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Textilindustrie Lernen in Athen: Die documenta als ausfransende Konzentrationsübung

Von Friederike Horstmann

Nicht selten kreisten Diskussionen in den vergangenen Wochen und Monaten um eine bekannte Konfliktkonstellation: Es ging um Kunst beziehungsweise Kultur und ihr Verhältnis zur Politik. Neben der Berliner Debatte über den Intendantenwechsel an der Volksbühne war die documenta 14 ein weiteres, internationaleres Epizentrum. Nicht wenige Texte beschäftigten sich mit Fragen der Legitimierung und Realisierung der documenta in Athen als einem erstmals zweiten, gleichberechtigten Standort außerhalb Kassels. Kulturpolitische Kritik kam vor allem von einer lokal argumentierenden Linken; die Macher_innen der weltweit größten zeitgenössischen Kunstausstellung hätten griechische Institutionen und Künstler_innen nicht hinreichend mit einbezogen und sich kaum mit den konkreten Lebensrealitäten in Griechenland auseinandergesetzt. Darüber hinaus wurde den Austellungsmacher_innen eine kulturimperialistisch-koloniale Haltung, den Besucher_innen ein voyeuristischer Krisentourismus vor einer maroden Politkulisse vorgeworfen. In ihren solipsistischen Kreisbewegungen richte sich die documenta an internationale Kunsttourist_innen. Auch der Arbeitstitel der Ausstellung «Learning from Athens» wurde einerseits als diffus (Was Lernen? Wie Lernen? Von welchem Athen?), andererseits als herablassend kritisiert. Im Athener Stadtbild konkretisierte sich politischer Protest in Graffitis wie «Crapumenta» oder «Learning from Athens». Dass das kuratorische Programm des diesjährigen künstlerischen Leiters Adam Szymczyk wenig diskursiv verdichtete oder gar klärte, sondern vieles assoziativ umschwärmte, war vor der Kulisse kulturpolitischer Debatten wenig förderlich. Yearning statt learning.

Die documenta 14 ist in ihrer Quecksilbrigkeit kaum zu fassen. Dezentral angelegt werden an mehr als 45 Schauplätzen Auftragswerke von mehr als 150 internationalen Künstler_innen gezeigt. In ihrer nach allen Richtungen ausfransenden Fülle von Arbeiten im öffentlichen Raum scheint sie überall zu sein. Zum Programm gehören Musik und Tanz, Filme und Debatten, Radiosendungen und Fernsehprogramme und so viele Performances wie nie zuvor. Die Inklusion oder besser Usurpation von allen möglichen Kunstformen durch die Bildende Kunst ist zwar nicht neu, wird mit der diesjährigen documenta jedoch radikalisiert – wie auch die Dezentralisierung der Ausstellungsorte. Jeden Montag um Mitternacht läuft im griechischen Staatssender ERT2 das Filmprogramm Keimena mit experimentellen Dokumentar-oder Spielfilmen, wo bislang unter anderem Werke von Harun Farocki, Romuald Karmakar, Jonas Mekas, Ulrike Ottinger, Abderrahmane Sissako, Kidlat Tahimik und Wang Bing gezeigt wurden.

Jenseits touristischer Trampelpfade ist man in Athen viel unterwegs und sucht nach Orientierung in der porösen Heterogenität, in einem anarchischen Chaos. Dass Kunst als ein produktiver Ort funktioniert und Einzelwerke die documenta mehr als gut machen, zeigen zwei Arbeiten im Nationalen Museum für Zeitgenössische Kunst (EMST): eine multimediale Installation des kongolesischen Künstlers Sammy Baloji und eine digitale Videoarbeit des chinesischen Dokumentarfilmers Wang Bing. Mit über 80 Künstler_innen und Künstlerkollektiven ist das EMST der größte, sich auf fünf Etagen erstreckende Schauplatz der Athener Ausstellung. Das aus Geldmangel bislang nicht eröffnete Museum nimmt im Rahmen der d14 seinen Ausstellungsbetrieb in einem ehemaligen, nun umgebauten Brauereigebäude auf – ein Viertel seiner ständigen Sammlung wird während der documenta in Kassel im Fridericianum präsentiert.

