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Bleibt im Quartier Nachbarschaftspanoramen, Gesellschaftsbilder: Über die Filme von Kurt Früh

Von Lukas Foerster

© SRF

 

Unter den zwölf langen Kinofilmen, die Kurt Früh zwischen 1955 und 1972 gedreht hat, gibt es nur einen, der zumindest zwischendurch Anschluss an die touristische, mondäne Schweiz sucht, und das ist dann auch gleich sein schlechtester: In Der Teufel hat gut Lachen (1960), einer schwunglosen Farce, machen drei plötzlich zu Geld gekommene Rumtreiber die Casinos von Lugano unsicher. Der Film ist eine Art Fortsetzung von Hinter den sieben Gleisen (1959), einem der größten Früh-Erfolge; der macht seinerseits gleich zu Beginn klar, dass er nicht von den schicken Schnellzügen erzählen will, die von Zürich aus rauf zum Gotthard donnern, sondern von einer bescheidenen, arbeitsamen Rangierlok, die den Bahnhofsbereich gar nicht erst verlässt. Das Kino Kurt Frühs bleibt im Quartier, in jener städtischen, kleinbürgerlichen Schweiz, die der Regisseur als Sohn eines Postbeamten, der im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach Zürich gezogen ist, selbst kennt. Die Häuser stehen eng und sind ihrerseits schmal. Die häufig wiederkehrenden Treppenhaustotalen haben etwas Klaustrophobisches, die Wohnzimmer trotz Blümchentapeten nichts wirklich Gemütliches. Der Horizont ist, wenn es ihn überhaupt gibt, eng, die Alpen sind nicht einmal von ferne zu sehen.

In so eine Welt hinein stellt Früh Figuren, oder eher Figurennetzwerke: Familiengeschichten, die sich erst zu Nachbarschaftspanoramen und dann, Schritt für Schritt, zu Gesellschaftsbildern erweitern. In den ersten Filmen gelingt das völlig organisch. Im Zentrum steht jeweils ein Patriarch, der einerseits die Familie an sich bindet, und andererseits über seinen Beruf einen Kontakt zur nichtfamiliären Umwelt herstellt: Schaggi Streuli gibt für Früh erst den Polizischt Wäckerli (1955), dann in Oberstadtgass (1956) einen Briefträger; der Bäckerei Zürrer (1957) steht, in Frühs vermutlich bestem Film, Emil Hegetschwiler vor. Es geht um Familienväter, die genaue Vorstellungen davon haben, was ihre Söhne einmal werden sollen; und um Söhne, die sich gegen diese Zumutung zur Wehr setzen. Aber das Entscheidende ist nicht der Generationenkonflikt, sondern sind seine psychischen Begleiterscheinungen, vor allem auf Seiten der Väter: Scham, Stolz und Kleinmut. Die Filme verlegen das Drama konsequent ins Innere der Figuren: Es geht um die Angst nicht davor, «was wohl die Nachbarn denken», sondern davor, einem Ich-Ideal nicht gerecht zu werden, einen Irrtum eingestehen zu müssen. Der Bäcker Zürrer will lieber seinen Laden verkaufen und damit seine gesamte bürgerliche Existenz ruinieren, als anzuerkennen, dass sein Sohn die Fähigkeiten besitzt, in seine Fußstapfen zu treten.

Wenn die Frauen leiden, leiden sie anders, psychopathischer, vielleicht, weil ihr Leid mit Ohnmacht gepaart ist. Der irrationale, vom Tod ihres eigenen Kindes herrührende Hass einer Hausfrau auf einen Waisenjungen, den ihr Mann, der Briefträger, adoptieren will, ist das eigentliche Zentrum von Oberstadtgass. Eines der eindrücklichsten Bilder des Früh-Kinos: die im Dunkel der eigenen Wohnung kauernde, tränenlos in sich selbst eingeschlossene Frau, gespielt von Margrit Rainer, einer tragenden Säule im Früh-Ensemble. In Cafe Odeon (1958), einem teils rührenden, teils etwas skurrilen Sittenfilm, entwickelt die Hauptfigur – ein Mädchen vom Lande, das ums Haar in die Prostitution abrutscht – einen Liebeswahn, der sich einen braven Spießbürger zum Objekt nimmt (überhaupt fällt es in den Früh-Filmen bisweilen schwer, die erotischen Vorlieben der Frauen nachzuvollziehen).

