlassenen Arbeiter hingegen erhalten eine sehr geringe Abfindung, und das war es dann. Es gibt eine Trennlinie: ab einem Alter von 36 Jahren werden die Leute entlassen, das ist ein Alter, in dem man körperlich noch sehr fit ist und auch sehr viel Erfahrung hat. Diese Menschen stehen dann vor dem Nichts. In China gibt es eine große Gruppe von diesen Menschen. Ich habe 24City nicht gemacht, um dem Sozialismus nachzutrauern, ganz und gar nicht. Aber es gibt eine Masse von Arbeitern, um die ich mir Sorgen mache.
Geht die Veränderung nur zu schnell, oder insgesamt in die falsche Richtung?
Diese Veränderung ist von oben diktiert, sie wurde auf einmal beschlossen, und die Menschen stehen damit vor vollendeten Tatsachen. Im Kollektiv hat man sich für das Individuum nicht interessiert, und das hat sich nicht geändert. Veränderung ist gut, weil das alte System erstarrt war und die Initiative der Menschen erstickt hat. Ob im Moment aber die Interessen der einzelnen Menschen beachtet werden? 24City stellt die Frage, wie wir mehr Wert auf einzelne Personen legen können. Der Kollektivismus kam ja auch aus der Hoffnung, auf diese Weise das Land schneller zu modernisieren. Heute ist die Frage: Wie kann man das Individuum schützen?
Ist der dokumentarische Anteil an 24City also auch Ausdruck dieser Hochschätzung des Individuums?
In 24City stehen Menschen im Mittelpunkt, es gibt Interviews mit tatsächlichen Arbeitern und fiktionale Teile, die von Schauspielern dargestellt werden. Dass ich dokumentarische Sequenzen benutzt habe, liegt daran, dass in China generell die Stimmen einzelner Personen ignoriert werden. Mir ist wichtig, dass man sie wahrnimmt. Deswegen lege ich großen Wert darauf, dass der Film in China ins Kino kommt und dass die Arbeiter auf der Leinwand sprechen und nicht wie sonst immer nur als Beschwerdeführer in eigener Sache vor der Behörde. Sie müssen sich vorstellen: Man versucht ihnen die Arbeitslosigkeit als «einmalige tolle Gelegenheit» zu verkaufen – einer 45-jährigen Mutter?
Ihr Cousin Han Sanming, der in vielen Filmen von Ihnen auftritt, ist das Individuum par excellence.
Han Sanming war früher Bergarbeiter, das ist ein lebensgefährlicher Beruf. Er ist ein guter Vertreter für die breite Masse.
Es hat wohl Methode, dass er überraschend auch in dem Dokumentarfilm Useless auftaucht, in dem es eigentlich um eine international sehr erfolgreiche Modeschöpferin geht.
Die Mode ist eine Kette, sie betrifft breite Gebiete der Gesellschaft. Ich habe an diesem Porträt von Ma Ke gearbeitet, und dabei gesehen, dass sie es sich leisten kann, nach Paris zu fliegen und überall aufzutreten. Gleichzeitig gibt es die Textilfabriken, in denen diese Kleidung unter Druck produziert wird, und die Schneider in den abgelegenen Dörfern haben keine Arbeit mehr, weil in den Fabriken im Akkord gearbeitet wird. Diese Kette wollte ich darstellen. Ich wollte die Verbindungen zwischen den Menschen zeigen.
In Platform erzählten Sie die Geschichte eines Kulturensembles in den 80er Jahren, das die erste Welle der Privatisierungen erlebt. Der Film endete 1989 unmittelbar vor den Studentenprotesten. Wie denken Sie heute über das Scheitern der Demokratisierungsbewegung?
In China zählen wir die Filmschaffenden nach Generationen. Das Schicksal der fünften Generation (Chen Kaige, Zhang Yimou, Tian Zhangzuang) ist geprägt von der Kulturrevolution. Das Schicksal meiner, der sechsten Generation, ist geprägt von Tiananmen. Dass ich den Drang habe, Filme zu machen, hat damit zu tun. Es ist ein verbotenes Thema. Menschen, die in den 80er Jahren geboren wurden, wissen gar nichts davon. Viele sagen, diese Bewegung ist gescheitert. Ich glaube aber, dass der Wunsch nach Demokratie und nach Gerechtigkeit dadurch stark verbreitet wurde. Deswegen ist für mich diese Bewegung nicht gescheitert
Das Gespräch führten Bert Rebhandl und Simon Rothöhler