Im Erdgeschoss des EMST macht Sammy Balojis Tales of the Copper Cross Garden: Episode I (2017) den Auftakt: eine Installation, in der sich Kirchen-und Kolonialgeschichte buchstäblich durchkreuzen. Aus diversen Quellen trägt die Installation unterschiedliche Materialien zusammen: alte Schellackaufnahmen und Schwarzweißfotografien, historische Radierplatten und oxidierte Kupfermünzen, Filmaufnahmen und Buchzitate. Sie setzt Geschichte zusammen, entwirft wechselnde Perspektiven an und in Objekten, aus deren Anordnung, aus ihrer Schichtung und Durchkreuzung – eine Geschichtsschreibung von ihren Rändern her, über Umwege.

Ein 42-minütiges Video zeigt zeitgenössische Aufnahmen aus der kongolesischen Kupferindustrie, dokumentiert einen Herstellungsprozess, der im Gießen von glühenden, halbflüssigen Kupferbarren und in ihrem Auswalzen zu Drähten besteht. Zwischentitel und Chormusik stellen diese Bilder in einen diskursiven Zusammenhang: Sporadisch eingeblendete, bildfüllende Inserts sind dem autobiografischen Werk Les corps glorieux des mots et des êtres: esquise d'un jardin africain à la bénédictine (1994) des kongolesischen Universalgelehrten Valentin-Yves Mudimbe entnommen. Unter Einbezug von subjektiven Erfahrungen beschäftigen sich die Zitate von Mudimbe mit der imaginären Identitätskonstruktion Afrikas im kolonialen und postkolonialen Diskurs, mit seiner Zerrissenheit zwischen Tradition und europäischem Einfluss, mit Prozessen der Auflösung und Zerstörung – verursacht durch die Kolonialisierung und Missionierung. Auf der Tonspur erklingt zu den Inserts und Industrieaufnahmen eine feierliche Kirchenmusik – Lieder, die liturgischen Gesang mit kongolesischem Rhythmus kombinieren und dem im Jahr 1948 erschienenen Album Les Chanteurs à la Croix de Cuivre d'Elisabethville entnommen sind. Die Wand lotrecht zum Video zeigt die kleinen Kupferkreuzsänger aus Katanga auf einem lebensgroßen Blow-up eines grobkörnigen Schwarzweißbildes – eine Fotografie aus dem belgischen Archiv des Königlichen Museums für Zentral-Afrika. Über der kindlichen Brust und weißen Roben hängen große Katangakreuze: kreuzförmige, nach der mineralreichen Provinz Katanga benannte Kupferbarren, die seit dem 13. Jahrhundert in der Region als Währung für den lokalen und internationalen Handel verwendet, Frauen als Mitgift und Verstorbenen als Talismane mitgegeben wurden. Eine Vitrine zeigt diese als Zahlungsmittel, Identitätssymbole und Prestigeobjekte genutzten Kupferkreuze. Die lokale Kupferressource war ein Schlüsselfaktor für die Kolonisation: Auf der von Bismarck in Berlin veranstalteten Kongokonferenz hatte sich der belgische König Leopold II. mit dem Kongo-Freistaat einen immensen persönlichen Kolonialbesitz in Zentralafrika gesichert. Auf die Einbindung von religiösen Missionsunternehmen in machtpolitisch und ökonomisch bestimmte Expansionsbestrebungen verweist eine links neben dem Video hängende Kupferplatte mit einem radierten Porträt des apostolischen Vikars Jean-Félix de Hemptinne – einem illegitimen Sohn König Leopold II. –, der 1910 nach Katanga kam, um die angelsächsische Wirtschaftsdominanz zu verteidigen und Klöster zu gründen. Noch heute, Jahrzehnte nach der Unabhängigkeitserklärung der Demokratischen Republik Kongo im Jahre 1960, ist eine große Allee im Zentrum Lubumbashis nach ihm benannt: Avenue Mgr Jean Félix de Hemptinne. Ihr Blick richtet sich auf die Kathedrale Saints Pierre et Paul.

