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Künstlerische Ratlosigkeit Zum Bildband Meine LAST PICTURE SHOW von Roland Gräf und ein wenig darüberhinaus

Von Matthias Dell

Seinen Anfang nimmt Roland Gräfs Bildband Meine LAST PICTURE SHOW in der ehemaligen Werkhalle der ORWO-Filmfabrik in Wolfen. Zum ersten Mal war der spätere Kameramann und Regisseur 1955 dort für ein Praktikum, das mit der Herstellung von Rohfilmmaterial vertraut machen sollte. «Aber wie das manchmal so geht: Jetzt stehe ich hier und habe das Gefühl, als bestünde diese Symbiose doch noch, jedenfalls im Moment. So als wären wir Wiedergänger, Untote, die der Nachwelt immer noch auf den Pelz rücken. Wir haben zur Tarnung lediglich unser Erscheinungsbild verändert; die Filmfabrik tritt als Museum auf, der Kameramann oder Filmregisseur verstellt sich als Fotograf.»

«Aber wie das manchmal so geht» – das ist eine ziemlich lapidare Beschreibung für das Leben, die Karriere des Roland Gräf, die in dem Band ihren letzten künstlerischen Ausdruck erfährt. Dabei ist das Buch mehr als ein Katalog fotografischer Arbeiten der vergangenen Jahre – es ist eine Art Vermächtnis, ein erzwungener Epilog, die bewusste Erinnerung an das abrupt abgebrochene Werk des Roland Gräf. Ursprünglich sollte das Buch «Mein elfter Film» heißen.

Mit dem Bildband schließt sich ein Kreis. Fotos waren die ersten künstlerischen Versuche, die der 1934 geborene Tischlersohn aus dem thüringischen Meuselbach unternahm. Über die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät führte der Weg 1954 an die neugegründete Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg. Dort begann Gräf ein Kamerastudium, er fotografierte 1965 Jürgen Böttchers seinerzeit vom XI. Plenum verbotenen, heute kanonisierten Slackerfilm Jahrgang 45 in der Manier des für Gräfs Generation prägenden Neorealismus. Auch auf Betreiben seiner Frau, der Dramaturgin Christel Gräf (1935–2011), wechselte er schließlich auf den Regiestuhl, bei seinem Debüt Mein lieber Robinson (1970) führte er auch die Kamera. 1992 endet diese Arbeit mit Die Spur desBernsteinzimmers. Gräf macht noch drei Fernseharbeiten, darunter zwei Folgen der Heiner-Lauterbach-Serie Faust, und dann ist Schluss.

Weshalb am Ende dann wieder Fotos stehen, still gestellter Film. Bilder aus der Provinz, in die Gräf, der in Potsdam-Babelsberg keinen Kilometer vom Studio entfernt wohnte, ab Ende der 90er Jahre zurückgekehrt ist, auf ein Gehöft in den Fläming. Man spürt Meine LAST PICTURE SHOW in jedem Moment an, dass das Buch ein Dokument unfreiwilliger Drosselung künstlerischer Arbeit ist. Die Zusammenstellung der Bilder (Landschaft, Leute, Details) hat mitunter lediglich dokumentarischen Charakter: Die Menschen auf den Dorffesten hält Gräf in Schnappschüssen fest, sie erscheinen nicht als augustsandermäßig stilisierte Agenten eines Milieus oder einer Klasse, sondern sind nur die Leute, die freundlich in die Kamera gucken, weil da einer ein Bild machen will. Dieser eine ist Gräf, das Echo, der Wiedergänger einer fernen Karriere als Künstler.

An den winterlichen Landschaftsbildern hat Gräf des Grafische von Bäumen und Feldern herausgestellt mit den Mitteln moderner Bildbearbeitung, was wie ein komisches Nachspiel wirkt bei jemand, der Bilder gemacht hat unter den limitierten Bedingungen des analogen Zeitalters. Am Ende begibt sich der Band ins Erratische, wenn in dem Kapitel «Miraculum» die Grenzen zwischen dem Natürlichen und Digitalen verschwimmen, wenn die wiederum grafischen Spuren an Bäumen und Gebäuden, Rost, Frost oder Blätterwerk, so groß aufgezogen werden, dass ihr Kontext nicht mehr rekonstruierbar ist. In diesem Blick ist am ehesten der Autor zu erkennen (in den Blicken der Leute in die Kamera sieht man nur den Nachbarn), weil, die Flucht ins Zeichenhafte einkalkulierend, auf den Bildern etwas gezeigt wird, was kaum zu sehen ist.

