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Ideologische Einkreisung Die Zeitschrift Filmkritik vor 50 Jahren

Von Bert Rebhandl

 

Im Januar 1967 bekam die Zeitschrift Filmkritik Post aus Ostberlin. Die Redaktion sah sich dabei mit dem Vorwurf konfrontiert, ein Revanchistenblatt zu machen – wobei man allerdings der Genauigkeit halber feststellen muss, dass dieser Begriff im Brief selbst gar nicht fiel, sondern nur in der Überschrift, dass er also von der Filmkritik auf sich selbst angewendet wurde. Ironisch? Um das zu verstehen, muss man ein wenig historische Begriffsgeschichte betreiben. Denn was Revanchismus im Jahr 1967 in der deutsch-deutschen Auseinandersetzung bedeutete, versteht sich heute gar nicht mehr von selbst. Und wie kommen die jungen westdeutschen Filmkünstler dazu, «einer formierten Integration der Kultur unter Einschluß der Filmkunst» zugezählt zu werden, mit der die Bundesrepublik angeblich die DDRunter Druck zu setzen versuchte?

Für die DDR war die BRD mit ihrer Westbindung und ihrem Wirtschaftswunder prinzipiell «revanchistisch», und zwar über die konkreten Fragen der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der (verweigerten) Akzeptanz einer Teilung der Welt in Systemblöcke hinaus. Die DDR unterstellte der BRD, sich mit der Nachkriegsordnung nicht abfinden zu wollen. De facto war es aber tatsächlich eher der Bereich der Kultur, und nicht der militärische, in dem der «Revanchismus» sich zeigen konnte – oder in dem eine Zeitschrift sich diesen Begriff selbst unterjubeln konnte, in der die «Ideologen der ästhetischen Linken» sich so weit durchgesetzt hatten, dass sie nun beinahe schon als «dienlich» erscheinen konnten, dienlich in einer Auseinandersetzung um kulturelle Hegemonie, in der die DDR von Beginn trotz ihres antifaschistischen Gründungsmythos chancenlos war. Konkret «dienlich», so schrieb der Unterzeichner Hermann Herlinghaus «auf dem Gründungskongreß der Film-und Fernsehschaffenden der DDR», «sind dabei inzwischen Objekte geworden, die vor einiger Zeit noch gar nicht sehr funktionstüchtig waren: die Filme junger westdeutscher Regisseure». Die Filmkritik beschäftigte sich, wenige Jahre nach Oberhausen und im elften Jahrgang ihres Bestehens 1967, intensiv und kontrovers mit diesen «Objekten». Sie tat das auf eine Weise, die aus Sicht der DDR nur um einige gedankliche Ecken herum (von Dialektik zu sprechen, wäre übertrieben) in den Dienst der westlichen Sache gestellt werden konnte. «Ihre Tendenz ist die ideologische Einkreisung der neu erschienenen Filme im Sinne eines Nonkonformismus, der alles negiert, was einer entfremdeten Ästhetik widerspricht und der damit politisch dem anmaßenden bonner Anspruch auf Alleinvertretung das theoretische Rüstzeug liefert.»

Wie kommt man diesem Satz bei? Neu erschienene Filme werden ideologisch eingekreist, so viel ist einmal klar. Die (filmkritische) Einkreisung erfolgt im Sinne eines «Nonkonformismus, der alles negiert, was einer entfremdeten Ästhetik widerspricht». Um diese doppelte Widerspruchsnegation zu verstehen, müsste man wissen, was mit entfremdeter Ästhetik gemeint ist. Vereinfacht aufgelöst müsste es dann auch ein Nonkonformismus sein, der eine nicht entfremdete Ästhetik nicht negieren müsste, weil sie ihm nicht widerspricht. Wo aber findet man eine solche Ästhetik? Das müsste man dann wohl den Kongreß der Film-und Fernsehschaffenden der DDR fragen, aber der war damals gerade in Gründung – ein Jahr und ein paar Wochen nach dem XI. Plenum des Zentralkomitees, das im Dezember 1965 mit den Worten von Kurt Hager verkündet hatte: «Die Kunst ist immer Waffe im Klassenkampf». Die nicht waffentauglichen Filme des Jahrgangs wurden verboten.

