routine pleasures

Momentaufnahme

Von Nora Bossong

Im April fliehe ich aus Berlin. Die Stadt ist so großartig, dass nicht ein einziger Superlativ genügt, um sie zu beschreiben, man braucht alle. Berlin ist der Nabel und der Mittelpunkt der Welt. Das nervt. Anders Köln. Köln ist nicht einmal der Mittelpunkt von Nordrhein-Westfalen, da ist sogar Düsseldorf näher dran – womit ich den ersten Faux-Pas als Neukölnerin begehe. In Kölschkneipen bestelle ich Rotwein, ich jogge in Jeans und T-Shirt durch den Park anstatt in den professionellen Multifunktionssportkleidern der hiesigen Freizeitathleten. In der Tram, die ich überhaupt erst besteige, wenn ich genügend Aggression in mir gesammelt habe, bin ich nicht darauf vorbereitet, dass es Freundlichkeit in der Welt der engen Sitze geben kann. Und wo gibt es hier Großartigkeit? Das belgische Viertel, das soll das schönste von Köln sein. Til, zugezogen, wiegt den Kopf. Er wäre hier mit Superlativen vorsichtig, vor allem in Zusammenhang mit dem Wort schön. Könnte man Aufatmen superlativieren, wäre meines das innigste der Welt.

Ein Ressentiment ist ein Vorurteil, aber nicht jedes Vorurteil ist ein Ressentiment. Frage ich echte Kölner nach ihrer Stadt, scheuen sie Superlative durchaus nicht. Köln ist die schönste Stadt der Welt. Wir stehen auf der Demo gegen den AfD-Parteitag, es ist Karnevalsstimmung, 50 000 Menschen waren erwartet, in den Abendnachrichten werden es deutlich weniger gewesen sein. Dabei war doch die Innenstadt überfüllt mit Demonstranten … Zahlen hin oder her, bunte Karnevalsperücken haben noch keinen Staat gemacht. Überhaupt: Machen. Habe ich nicht selbst bislang zu wenig beigetragen zu dem von der AfD geforderten «Erhalt des eigenen Staatsvolks»? Die restliche Zeit werde ich also in Köln meinen Beitrag leisten, Karneval ist ein guter Einstieg, den habe ich leider verpasst. Bleibt nur zu hoffen, dass der Staat und sein Volk und das Eigene mit Perücken und Trillerpfeifen auf die Welt kommt. Ein Protest ist ein Urteil, aber nicht jedes Urteil schafft es zum Protest.

Ich besuche einen Berliner Freund in einem Filmstudio in Köln Ossendorf. Als ich den Aufnahmeraum betrete, klingt aus dem Off ein Satz wie aus meinem Kopf. Ich kann ihn nicht wiedergeben, da es eine Schlüsselszene ist und sie erst in einigen Monaten für alle anderen zu sehen sein wird. Für einen Moment komme ich mir unfassbar bedeutend vor, als trüge ich von nun an Staatsgeheimnisse mit mir herum. Umschrieben könnte die Szene so klingen: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Köln ist nicht die Antwort, aber Berlin ist es eben auch nicht. Genau dieses Gefühl beschleicht mich jeden Abend, wenn ich von dem Balkon meiner Kölner Wohnung auf die Sechziger-Jahre-Nachkriegsbauten blicke. Ich habe allerdings ab und an auch das Gefühl, ein falsches Leben im richtigen zu führen. Oder bin ich die Einzige, die mitunter das Gefühl hat, im falschen Film zu sitzen, dabei wird der richtige gerade gedreht? Heimat jedenfalls, denke ich, als ich später wieder auf meinem Balkon sitze, ist da, wo man zum Zahnarzt geht. Alles andere bleibt Imagination.