 

© Wang Bing

 

Politische, ökonomische und ethische Probleme werden auch in einer Arbeit von Wang Bing freigelegt, die einen weiteren Höhepunkte im EMST bildet: 15 Hours (2017) lautet der konzeptuelle Titel der installativ aufgeführten Videoarbeit des digital drehenden Dokumentaristen. Volle 15 Stunden folgt der Film einer Gruppe von Textilarbeiter_innen durch ihren Alltag in Zhejiang – einer Provinz im Nordosten Chinas, wo über 200 000 Wanderarbeiter_innen in 18 000 kleinen Werkstätten ca. 80% der chinesischen Kinderkleidung produzieren und dem gewaltigen Textilbedarf der Volksrepublik China nachkommen. Wie in vielen von Wangs Dokumentarfilmen entwirft die mikrohistorische Perspektive ein größeres Panorama und fokussiert gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse, die die Volkrepublik China im Zuge einer rapid beschleunigten Modernisierung und Urbanisierung erfährt. Jeden Tag beginnen die Textilarbeiter_innen um 8 Uhr und arbeiten bis 23 Uhr – eingespannt zwischen langen Arbeitsschichten mit zwei Pausen für Mittag-und Abendessen. In langen, ungeschnittenen Sequenzeinstellungen zeichnet die Digitalkamera ihren Arbeitstag auf, wenn sie im Schlafsaal aufwachen bis zum Schichtende spät abends, wie sie ihren täglichen Routinen nachgehen, ohne dass einzelne Szenen ihres monotonen Alltags dramaturgisiert wären. Ganzjährig beschäftigt, werden sie nach Stückzahl und erst am Jahresende nach tagelangen Verhandlungen über ihren Lohn bezahlt. In Akkordarbeit produzieren sie mit hoher Geschwindigkeit und in Symbiose mit ihren akustisch penetrant ratternden Nähmaschinen. Ausdauernd registriert die Kamera die erschöpfenden, sich immerzu wiederholenden Fertigungshandgriffe, nimmt die beengt verrumpelten, von kalten Leuchtstoffröhren beleuchteten Werkstätten in den Blick, gewährt Einblicke in kurze Gespräche während der massenhaften Produktion. Die permanente Geräuschkulisse und die tristen Werkräume bekommen dabei fast eine allegorische Qualität. Die Arbeitsvorgänge, die der Film in stoisch zerdehnter Real-Time-Slowness ausführt, zeigen endlose, jeglichen Suspense suspendierende Wiederholungen – einen Sisyphosdienst am untersten Ende chinesischer Produktionsverhältnisse. Wangs Filme scheinen schon durch ihre Form – durch ihre Beharrlichkeit und Ausdauer – an einer Um-und Aufwertung der depravierenden Umstände zu arbeiten und sich den inhumanen Arbeitsbedingungen entgegenzustellen. Die Kamera ist hier weniger ein neutrales Aufnahmemedium als ein Element von Zeugenschaft, das sich dem Leben derer widmet, die in einer offiziellen Geschichtsschreibung üblicherweise aus dem Blick geraten, wenn nicht gar exkludiert sind.

