spielfilm

Alles ist möglich und vieles geschieht Bibelstechen, himmelhochjauchzende Kanonperversion: João Pedro Rodrigues’ O Ornitólogo

Von Ekkehard Knörer

O Ornitólogo

© Blackmaria

 

Ein Mann schwimmt im Medium seines Forschungsobjekts. Das Medium ist das Wasser. Der Forschungsgegenstand ist die Ente. Keine gewöhnliche Ente, sondern – aber was weiß ich – eine, die am Kopf das Gefeder mutig als Schopf trägt. Der Mann, das können, sollen, dürfen wir dem Titel entnehmen, ist Ornithologe. Er ist auf der Suche nach dem schwarzen Storch. Mit dem Fernglas blickt er auf Enten im Wasser, in dem er mit seinem Kanu paddelt und treibt. Er blickt auch nach oben, zum Himmel, auf die Berge in der atemberauben den Landschaft, die die ganze Breite der Leinwand ein nehmen darf: Da sieht er – aber was weiß ich – Adler. Und wir sehen Adler, gerahmt durch das Fernglas Binokular; eine Maske, die das Kinobild recht konventionell trägt bei Übernahme des subjektiven Blicks des Vogelforschers, des später auch vögelnden Forschers, des Forschers, der ein sehr seltsamer Heiliger ist. 

Etwas anderes aber als sein eigener Blick ereignet (oder eräugnet, wie Herder gern schreibt) sich auch. Der Adler erst, fliegend, später eine Eule, meist sitzend, und eine weiße Taube, sie auch: Sie blicken zurück. Nicht dass die Kamera so ein bisschen die Perspektive des Vogelvolks übernähme – nein, das ist ein zu hundert Prozent an die iegenden Wesen übereigneter Blick. Eine Subjektive, die João Pedro Rodrigues dem Tier unterschiebt. Aber ist das Tier denn Subjekt? Wie ist es, mit Thomas Nagel gefragt, eine Fledermaus, ein Adler, eine Eule und eine weiße Taube zu sein? Wie sieht der Adler, die Eule, die Taube den Menschen, denn auf diesem haftet der Gegenblick ausnahmslos? Teilen sie eine gemeinsame Welt? Oder lebt das eine neben dem anderen kategorial different? Was macht der Blick des Tiers mit dem Menschen? 

Allerlei, darf man sagen, denn alles Mögliche kommt nach dem idyllischen Natureingang mit paddelndem Forscher ins Rutschen. Der Mann gerät in Strudel und Schnellen, es treibt ihn davon. Er stirbt, aber lebt. Das geht in einer Tour so in diesem Film. Was lebt, das stirbt. Was gestorben ist, steht wieder auf. Lebende Wesen stehen starr und tot im Wald. Alles blickt. Der Mann, der Ornithologe – ich halte mich fest am Begriff – trägt den Namen Fernando. Einerseits. Er ist unterwegs in gott- und menschenverlassenen Regionen Portugals, in die sich andererseits zwei Chinesinnen, die sich auf dem Jakobsweg wähnen, verirren. Und nicht nur sie. Überhaupt ist da viel Andererseits. Auch Gott ist numinos mit dabei. Zum Beispiel ist auch Fernando nicht einfach Fernando, schon weil ihn die beiden Chinesinnen Fei und Ling (er bringt ihre Namen stets durcheinander) als den heiligen Antonius adressieren – der im übrigen auch der Stadtheilige von Lissabon ist: ein portugiesischer Heiliger, der in Rimini die Fische bekehrte und der in Padua starb. 

Vor fünf Jahren hat Rodrigues einen Kurzfilm gedreht, über den Heiligen, wenn man so will, der Film trägt jedenfalls den Titel Morgen des Tags des heiligen Antonius (2011). Es ist ein Zombiefilm: Junge Menschen kommen ans Tageslicht aus U-Bahn-Schächten, schleichend, kotzend, den Verkehr missachtend, fast wird der eine und die andere überfahren, in einer unklaren Art konzertierter Aktion, die an den ersten Teil von Bertrand Bonellos Nocturama erinnert. Etwas sammelt sich, mehr untot als lebendig, die Straßen sind leer, die jungen Menschen kippen um und stehen wieder auf. Eine Bewegung, die nicht ziellos erscheint; noch unklarer als bei Bonello jedoch bleibt, was diese Menschen antreibt. Es endet auch ganz ohne Militanz, nur ein Blumentopf zerschellt an einer Statue des Antonius. 