Ein Leserbrief von wenigen Zeilen macht deutlich, wie weit die intellektuellen und ideologischen Konstellationen von 1967 von den heutigen entfernt sind. Die Zweiteilung der Welt durch die Alternative des real existierenden Sozialismus, die eine besonders wichtige Konkretion in Vietnam bekam, war zu diesem Zeitpunkt für eine binäre Logik in der Filmkritik nicht mehr zu gebrauchen – die Zeitschrift war ja bereits durch ihr Gründungsdatum vor einem strengen Stalinismus gefeit, bewegte sich in den frühen 1960er Jahren entlang der westeuropäischen Erneuerungsbewegungen des Kinos und der «aufstrebenden Kinematografien» der Entwicklungsländer in Richtung einer differenzierteren Geopolitik der Filmkritik und ließ damit allmählich ihre «wilden Jahre der Barrikadenschwärmerei» hinter sich, wie Herbert Linder die ersten Jahre resümierte. Im ersten Heft des Jahres 1967 berichtet Helmut Färber aus Leipzig, von dem renommierten Dokumentarfilmfestival in der DDR. Er entwickelt anhand einiger Filme zum Thema Vietnam en passant eine kleine Ästhetik für «aufklärende, engagierte Filme»: «sie müssen das Material zum Leben bringen, ihre Argumentation aus dem Material selbst entwickeln, nicht aber das Material so arrangieren, daß es auf die Argumentation paßt und diese nachträglich zu bestätigen scheint. Vor allem müssen politisch engagierte Filme heute dem Zuschauer einen Rest eigener Denkarbeit überlassen. Das ist unabdingbare Voraussetzung für ihre Wirkung. Gerade diese Bedingungen erfüllen die Filme von Heynowski und Scheumann nicht (auch nicht ihr Vietnam-Blutspende-Film 400 cm2, obwohl dieser durch eine stilisierte Begleitmusik von Paul Dessau Interesse gewann).»

Formulierungen wie diese sind auch Versuche, eine Spaltung zu überwinden, die eben auf diese berühmte Alternative zwischen einer politischen und einer ästhetischen Linken hinauslief, der aber ein erkenntnistheoretisches Motiv zugrundelag, das Herbert Linder in einer Diskussion zum Selbstverständnis der Filmkritik mit dem Umstand andeutete, «daß ein Teil der Mitarbeiter nur noch proklamierte, der andere sich durch das fortwährende Lesen, Filmsehen und Schreiben verändern ließ». Man könnte damit auch den Unterschied zwischen ideologischer und intellektueller Arbeit beschreiben. Ein Film ist immer ein «Dokumentarfilm seines Themas», man darf diese Dokumentation aber nicht zu sehr durch «rationale Raster» auf eindeutige Ableitungen hin überprüfen. Linders Text (neben weiteren Überlegungen von Helmut Färber und Dietrich Kuhlbrodt) ist auch ein bemerkenswertes Dokument redaktionsinterner Dynamiken (von Weitem kann man da sogar noch die ritualisierte Selbstkritik kommunistischer Kader, wo nicht gar die Rhetorik von Schauprozessen heraushören). Linder lässt durchblicken, dass es nicht zuletzt die Leserschaft ist, die eher nach «rein rationalen Thesen» verlangt, also nach einem Jargon, zu dem eine mit ihrem Erziehungspublikum solidarische Redaktion nicht leicht auf Abstand geht. «Ihre kritische Position verteidigt Ausdrucksweisen des Films, die ihrer eigenen Sichtweise fremd sind. Auch die Redaktionspraxis tut dem Vorschub. Enno Patalas-Redakteur macht die Wandlungen von Enno Patalas-Kritiker nur zögernd mit, teils durch die historisch gewachsene Zeitschrift behindert.»