Auf geschickte Weise spielt Wang mit der Aufmerksamkeitsökonomie einer durchlauferhitzten documenta-Besucherin: eine 15-stündige Sichtung ließe sich kaum oder nur mit rezeptionsökonomischen Restriktionen realisieren. Denn schon die Öffnungszeiten des EMST verunmöglichen eine volle Versenkung in die Dokumentation, die an zwei Tagen, in zwei Teilen, als halbiertes »Häppchen« mit jeweils 450 Minuten projiziert wird. Die Dauer des Films ist zwar an die Arbeitszeit in der Textilindustrie gebunden, die des Aufenthalts aber nicht an die zeitliche Länge des Films. Im Gegensatz zur ausbeuterisch verordneten Immobilität im Video herrscht bei der zeitlich flexibilisierten Rezeption einer kinematografischen Installation eben kein strenges Zeitdiktat. Durch die kaum begrenzte Bewegungs-und Entscheidungsfreiheit der Besucherin radikalisiert sich – invers, als Negativ – die subalterne Lebenswirklichkeit der Textilarbeiter_innen, gerade weil Wangs Film so entschieden, ja geradezu solidarisch bei den Näher_innen bleibt und sein Wahrnehmungsradius nicht über deren Bewegungsradius hinausgeht. 15 Hours wirft rezeptionsästhetische Fragen auf, nach Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung eines 15-stündigen Films – nicht nur vor dem Hintergrund einer zunehmenden Kommodifizierung von Aufmerksamkeit bei Großausstellungen wie der documenta: Ohne Zuspitzung und Verdichtung der immensen Materialfülle verzichtet 15 Hours auf etablierte Dramaturgien, auf eine Privilegierung von Erzählung und Ereignis über Beschreibung und Beobachtung. In der mikrologischen Nahsicht bleiben das Besondere und Konkrete in ihrer rohen Präsenz erhalten – eine Perspektive, die disparate Einzelheiten nicht zu einer synthetisierenden Idee vereinheitlicht und Hierarchien (in) der Repräsentation bewusst aufkündigt.

Auf gänzlich andere Art beschäftigt sich eine entlegene documenta-Stätte mit der Kulturtechnik der Textilverarbeitung. Das MENTIS ist als Center for the Preservation of Traditional Textile Techniques eine Dependance des Benaki-Museums und beherbergt von der Unternehmerfamilie Mentis gestiftete Textilmaschinen, an denen noch heute Posamenten hergestellt werden – eine museal anmutende Werkstatt voller Zierbänder, Bordüren und Quasten. 1867 gegründet, war die MENTIS Ltd. eine der ältesten Garnmanufakturen Griechenlands und 2011 gezwungen, den Betrieb zu schließen. Eineinhalb Jahrhunderte lange verzierten ihre Produkte griechische Trachten und Theaterkostüme, klerikale Gewänder und militärische Uniformen, Créations bekannter Couturiers. Für das blaue Lesebändchen des documenta-Readers wurde Baumwolle in einer vom documenta-Künstler Aboubakar Fofana vorbereiteten Indigoküpe in verschiedenen Schattierungen gefärbt, um dann an den Mentis-Maschinen zu einem fünf Millimeter schmalen Band verwoben zu werden. Kleinste Fäden werden hier zu einem komplexen Gebilde (noch das Wort komplex geht auf das lateinische complexus zu plectere zurück und heißt: zusammengeflochten) verarbeitet. Wenn man den Reader aufschlägt, ist auch Aboubakar Fofana unter den Autor_innen aufgeführt, obwohl er keinen Text und nur das indigoblaue Bändchen als Lesezeichen beigetragen hat. Implizit erinnert der Reader damit an die Etymologie von «text» und «textil», die beide auf das lateinische Verb «texere» für Weben und Flechten zurückgehen. Spinnen, Knoten und Nähen können hier auch eine textilmetaphorische Qualität bekommen und auf Verfahren und Operationen der gesamten documenta verweisen: beim Verweben vieler disparater Stränge entwickelt sie gleichzeitig Thesen, verknüpft Aussagen, verstrickt sich in Widersprüche. 

 

Die documenta in Athen läuft noch bis zum 16. Juli, in Kassel bis zum 17. September