experimentalfilm

Übergangsmenschen Eine DVD-Edition zum sowjetischen Kino 1927–1932

Von Barbara Wurm

Bett und Sofa (Abram Room, 1927)

© absolut Medien

 

«Warum freuen sich diese Menschen so?», fragt mein 8-jähriger Sohn, als wir Das Leben in der Hand (Žizn’ v rukach) schauen, eine Ukrainfilm-Produktion aus dem Jahr 1931, in der gleich eingangs aus allen Etagen einer riesigen konstruktivistischen kommunalen Wohnanlage die Menschen zusammen strömen und – so es sich um Frauen handelt – ihre Kinder mit strahlenden Gesichtern in den integrierten Kindergarten bringen oder aber – die Männer nun in Überzahl – jubilierend mit Handtüchern wedelnd in die Gemeinschaftsdusche marschieren.

Die richtige Antwort auf seine Frage zu finden ist nicht einfach: Entweder verstrickt man sich im Reich der Tautologien des angehenden SozRealismus («Na, weil sie glücklich sind» … «Weil ihr neues Leben schön ist») oder man sucht – entsprechend des kargen Sujet-Angebots des Films – tatsächlich nach tiefer liegenden Begründungen. «Sie freuen sich, endlich duschen zu können, denn früher lebten sie unter unwürdigen, unhygienischen Bedingungen.» Oder – als fertig angerichtete Teller auf einem Großkantinen-Fließband an den Kommunarden vorbeiziehen: «Sie essen lieber gemeinsam und sind froh, dass sie nicht selbst kochen müssen.»

Sehr überzeugt ihn das alles nicht. Angesichts seiner eigenen Erfahrungen («Sooo gerne dusche ich ja nicht!», «Richtig eklig, was die essen müssen!») findet er die Freudenergüsse auf dem Bildschirm übertrieben und bestimmte, von der halbkühnen Montage nahegelegte Energie-Metaphern – Benzin schluckende Traktoren || Tee trinkende Erwachsene || Muttermilch saugende Baby-Neu-Menschen – wenig prickelnd. Lebten wir in der frühen, ‹revolutionären› Sowjetunion, deren Aufbruchsstimmung (hin zum ‹neuen Leben›) jene knallrote Doppel-DVD-Box einfangen will, auf der Das Leben in der Hand gemeinsam mit drei weiteren Spielfilmen, drei Animationsfilmen und Dziga Vertovs ‹dokumentarischer› Kinopravda No. 18 enthalten ist, so wären diese spontanen Reaktionen des Kindes in eine Hundertschaft von Statistiken eingespeist worden, die unter dem Label der «Zuschauerforschung» für die Optimierung filmischer Effekte durch vermessene, notierte und rückgekoppelte Zuschaueraffekte sorgen sollten, während gleichzeitig die Wahrnehmungsfähigkeit der Neuen Menschen vor der Leinwand von den Experimenten des Kinos herausgefordert wurde. Heute hingegen sind wir gut beschäftigt mit der historischen Semantik von Begriffen wie «Ausschuss», «Stoßarbeiter», «Bummelant», «Tod den Kulaken» oder auch «Gegenplan», wenn wir nur den thematischen Gehalt von frühstalinistischen Filmen wie DasLeben in der Hand dechiffrieren wollen.