Frieda Grafe hat sich vielleicht am stärksten von ihrem fortwährenden Lesen, Filmsehen und Schreiben verändern lassen, oder auch umgekehrt: Sie musste sich am wenigsten verändern lassen, weil sie immer schon in dieser Bewegung geschrieben hat. Im Februar 1967 widmet sie sich einem weitgehend vergessenen Film, den sie als «der erste deutsche Cineastenfilm» versteht: Wilder Reiter GmbH von Franz-Josef Spieker. Zum «Cineastenfilm» wird er durch den «jahrelangen intimen Umgang (des Regisseurs, B. R.) mit dem Medium». Die Geschichte eines jungen Mannes aus Westfalen, der nach München geht, um Amerika näherzukommen, und der das Sehen lernt, ist für Grafe ein Beispiel für eine vermittelte Beobachtung: Sehen lernen heißt immer schon, den Unterschied zwischen den «Quellen» des Blicks mitzusehen. «Durch sein Tempo, durch sein Verhältnis zum Publikum lässt Spiekers Film die Beschäftigung vor allem mit dem amerikanischen Film erkennen. Aber sein Amerikanismus ist ein anderer als der der jungen französischen Regisseure, die ihre Hollywoodlektion gelernt haben; er entspringt nicht der Kinorealität Amerikas, sondern hat direktere Quellen. Vor allem ist er im Sujet des Films selbst verankert. Während die Filme der jungen Franzosen die Berührung mit einem Amerika in der zweiten Potenz reflektieren, stellte Spiekers Film den konkreten Zusammenstoß zweier Welten dar, wie er sich seit 1945 so nur in Deutschland vollzogen hat.»

Dieser Zusammenstoß zweier Welten wird in der Perspektive zweier Deutschlands zu einem Geschehen, das man entweder als «formierte Integration» verstehen kann (mit einem nur vorgeblich «rationalen Raster», das aber Kohärenz durch Jargon bekommt), oder aber als Anstoß zu diesem fortwährenden Lesen (und Filmschauen und Schreiben), das in der Lage ist, Filme (als Gegenstand der Filmkritik und als Teil der Lebenswelt) immer wieder auf formierte Desintegration hin anzuschauen, und unter anderem darin ihr Potential sehen zu können. Ideologisch eingekreist kann immer nur das werden, was sich nicht bewegt. Das Kino war aber 1967 mehr denn je in höchster Bewegung, und es war wohl ein Akt des umgekehrten Revanchismus (eines Revancherevanchismus), dass er der sich aufklärenden Filmkritik vorwarf, sie würde für Bonn schreiben, während in der DDR gerade (vergeblich) ein Kino entworfen wurde, das sich so wenig wie möglich bewegt, es sei denn, im Dienste der Proklamation von Standpunkten. 

 

Dieser Text versteht sich als Auftakt zu einem Projekt, mit dem auf der cargo-Webseite von nun an die Hefte der Filmkritik ab Juli 1967 im monatlichen Rhythmus gelesen und exzerpiert werden sollen – eine fortlaufende Parallelaktion, mit der wir uns nicht in eine genealogische Beziehung zur Filmkritik setzen wollen; im Gegenteil geht es eher um Notizen zu einem Abstand, der mit der Ziffer der 50 Jahre zwischen 1967 und 2017 (oder 1982 und 2032, wenn man einmal das derzeit noch utopisch wirkende Fernziel dieser Langzeitbeobachtung ins Auge fassen möchte) nur unzureichend markiert ist. Rückbezüge und historisch weggefallene Anschlussmöglichkeiten, theoretische Konzepte und vergessene Namen, untergegangene Staaten und gegebenenfalls auch aktualisierbare Parteinamen – wir sind gespannt darauf, was sich findet und was für ein mögliches Selbstverständnis von cargo relevant werden kann. Das Projekt ist dem Andenken an Dr. Jochen Briegleb gewidmet, dessen vollständige Sammlung der Filmkritik durch eine List des Weltgeists an uns fiel.