medienwissenschaft

Asymmetrien der Auflösung Über Eyal Weizmans Forensic Architecture. Violence at the Threshold of Detectability

Von Roland Meyer

© Forensic Architecture

 

Ein halber Meter. Das ist die Grenze der Auflösung von Satellitenbildern, die bis 2014 öffentlich zugänglich waren. Jedes Pixel entspricht also einem Bodenausschnitt von 50 cm Kantenlänge. Das Maß ist dabei kein Effekt technischer Beschränkungen, sondern Ergebnis behördlicher Regulierung. Seit den 1970er Jahren ist das digitale Bildraster, das die optische Satellitenaufklärung über die Erdoberfläche zieht, immer engmaschiger geworden – von 60 Metern pro Pixel bis auf unter einen Meter. Immer mehr Objekte wurden so aus dem Weltall erkennbar: zunächst einzelne Siedlungen, dann Straßen und Gebäude, schließlich Fahrzeuge. Die Auflösung von 50 cm pro Pixel markiert jene Schwelle, von der an einzelne menschliche Körper sichtbare Spuren auf dem Satellitenbild hinterlassen. Und eben dies ist einer der Gründe dafür, dass die maximale Auflösung kommerzieller Satellitenbilder vom US-Handelsministerium auf einen halben Meter limitiert wurde, obwohl technisch längst höher auflösende Bilder möglich sind. Die Begrenzung soll nicht zuletzt dem Schutz der Privatsphäre dienen, denn so lange Menschen nur als isolierte Pixel auf dem Satellitenbild erscheinen, bleibt ihre Anonymität gewahrt. Mittlerweile ist eine Maximalauflösung von 31 cm erlaubt, doch Menschen lassen sich auf den Bildern nach wie vor nicht unterscheiden.

Die Frage der Grenze der Bildauflösung firmiert prominent in Eyal Weizmans neuem Buch Forensic Architecture. Violence at the Threshold of Detectability, das wesentlich davon handelt, wie sich der potentielle Informationsgehalt technischer Bilder maximal ausschöpfen lässt. Weizman ist ausgebildeter Architekt und Professor für Spatial and Visual Cultures am Londoner Goldsmith College und in den letzten Jahren als Kopf der Gruppe Forensic Architecture bekannt geworden. Seit 2010 untersucht er mit einem Team von Architekt*innen, Künstler*innen, Filmemacher*innen, Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Jurist*innen, häufig im Auftrag von NGOs oder anderen transnationalen Akteuren, Fälle staatlicher wie nichtstaatlicher Gewalt und präsentiert die Ergebnisse dieser Analysen in Gerichtsverfahren wie in anderen Foren, deren Bandbreite von Ausstellungen im Kunstkontext bis hin zur UN-Generalversammlung reicht. Der Begriff «forensic architecture» ist dabei keine Neuerfindung Weizmans, sondern die Adaption einer bestehenden Praxis: Im englischsprachigen Raum firmieren Gutachter*innen, die Bauschäden für zivilrechtliche Verfahren analysieren, unter dieser Bezeichnung. Eine ähnliche architektonische Expertise ist auch da gefragt, wo Weizman und sein Team bauliche Strukturen auf die materiellen Spuren von Krieg und Gewalt hin untersuchen und etwa die spezifischen Muster der Zerstörung analysieren, die bei Drohnenangriffen entstehen. Doch im Laufe der Zeit ist ihre Arbeit komplexer geworden. Sie geht heute weit über die bauliche Spurensicherung hinaus und stützt sich auf aufwändige Techniken der bild-und datengestützten Rekonstruktion und Modellierung von Räumen, Ereignissen und Abläufen. Weizmans neues Buch ist die bislang umfassendste Darstellung und Reflexion dieser Praxis: zugleich Manifest und Handbuch, Sammlung von Projekten wie theoretische Standortbestimmung.