Neben Aleksandr Ptuškos Beherrscher des Alltags (Vlastelin byta, 1932), dem  allerersten sowjetischen Puppentrickfilm mit Ton» (so der Booklet-Text), ist Das Leben in der Hand die zweite veritable Entdeckung der Absolut Medien-Box, die Alexander Schwarz und Rainer Rother, beraten vom russischen Filmhistoriker (und FIAF-Vizepräsidenten) Petr Bagrov, herausgegeben haben. Die Gegenüberstellung dieser beiden Spätwerke der skizzierten Epoche – «Der Neue Mensch. Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland» nimmt die Jahre 1924 bis 1932 ins Visier – bringt aber auch auf augenscheinliche Weise die ästhetische Bandbreite zum Vorschein, mit der die Filmkunst auf die einschneidenden (kultur-)politischen Veränderungen des Jahres 1928 (dem Beginn des ersten Fünfjahresplans) reagierte. Wo Anima-Superstar Ptuško mit einem verschrobenen Figuren-Arsenal (inklusive einer für das ‹alte Lebe › stehenden Bettwanze), den Šostakovic-artig schrägen Liedkompositionen Sergej Rusovs und einer Vielzahl von Tricks (einer im Bilderrahmen animierten Fotografie etwa) die überkommene Spießbürgermentalität der ‹Übergangsmenschen› aufzeigt, sein Personal in eine neue zugewiesene saubere Wohnanlage umziehen lässt und dabei – wie Aardmans – ganze Universen kreiert (hier: schmutzige Abbruchhütten in der Vorstadt vs. neusachlich-modernistisches Badewannen-Design), mündet die Porträtierung der Neuen Menschen in DasLeben in der Hand in Denunziation und Säuberungsaktivismus. Die erste von drei Regiearbeiten des Drehbuchautors und Filmemachers David Mar’jan, der als einer der schärfsten ‹antiformalistischen› Kritiker von Sergej Eisensteins Die Bežin-Wiese in die Geschichte des sowjetischen Kinos eingegangen ist, steht repräsentativ für die Perfidie der quer durch die Familien gehenden Alkoholiker-Arbeitsverweigerer-Saboteure-Kulaken-Schädlings-Bekämpfungs-Kampagnen, die der stalinistische Kulturbetrieb auch im (und durch das) Kino lancierte. Mag Das Leben in der Hand zwar vielleicht thematisch durch die Verschmelzung von Maschine & Arbeiter, Stadt & Dorf, Fabrik & Kolchos an Eisensteins Generallinie angelehnt sein, so dokumentiert der Film doch eher die visuell weitgehend uninspirierte, geradlinige und aalglatte wie hölzerne Ästhetik des frühen sozialistischen Realismus als die Nachwirkungen der Sowjetavantgarde der 1920er Jahre.

 

Oblomok imperiiaus (Fridrich Ermlers, 1929)

© absolut Medien

 

Der Topos des Neuen Menschen stellt die sehr weite Themen-Klammer der Doppel-DVDdar, deren Verdienst – neben den beiden Entdeckungen – v. a. darin besteht, drei zentrale Klassiker des sowjetischen Spielfilms in ausgezeichneter Bildqualität und deutsch untertitelten Fassungen zugänglich zu machen: Abram Rooms Bett und Sofa (bzw. Dritte Kleinbürgerstrasse / Tret’ja Mešcanskaja), die berühmte sozialistisch-emanzipatorische ‹Liebe zu dritt› – so auch der Alternativtitel: Ljubov’ v troem –, für die Ästhet Room gemeinsam mit dem Chef-Schlitzohr des Russischen Formalismus, Viktor Šklovskij, das Drehbuch verfasst hatte (1927); Nikolaj Ekks Der Weg ins Leben (Putevka v žizn’, 1931), jener Tscheka-Chef Feliks Dzeržinskij gewidmete Umerziehungsfilm, der sowohl im Hinblick auf die Methoden der gesellschaftlichen Integration verwahrloster Straßenkinder als auch in Sachen Filmton als herausragendes Experiment gilt («allererster sowjetischer Tonfilm mit durchgängiger Tonspur aus Geräuschen, Sprache und Musik», vgl. Booklet-Text); und schließlich das unbestrittene Meisterwerk der sowjetischen Stummfilmavantgarde, Fridrich Ermlers Oblomok imperiiaus dem Jahr 1929, das im damaligen Verleihbetrieb den Titel Der Mann, der das Gedächtnis verlor erhielt, eigentlich aber so viel wie Splitter/Fragment/Überbleibsel des Imperiums/Zarenreiches bedeutet.