Die Motivstrecken, und das macht aus dem Band eben mehr als ein Fotobuch, werden immer wieder unterbrochen: einmal unvermittelt von einem Gruppenbild der Familie Gräf, an anderen Stellen von Werkresten, dem Bild des Drehstabs von Fallada – Letztes Kapitel (1988) etwa, bei dem, anders als beim Familienporträt, alle Anwesenden namentlich vermerkt sind. Und von Texten, die die Bilder kommentieren, an Mitarbeiter erinnern, vor allem aber an der Wunde rühren, deren Narbe dieses Buch ist: dem plötzlichen Vorruhestand eines Filmemachers.

«Der Buchtitel ist eine Verbeugung vor Peter Bogdanovichs unvergessenem Film THE LAST PICTURE SHOW aus dem Jahr 1971. Was mich in den letzten zehn Jahren umgetrieben hat, kann ich treffender nicht formulieren. Auch meine nahezu ungebrochene Vorliebe für das Querformat der Fotos ist wohl ein Nachklang meiner Kino-Vergangenheit», schreibt Gräf noch in den letzten drei Sätzen des Buches. Man mag dieses Immer-wieder-Zurückkommen auf den Endpunkt des eigenen Schaffens als redundant, vielleicht sogar als nervig empfinden, es gibt Begriffe wie Bitterkeit und Lamento, mit denen man sich die Verletzung des Künstlers vom Leib halten kann. Get over it. Aber aus der Perspektive von Gräf ist der Bruch nach 1992 existentiell. Wie sich nach all den DEFA-Jahren des Ringens um Stoffe, des Wartens auf Abnahmen ein kurzes Fenster öffnet, durch das große künstlerische Freiheit scheint, und das sich schließt, noch ehe davon richtig Gebrauch gemacht worden ist.

Es verspricht vermutlich wenig Trost, dass die jüngeren dokumentarischen Arbeiten von Dominik Graf (Es werde Stadt, 2014 sowie Verfluchte Liebe Deutscher Film, 2016, und Offene Wunde Deutscher Film, 2017, letztere gemeinsam mit Johannes F. Sievert) in ihrer Hingabe zu und dem Respekt vor den «Mavericks» des deutschen Kinos 1989/90 ebenfalls als Zeitenwende begreifen, durch die die Arbeit von randständigen Regisseuren im durch das Oberhausener Manifest begründeten Fernsehfilmzeitalter noch einmal schwieriger geworden ist; dass auch westdeutsche Filmografien endeten, als Medienwirtschaft zum Standortfaktor und die Förderpolitik outgesourcet wurde an Länderstiftungen mit Intendantinnenmodell.

Es ist eine berechtigte Frage, was vom DEFA-Erbe bleibt, und es ist nicht leicht zu sagen, wie sich das für den Fall Roland Gräf verhält. Für eine Wiederentdeckung kämen vermutlich die Filme in Frage, die aus dem Werk herausfallen: Die Flucht von 1977, ein routiniert inszeniertes, fast krimihaftes Drama zur gleißenden Musik von Günther Fischer, bei dem man allen spürbaren Zwängen zum Trotz überrascht ist durch einen DEFA-Film zur Zeit der Biermann-Ausbürgerung auf die Mauer zu schauen, zu Gast in Köln zu sein und die Motive eines nach Westen gehen wollenden Arztes (Armin Mueller-Stahl) verstehen zu können.

Oder Die Spur des Bernsteinzimmers, dem Film nach dem fast klassischen, aber zu spät gekommenen Der Tangospieler von 1991, der heißen Herzens im Frühjahr 1989 begonnen (endlich zeigen wir Dissidenz im Film) wurde und fertig erst, als diese Dissidenz keinen mehr interessierte, weil es die DDR nicht mehr gab, der dennoch auf der Berlinale lief und für den Gräf den Filmpreis in Silber bekam (das Fördergeld aber nie abrufen konnte). Die Spur des Bernsteinzimmers ist eine Räuberpistole von Thomas Knauf, ein Spaß für die Schauspieler, die sich wie im Fußball Sammer, Kirsten, Thom warmzulaufen scheinen für die Rollen in den Fernsehfilmen des Westens: Kockisch, Gwisdek, Böwe, und Corinna Harfouch turtelt mit Ulrich Tukur. Der Film ist Kolportage, in der dann aber doch noch Wagner-Musik den Weg zum vermeintlichen Schatz weist, und in dem Kurt Böwes KZ-Häftling zweimal stirbt, sich dem (Alt)Nazi aber immerhin noch in den Kofferraum legt als Ballast einer Vergangenheit, die sich nicht einfach so abstreifen lässt.