In dem Versuch, die eigene Praxis theoretisch zu verorten, nimmt die maximale Auflösung von Satellitenbildern eine zentrale Rolle ein, illustriert sie doch, was Weizman die «Schwelle der Erkennbarkeit» (threshold of detectability) nennt: Sie ist erreicht, wo die Größe eines aufgezeichneten Objekts gerade dem kleinsten physischen Element des Aufzeichnungsmediums entspricht. Das Objekt hinterlässt eine Spur, aber diese Spur ist nicht eindeutig und kaum zu verifizieren. Bei einer Auflösung von 50 cm gilt dies, wie Weizmans Team feststellen musste, nicht allein für menschliche Körper. 2011 wurde Forensic Architecture von Ben Emmerson, dem UN-Sonderberichterstatter für Terrorismusbekämpfung und Menschenrechte, beauftragt, US-Drohnenangriffe in Pakistan anhand der Spuren, die sie in der gebauten Umwelt hinterlassen haben, zu untersuchen. Die Auswertung von Satellitenbildern wäre ein nahe liegender Weg gewesen, um die bis 2012 von CIA und US-Regierung geleugneten Drohnenangriffe zu rekonstruieren. Doch auf öffentlich zugänglichen Satellitenbildern hinterlassen diese Angriffe praktisch keine Spuren. Denn die Luft-Bodenraketen, die dabei zum Einsatz kommen, zielen nicht auf die Zerstörung von Gebäuden, sondern auf die Tötung der Menschen darin. Daher explodieren sie nicht bereits beim Aufschlag auf das Dach, sondern durchstoßen mehrere Schichten von Decken und Böden, um erst in einem tieferen Geschoss zu detonieren. Das von außen sichtbare Einschlagloch bleibt dabei kleiner als 50 cm – auf dem Satellitenbild zeigt es sich, wenn überhaupt, nur als leichte Farbvariation, die keine eindeutigen Schlussfolgerungen zulässt. Für internationale Organisationen und Menschenrechtsgruppen markiert die maximale Auflösung öffentlich zugänglicher Bilder die Schwelle der Erkennbarkeit – US-Militär, Geheimdienste und ihre Partner verfügen dagegen über weit höher auflösende Bilder, nicht zuletzt durch das Drohnenprogramm selbst. Solche strukturellen Asymmetrien, so Weizman, spielen jenen in die Hände, die im staatlichen Auftrag Menschenrechte verletzen – und zwingt diejenigen, die an der Aufklärung dieser Verbrechen interessiert sind, alternative Wege zu gehen.

Weizmans Buch versammelt eine Fülle von Projekten, in denen Forensic Architecture verschiedenste Strategien im Umgang mit dieser Schwelle der Erkennbarkeit entwickelt hat. Auch nur eine Auswahl dieser Projekte vorzustellen, würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen. Doch lässt sich an ihnen eine Tendenz ablesen, die ebensoviel über Formen und Bedingungen heutiger Kriegsführung wie über den gegenwärtigen Status technischer Bilder verrät. Bewaffnete Konflikte finden heute zunehmend in dicht besiedelten urbanen Räumen statt und damit, so Weizman, in mediengesättigten Umwelten, in denen jedes Ereignis von einer Vielzahl von Sensoren registriert wird: Architektur kann, als Einschreibefläche materieller Spuren, so ein Sensor sein, ebenso wie die Masse digitaler Aufzeichnungsgeräte, Kameras und Smartphones, die den städtischen Alltag begleiten. In Zeiten von user generated content hinterlassen bewaffnete Konflikte massenhaft digitale Spuren in Form von Bildern und Videos in sozialen Netzwerken. Forensic Architecture hat daher in den letzten Jahren Verfahren perfektioniert, um die riesigen Mengen von Spuren, die ein Ereignis in physischen wie digitalen Räumen hinterlässt, zusammenzuführen, miteinander abzugleichen und in einem gemeinsamen Referenzrahmen zu verankern. An Stelle des Einzelbildes, bei dem die Schwelle der Erkennbarkeit mit den Grenzen der Auflösung zusammenfällt, treten so umfangreiche Bildarchive und Datensammlungen: «Beweisassemblagen» (evidence assemblages) aus Dokumenten und Aufzeichnungen unterschiedlichster Herkunft. Damit entsteht zugleich ein spezifischer Begriff bildlicher Evidenz: Was ein Bild beweist und wovon es Zeugnis ablegt, lässt sich angesichts immer weiter ausufernder Bilderströme erst dann erschließen, wenn man es systematisch mit anderen Bildern und Daten in Beziehung setzt.