Diese Formel jedenfalls – «Ihr seid die Überbleibsel der alten Ordnung» – schleudert der (am Ende nicht mehr taumelnde) Held des Films, Ivan, jenen (eben doch noch nicht) Neuen Menschen entgegen, mit denen sich der kriegstraumatisierte ehemalige Unteroffizier des Ersten Weltkrieges konfrontiert sieht, als er mehr als zehn Jahre nach der Oktoberrevolution mit (von detonierten Kanonen) ausgelöschtem Gedächtnis in seine Heimatstadt «Petersburg» aufbricht, die – ohne sein Wissen – in der Zwischenzeit nicht nur mehrfach umbenannt wurde, sondern sich überhaupt in eine neue Welt verwandelt hat. In einer denkwürdigen Szene steigt Ivan aus der Straßenbahn aus, deren Tempo ihn in einen nur schwer zu verarbeitenden Geschwindigkeitsrausch versetzt hat, und versucht staunend Herr seiner Sinne zu werden. Wo einst ein imperiales Denkmal war, steht jetzt ein riesiger Lenin mit väterlich ausgestrecktem Arm, statt Zarenporträt auf der Münze strahlt nun Hammer und Sichel. Da, wo früher alte Holzbaracken standen, stehen jetzt (der Film wurde in der Konstruktivismus-Hauptstadt Charkiv gedreht) supermoderne Prunkstücke der neuen Architektur.

Oblomok imperiiist der letzte Stummfilm im Œuvre des bolschewistischen Tschekisten und einzigen Parteiausweis-Inhabers der russischen Avantgarde Fridrich Ermler (geb. als Vladimir Breslav), ein visuelles Feuerwerk, das vielleicht wie kein anderes Werk der Zeit den sozialen und politischen Umbruch als psychisch-sinnliches Ereignis markiert und dabei nicht nur eine Unzahl experimenteller filmischer Verfahren zum Einsatz bringt, sondern auch der (später) verfemten Psychoanalyse einen zentralen Stellenwert einräumt (Freudianer Sergej Eisenstein soll mitgewirkt haben). Ivan Filimonovs spärliche Erinnerungsspuren an die Zeit vor den traumatischen Kriegserfahrungen werden getriggert vom Rattern einer Nähmaschine, deren Spule – Freuds Fort-Da-Symbol … – davonrollt, auf den Fußboden, wo Ivan auf eine Streichholzschachtel mit der vieldeutigen und in modernistischer Type gedruckten Aufschrift «Epocha» stößt (der er leitmotivisch im weiteren Handlungsverlauf immer wieder begegnen wird). In der Kriegserinnerungssequenz übernimmt Ivan-Darsteller Fedor Nikitin gleich mehrere (antagonistische) Rollen, was nicht zuletzt auf die Vorherrschaft der Signifikanten verweist, die Psychoanalyse und Formalismus teilen. Oblomok imperii lässt sich als profunde, psychoanalytische (Auf-)Klärung der vermeintlichen Wahrnehmungsstörungen des Helden lesen, die ihm in Überblendungen und Kalauer-Begegnungen mit Repräsentanten der neuen Ära vor Augen führt, dass er selbst nun der «Herr» ist: Bevor er  nach Hause› fährt, erscheint ihm im Fenster des Zuges das Bild einer Frau, die ihn an früher erinnert – seiner Frau, wie er alsbald begreift, nach der er nun sucht und die er (wie im Verschiebungsspiel des Traums) über den Umweg ihres neuen Gatten (eines bürokratischen Kulturarbeiters, der Emanzipation predigt, aber Patriarchat lebt) wiederfindet. Das Gesicht der Ljudmila Semenova, Star des sowjetischen Stummfilms und ultimativer Typus der Neuen Frau, beherrscht nicht nur diesen Film; auch in Rooms Bett und Sofa repräsentiert es den Ort jenes gesellschaftlichen Umschwungs, der sich an der Oberfläche (Bubikopf, etc.) viel schneller vollzieht als in den Köpfen – hier endet die vermeintliche neue sexuelle Freizügigkeit und die Liberalisierung der Abtreibungsgesetze bekanntlich damit, dass sich die schwangere Heldin gegen das Gebot der Männer entschließt, nicht abzutreiben, das Kind auf die Welt zu bringen und es alleine (und nicht etwa mit zwei Vätern) zu erziehen.