Das Werk ist voller Figuren, die größte Mühe damit haben, über den eigenen Schatten zu springen. Aber gleichzeitig ist Früh geduldig. Er wartet, bis der Bäcker sich schließlich doch überwindet und die Familie wieder in die Arme schließt; bis die Frau des Briefträgers lernt, ein anderes, fremdes Kind zu lieben. Weil die Konflikte in erster Linie psychische sind, lassen sie sich am Ende schnell und nach außen hin fast rückstandslos auflösen – das Bild von der wiedervereinten oder neu zu gründenden Kleinfamilie ist zumindest im Frühwerk der einzige Schlusspunkt, den Frühs Kino zulässt. Aber es ist nicht so, dass alles in den Filmen auf solche Schlusspunkte zulaufen würde: Es geht allemal mehr um die Texturen der Welt, auch um das vielfältig Wuselnde an ihr, als um moralische Lektionen. In dieser Hinsicht leuchtet die in der schweizer Literatur zu Früh ansonsten etwas forciert behauptete Nähe zum Neorealismus tatsächlich ein (insgesamt sind die Filme dafür zu protestantisch, glaube ich). Zum Beispiel gibt es etwas abseits der Familie immer auch Frauen, die nicht leiden, sondern etwas – schon vor allem, aber nicht nur: Männer – in Bewegung setzen. Fast immer kommen sie aus dem Ausland, oder zumindest nicht aus der Deutschschweiz: eine charmante französische Barbesitzerin in Polizischt Wäckerli, eine quicklebendige Bayerin in Oberstadtgass, eine toughe Italienerin in Bäckerei Zürrer.

 

Polizischt Wäckerli (1955)

© Praesens Film AG

 

Schon Ende der 1950er Jahre verändert sich das Früh-Kino. Die soziale Synthese funktioniert nicht mehr von selbst, die Filme wollen immer noch ein gesellschaftliches Ganzes darstellen, aber das kostet sie jetzt viel mehr Energie. Die Geschichten werden abstruser – schon Hinter den sieben Gleisen ist eigentlich ein Märchen: Drei Clochards nehmen sich auf dem Züricher Bahnhofsgelände einer schwangeren Deutschen an. Einer der drei fängt sich dabei eine von Frühs kleinbürgerlichen Psychosen ein, er rasiert sich den Rauschebart ab und hält um ihre Hand an.

Der interessanteste Film aus dieser Phase ist Es Dach überem Chopf (1962). Eine social fantasy über die sozial und vor allem habituell prekäre Problemfamilie Caduff, die in ein gutbürgerliches Wohnviertel verfrachtet wird, um andere Mieter zwecks Sanierung zu vertreiben. Früh gelingt es, die Sache so hinzubiegen, dass am Ende sogar der Vermieter davon profitiert (nicht nur moralisch, auch finanziell), sodass er von seinem Plan ablässt. Es gibt in dem Film eine Voice Over-Stimme, die erst fürchterlich nervt, weil sie jeden Freiraum, den der Bilderfluss gewährt, gnadenlos zulabert, die dann aber gegen Ende aus heiterem Himmel zu singen anfängt – aus purer Freude darüber, dass alles, was eben noch finster und hoffnungslos ausgeschaut hat, jetzt doch noch hinhaut. Den Patriarchen gibt es in Es Dach überem Chopf nur noch als Witzfigur: Der von Zari Carigiet mit großartiger Rumpeligkeit angelegte Familienvater begreift von der Immobilienschieberei, von der er selbst profitiert, am wenigsten; wenn er sich mehrmals im Film mit den Worten «der Caduff ist eben doch wer!» aufplustert, ist sein Stolz nur noch ein hohler Reflex.