Anschaulich wird diese Evidenz-produktion an der Analyse der Ereignisse des so genannten «Black Friday», des 1. August 2014, an dem bei der Bombardierung von Rafah im Gaza-Streifen durch das israelische Militär Dutzende von Zivilisten getötet und Hunderte von Gebäuden zerstört wurden. Im Auftrag von Amnesty International arbeitete Forensic Architecture ein Jahr daran, das Geschehen dieses Tages zu rekonstruieren. Weizman ist, was seine Haltung zu seinem Geburtsland Israel angeht, unerbittlich. Doch auch wenn man seine Haltung nicht teilt, ja selbst, wenn man die Schlussfolgerungen, die er aus seinen Analysen zieht, in Frage stellt, lohnt sich die Lektüre dieser Darstellung, gibt sie doch Einblick in eine Form avanciertester Medienpraxis, hinter die ein Nachdenken über den Wirklichkeitsbezug digitaler Bilder heute nicht mehr zurückfallen sollte.

Insgesamt hat Forensic Architecture in diesem Fall fast 7 000 Fotos und Videoclips ausgewertet, die im Laufe dieses Tages entstanden waren und später bei YouTube, Twitter und Facebook hochgeladen wurden, dazu Zeug*innenaussagen, Militärberichte, Krankenhausakten und Nachrichtenmeldungen. All dies bildet die Datenbasis einer hochkomplexen Rekonstruktion: Jedes Bild und jedes Ereignis, die Positionen der Kameras, die Wege von Zeug*innen und die Einschläge der Raketen werden dafür in einem dreidimensionalen Computermodell räumlich lokalisiert und auf einer Zeitachse verortet. Das ist umso aufwändiger, als den Bildern und Videos aus dem Netz die Metadaten fehlen, mit denen sich Ort und Zeit ihrer Entstehung eindeutig bestimmen ließen. Die Etablierung einer Chronologie der Ereignisse erfordert daher für jedes einzelne Bild die Suche nach signifikanten visuellen Markern. Neben Schlagschatten, die im Abgleich mit einer Simulation des Sonnenstands als innerbildliche Uhren lesbar werden, erweisen sich die Rauchwolken der Raketeneinschläge als aussagekräftige Marker. Sie sind weithin sichtbar und daher gleichzeitig auf einer Vielzahl von Aufnahmen von unterschiedlichen Standorten zu sehen, vor allem aber ist die visuelle Form jeder einzelnen Wolke eindeutig identifizierbar. Mithilfe eines «Wolkenatlas», der die morphologische Vielfalt der Rauchwolken in ihren je verschiedenen Ansichten und zeitlichen Verläufen katalogisiert, gelingt es Forensic Architecture, die verstreuten Bilderströme zu synchronisieren und aus ihnen etwas zu generieren, was Weizman einen architektonischen Bildkomplex (architectural image complex) nennt: ein virtuelles Stadtmodell als verräumlichtes und verzeitlichtes Bildarchiv.

Es ist nicht allein ihr politischer Einsatz, der diese Praxis so relevant und Weizmans ebenso kluges wie engagiertes Buch lesenswert macht. Weizman führt auch vor, wie wenig die Dichotomie von Aufzeichnung und Simulation, «berechneten» und «errechneten» Bildern, die lange Zeit die Debatte um digitale Bilder bestimmt hat, heutiger Bildpraxis gerecht wird. In der Produktion der «Beweisassemblagen» und « architektonischen Bildkomplexe » werden vielmehr indexikalische Aufzeichnung und datenbasierte Simulation in nahezu jedem Produktionsschritt miteinander verschränkt: Positionen virtueller Kameras und errechnete Flugbahnen von Geschossen werden mit den fotografisch aufgezeichneten Bewegungen von Körpern im Raum synchronisiert, virtuelle Modelle von Lichtverhältnissen und Wolkenformationen mit den verfügbaren visuellen Bildinformationen abgeglichen. Das Ergebnis ist nichts weniger als eine Neuerfindung dokumentarischer Praxis in Zeiten massenhafter, distribuierter Bildproduktion – eine Praxis, die nicht mehr im isolierten Bild nach einer authentischen Repräsentation der Wirklichkeit sucht, sondern für die Bilder wie Daten fragmentierte und interpretationsbedürftige Splitter der Wirklichkeit sind, die erst als Bausteine einer nachträglichen Rekonstruktion Zugang zur Wirklichkeit erlauben. «Viewing in this context», so lautet daher vielleicht einer der zentralen Sätze des Buches, «requires construction and composition – thus, architecture.» 

 

Eyal Weizman: Forensic Architecture. Violence at the Threshold of Detectability (Zone Books 2017)