Was in Der Ornithologe weiter passiert zu verraten wäre ein Spoiler, wie es ein Spoiler wäre zu sagen, dass Jesus, Tod am Kreuz hin oder her, am dritten Tag aufersteht. Aber weil in diesem Film Zeichen und Wunder und Motive aus der Bibel und der Kirchengeschichte nach Lust und Laune kursieren und vagabundieren, darf man verraten, dass Fernando in eines Verstorbenen namens Jesus Wunde die Finger bohrt, wie es der ungläubige Thomas in Caravaggios berühmtem Gemälde tut, das die Worte des Johannesevangeliums sehr buchstäblich nimmt: «Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.» 

Also legt, nein bohrt Fernando, der auch Antonius ist (oder wird), Jesus, der auch Thomas ist (oder wird), schmatzend die Finger in die Wunde, die das von Fernando (oder Antonius) geführte Messer Thomas (oder Jesus) schlug. Blut aus der Brust, aufgeleckt von einem der vielen Hunde, die in Rodrigues’ Filmen immer präsent sind, ein formidabler Hütehund hier, der den Ziegen zeigt, wo der Hammer hängt, eine blutende Brust wie die von To die like a man 2009), dem nicht minder fabelhaften Vorgänger, nur dass Tonias blutende Wunde im Silikon ihren Grund hatte, das ihren geschlechtsverkehrten Körper zum vergifteten und versehrten Körper gemacht hat – wenngleich der tiefere Grund vielleicht in ihrem vergifteten und versehrten Geist lag, der an den Herrn zu glauben nicht lassen wollte, obwohl der für eine*n wie sie*ihn keinen Platz in der von ihm geschaffenen Ordnung vorsieht. So kehren in Rodrigues’ Universum Hunde und Heilige und andere Motive wieder, an er warteten und unerwarteten Stellen. Bibelstechen, himmelhochjauchzende Kanonperversion. Alles ist möglich und vieles geschieht. 

Später, noch später, in Padua dann, aber sogar vorher bereits, ist Fernando/Antonius kein anderer als João Pedro Rodrigues himself, also teilt und vervielfältigt sich die Titelfigur, sonst von Paul Hamy gespielt, die so singularisch daherkommt, in eine plurale vögelnde, badende, sterbende, auferstehende, mordende, regieführende, vom Wege abkommende, unter Vogelsubjektivenbeobachtung stehende Selbdritt-Ornithologen-Bande der ganz und gar (un)heiligen Art. Es ist in diesem Film mutmaßlich so, dass Adressierungen Mutationen bewirken. Und es wird verkehrt herum motiviert: Jesus heißt Jesus der Wunde in der Seite wegen, die ihn ereilt. Als Thomas glaubt er nicht an sich selbst. Auf seine doch noch einmal andere, nämlich ziemlich naturmeditative, weerasethakulhafte Art geht es in Der Ornithologe nicht minder polymorphpervers zu als in all den Filmen von Rodrigues bisher, sei es die hyperartiffzielle queere (mangels eines besseren Begriffs) Oper To die like a man, sei es das Müllabfuhr und Triebabfuhr ingeniös ineinander wirkende Spielfilmdebüt O Fantasma (2000), in dem Menschen vor die Hunde gehen und überhaupt alles, was Ich ist, zu Es werden muss. Aber zu einem anderen Es, als es das Es des subjektiven Vogelblicks ist. In der Rodrigues schen Topik blühen im Es tausend Blumen. 