Oblomok imperii mag ‹altbackener› erscheinen, er markiert aber gerade dadurch die Quintessenz des revolutionären Umbruchs, der sich eben nicht über Nacht vollzogen hat, sondern einen langsam sickernden Transformationsprozess darstellte. Der Neue Mensch ist hier nicht der vielfach – auch im Booklet – aufgerufene proletarische selbstoptimierte Maschinenmensch, sondern eine ambivalente Figur, an der sich die neue Lebensweise (novyj byt) auf vielfältige und widersprüchliche Weise aufzeigen lässt. Dass der ‹Alltag im revolutionären Russland› viele Überschneidungen mit universellen Modernisierungs-und Urbanisierungstendenzen aufwies und die sowjetische Filmavantgarde Teil einer Weltkultur war, macht auch die für die vorliegende DVD-Edition verwendete, 1967 in der UdSSR entstandene Rekonstruktion von Oblomok imperii deutlich, die nicht nur die damals wiederentdeckte Originalkomposition Vladimir Deševovs einspielte, sondern auch als einzige der nun digital zur Verfügung stehenden Fassungen das berühmte Bild-Zitat des George Grosz’schen Christus mit Gasmaske beinhaltet: Da es in keiner der russischen Kopien mehr als Footage vorhanden war, wurde eine Fotografie einmontiert.

Ergänzt von den zwei originellen, 1928 entstandenen Agit-Zeichentrickfilmen Der Samojedenjunge (Samoedskij mal’cik) – der Geschichte der Politisierung und Sozialisierung der ‹ethnischen Minderheiten› inklusive Schamanismus-Entlarvung – und Der schreckliche Wawila und Tante Arina (Groznyj Vavila itetka Arina) – einem Beitrag zur Durchsetzung des Internationalen Frauentags (und der Frauenemanzipation) auf dem Dorf – sowie der 18. Kinopravda, in der Vertov die (stark inszenierte) Oktobertaufe eines neugeborenen Neuen Menschen zeigt, gibt die Doppel-DVD einen umfassenden Einblick in die Bandbreite der filmischen Formierung und Reflexion des ‹revolutionären Alltags›. Ob diese «zeitgenössischen Filme», der These des Booklet-Textes folgend, tatsächlich das «Alltagsleben (byt) nach der Revolution und vor der stalinistischen Zeit anschaulich, realistisch und unterhaltsam wider[spiegelten]», sei dahingestellt (die bewusst ‹nicht-realistische › Formate einerseits und die bereits im Zeichen des Stalinismus entstandenen Filme der 1930er Jahre andererseits widersprechen dem). Auch die anvisierte Rekonstruktion der eigenständigen Gattung des ‹Alltagsfilms› (bytovoe kino) wird nicht verwirklicht, ‹fehlen› zu diesem Zweck denn Kultur-Spielfilme wie Prostitutka oder zentrale byt-Filme wie etwa Sergej Jutkevics Spitzen (Kruževa, 1928). Aus filmhistorischer Perspektive hätte eine Beschränkung auf einzelne Werke (etwa die Edition der Kinopravda-Serie) oder Autoren (Room, Ermler) die Möglichkeit der immer noch ausstehenden umfassenden filmwissenschaftlichen Erschließung zentraler Arbeiten des internationalen Stummfilmkinos eröffnet. Dennoch ist Der Neue Mensch – auch dank des mit erhellenden zeitgenössischen Textauszügen bestückten Booklets (von Bruno Frei über Lev Trockij bis zu Aleksandra Kollontaj) eine hochverdiente Edition, die das revolutionäre sowjetische Kino jenseits des großen Eisenstein kenntnisreich ausleuchtet. 

 

Der Neue Mensch. Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland (Filmedition Suhrkamp / Absolut Medien, 2 DVDs)