 

Die Spur des Bernsteinzimmers (1991)

© DEFA

 

Es steckt eine Befreiung in Die Spur des Bernsteinzimmers, und schon deshalb wäre es interessant gewesen zu sehen, wie Gräf unter den veränderten Bedingungen erzählt hätte. Aber die geplanten Projekte – «Heimat, süße Heimat», orientiert an der Lebensgeschichte von Helmut Damerius, dem Leiter der Agitpropgruppe «Kolonne Links», der 1938 in sowjetische Lagerhaft und Verbannung gerät und vor seinem Tod doch heimlich biografische Aufzeichnungen macht; «Immer und ewig» über die Liebesgeschichte eines Russen und einer Deutschen nach dem Krieg – finden keine Finanzierung mehr. Und so bleibt die Frage hypothetisch, was eine solche filmische Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte für die intellektuelle Öffentlichkeit des neuen Deutschland hätte bedeuten können, ob überhaupt etwas.

Roland Gräf ist eine Figur, an der diese Wegscheide zumindest erinnerbar sein könnte. In den späten 80er Jahren gehörte er zum Künstlerischen Rat des DEFA-Studios, eine Gewerkschaftseinrichtung, die sich in der erschlaffenden DDR mit Sinn füllte, sich für junge Regisseure einsetzte und für umstrittene Projekte. In der Übergangszeit diskutiert ein Intendantenmodell für das Studio mit, das auch wegen der nicht existenten Förderstrukturen nicht weit kommt. Später sitzt er im Stiftungsrat der DEFA-Stiftung als einer der wenigen Künstler unter Verwaltungsbeamten.

Und dazwischen wird Volker Schlöndorff zu seiner Nemesis, der Regisseur, der 1992 von einem französischen Konsortium zum Geschäftsführer des Studio Babelsberg ernannt wird und der von einem neuen europäischen Film träumt. Gundolf S. Freyermuth hat eine lange Reportage über diese Zeit geschrieben (Der Übernehmer. Volker Schlöndorff in Babelsberg, Chr. Links 1993), die zwar das richtige Gespür für eine Geschichte hat, aber zu oft an szenischen Oberflächlichkeiten hängenbleibt, den Luxushotels und Automarken von Cannes etwa. So bleibt das Verständnis von Schlöndorff zwischen Macher und Aufschneider vage, nebenher wird ordentlich «Besatzermentalität» (Schlöndorff über sich selbst) performt: «Ich habe mir heute draußen zwei Häuser angesehen. Fürchterlich heruntergekommen und überteuert. Und das Umfeld eine Katastrophe. Nichts zum Einkaufen, nichts zum Essengehen.»

Von Gräf gibt es eine Anekdote über den Ingrimm gegenüber dem Kollegen als Chef, die auf der Gedenkveranstaltung Ende Mai im Filmmuseum Potsdam noch einmal erzählt wurde als Sinnbild der Demütigung: dass die Zeit, die er bei Schlöndorff hatte, um über die Finanzierung eines Films zu sprechen, mit einem Pressetermin des Studiochefs zusammenfiel.

In einem Interview 2014 brachte Gräf seine Enttäuschung über den Vorruhestand auf die Formel: «Ich wollte nur das gleiche Recht haben, mittlere und schlechtere Filme wie Volker Schlöndorff zu machen.»

Aus heutiger Sicht erscheint es reizvoll, die Geschichte des Übergangs vom Intendantenmodell, den verschiedenen treuhandinternen Ideen über Schlöndorffs «Übernahme» bis zum aktuellen Betrieb als mit Bundesmitteln gepampertes Studio Babelsberg noch einmal genauer zu betrachten, eingeschlossen – davon kündet Freyermuths Reportage schon – der entstehenden Länderförderung. Roland Gräf wäre zumindest ein Teil dieser Geschichte, der Teil, der verloren geht. Am 11. Mai ist er nach langer Krankheit gestorben – der Tag an dem Volker Schlöndorffs jüngster Film Rückkehr nach Montauk in die Kinos kam. Ein eher «schlechterer» Film, finanziert durch Til Schweigers Referenzgelder, also aus den Untiefen jenes Subventionskinos, das der zupackende Studio-Chef 1992 hinter sich lassen wollte. Für den roten Teppich auf der Berlinale reicht das immer noch, weil es die richtige Symbiose ist – aus internationalisiertem Autorenfilmer-Odeur (New York), prominentem Bildungsbezug (Max Frisch) und klangvollem Cast (Nina Hoss, Stellan Skarsgard, Susanne Wolff). 

Roland Gräf: Meine LAST PICTURE SHOW (Bertz 2016)