In Der Ornithologe ist die Übereignung des Blicks vom Menschen ans Tier allerdings eher ein sublimierender als ein profanierender Zug. Eine Kippfigur bleibt das, und gerade als Kippfigur macht das Hin und Her das Zentrum von Rodrigues’ Werk aus. Dessen Mutationen kennen beide Richtungen, die ins Religiöse hinauf, die ins Animalische hinunter, aber alles steht zugleich Kopf. Was Oben ist, was Unten, wird gekreuzt, gequert und gequeert, es geht ins Religiöse hinunter, ins Animalische hinauf, Sex und Kampf aufs Blut sind Gelegenheiten, bei denen sich alles begegnet. Was dabei aber eigentlich zählt, ist die Mutabilität, die Überblendbarkeit des einen ins andere, das Aufgehen der Differenzen in einer alles andere als einstimmigen Ununterscheidbarkeit. 

Der Ornithologe ist ein Mysterienspiel, ganz im Sinn der Bearbeitung biblischer oder heiliger Stoffe, die sich mit diesen erdenkliche Freiheiten nimmt. Rodrigues’ Mysterienspiel bringt die portugiesische und die lateinische Sprache, stumme Menschen und tierische Subjekte, Lebendes und Totes, christliche Religion und Antikes zur Darstellung, und zwar ganz durcheinander. Ein synkretistisches Sortiment, dem sich der interpretatorische Zugriff besser ohne Gewalt nähert, weil das Repertoire der Figuren und Zeichen, auch der filmischen Mittel zwar auf Traditionen und bekannte Motive und Vorbilder zugreift, diese aber auf sehr idiosynkratische Weise neu in einem Raum verteilt, durch den sich der Film an narrativen Fäden bewegt, die er dehnt, die auch einmal reißen. 

So wird also aus einem möglicherweise verstorbenen Ornithologen ein heiliger Mann, der freilich auch nicht weiß, wie ihm geschieht. Da sind aber auch noch andere Sachen. Die drei Amazonen zu Pferde etwa, barbusig, moderne Gewehre im Anschlag. Sie sprechen Latein. Antonius versteht das gut, so wie ihn in der Heiligentradition die Fische verstehen, wenngleich er auf Portugiesisch antworten wird. Abgesehen davon: Ein Schuss der blonden Anführerin streckt ihn nieder und er steht wie der auf. Von den beiden Chinesinnen nicht zu schweigen, mit denen wir und Fernando/Antonius nicht wenig Zeit verbringen. Sie setzen ihn fest, fesseln ihn in einer gekonnt wirkenden S/M-artigen Konstruktion, damit er bei ihnen bleibt. Eine von beiden leckt am Knie der anderen Blut wie später der Hund aus der Wunde von Jesus. (Wie auch, ich kann nicht umhin daran zu denken, in Angela Schanelecs Der traumhafte Weg ein Mädchen vom Knie eines Jungen im Schwimmbad das Blut leckt.) 

Und noch ein Tribe tut Dinge im Wald: Tanzt in bunten Narrenkostümen zu einem nicht weiter erklärten Ritus ums Feuer; von hier führt ein Seitenweg zu rück/weiter zu Jesus/Thomas. Die taxidermitisch intakten Wildtiere habe ich schon erwähnt. Auch taucht auf Fernandos Weg aus heiterem Himmel eine Gruppe von Statuen auf, die Szenen aus Jesu Kreuzweg performen. Hier steht der Film wie so manches Mal narrativ still. Wasser rauscht über die Statuen, das Starre und das Fließende berührt sich (und berührt sich nicht) in übereinander gelegten Bildern. Der Epilog ist dann heiter, ein Komödien-Happy-End in Padua, wo dieser Antonius, nun endgültig im Körper von João Pedro Rodrigues, fürs erste keineswegs stirbt. 

Zum Abspann ein Song, der (in der englischen Über setzung) die Zeile «Be a Body of Pleasure» enthält. Da sind mir beim Hören die Augen aufgegangen. Darum geht es, das wurde mir da endgültig klar, immer in den Filmen von João Pedro Rodrigues, was immer sie treiben, was immer sie antreibt: Es geht ihnen darum, ein multipler, fließender, sich verzweigender, endlos queerer, mutabler und mutierender, für Tod und Genießen, für das Genießen von Leben und Sex und Tod, für göttliche Tiere, für Komisches und Heiliges offener Körper des Vergnügens zu sein.