Der zeternde Caduff verweist bereits auf den ungewöhnlichsten Früh-Film, den der Regisseur erst 1970, nach einem zwischenzeitlichen Wechsel ins Fernsehgeschäft, realisiert. Dällebach Kari ist eine in Wiederholungsloops um sich selbst kreisende Tragikomödie, gleichzeitig ein Biopic, angelehnt an urbane Legenden und Anekdoten um einen Berner Barbier, der stadtweit für seine Schlagfertigkeit und seine Alkoholexzesse bekannt war. In dieser Figur drängt das asoziale Moment, das in Frühs Kleinbürgerporträts von Anfang an angelegt war, an die Oberfläche. Sonderbarerweise kristallisiert es sich diesmal nicht als Innerlichkeit, sondern in einem äußeren, physischen Zeichen: Der historische Dällebach Kari war mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren worden, der Hauptdarsteller Walo Lüönd simuliert das mit einer am Kiefer befestigten Klammer, die auch eine charakteristisch näselnde Stimmfärbung hervorbringt. Obwohl ihm eine Jugendliebe durchaus glaubhaft versichert, dass sie die Fehlbildung gar nicht mehr bemerke, organisiert Lüönds Dällebach Kari um sie seine gesamte Existenz. Alles an ihm verweist fast zwanghaft auf seine eigene gespaltene Lippe: die genuschelten Scherzreden, die Schnapsflaschen, selbst sein Beruf und ganz besonders sein Schnurrbart, der ihn gleichzeitig zu einer Art Chaplin-Wiedergänger macht. Aber ein Tramp will der Dällebach Kari gerade nicht sein. Ein faszinierender, genuin unheimlicher Film über das innere Außen der Gesellschaft.

 

 

Dällebach Kari (1970)

© Praesens Film AG

 

Es passt zum Werk Frühs, dass ausgerechnet sein Film über einen Witzeerzähler ausgesprochen düster geraten ist. Denn obwohl seine Filme durchweg einen Begriff vom Komischen haben, liegt ihm das Leichte, Heitere als Form überhaupt nicht. Das machen neben Der Teufel hat gut lachen auch das behäbige Musical Der 42. Himmel (1962) sowie das biedere Heinz Rühmann-Lustspiel Der Mann, der nicht Nein sagen konnte, mit dem Früh bereits 1956 den deutschen Markt erobern wollte, klar. Letzteren erwähnt Früh in seiner in einem beschwingt parlierenden Tonfall gehaltenen Autobiografie Rückblenden (1975) mit keinem Wort. Dafür geht es viel und ausführlich um seine Anfänge beim Theater: 1933–39 war er Leiter der linken Züricher Volksbühne ( Ich schrieb für sie, inszenierte das Geschriebene und sorgte auch immer für eine effektvolle Rolle für mich selbst, am liebsten die dankbare Rolle eines bösen Kapitalisten»).

Das populäre Theater ragt in die Filme herein, in Form eines volkstümlichen, aber nie anbiedernden Humors, und vor allem in einer Aufmerksamkeit für gestische und sprachliche Idiosynkrasien. Fein austarierte Kompositionen sind die Filme auf dieser Ebene: Im Zentrum dominieren die leiseren Töne, dafür dürfen Nebenfiguren auch einmal komplett über die Stränge schlagen – Armin Schweizer als völlig enthemmter Säufer in Polizischt Wäckerli, Blanche Aubry als schamlose drama queen in Cafe Odeon, Ettore Cella als geradezu hysterisch leutseliger Berufsitaliener in Bäckerei Zürrer. Die ebenfalls großartig facettenreich eingesetzte schweizer Mundart wiederum führt ein weiteres Mal schmerzlich vor Augen, um welchen Reichtum das deutsche Kino uns in seiner weitgehenden Vernachlässigung der diversen Dialekte bis heute betrügt. Tatsächlich hat Früh sogar für das Hochdeutsche ein besseres Ohr als die allermeisten Hochdeutschregisseure: In fast jedem Film taucht jemand auf, der oder die ganz besonders korrektes «Schriftdeutsch» spricht – keineswegs geht es dabei darum, die entsprechende Figuren zu diskreditieren, eher ist das ein musikalisch gedachter, kontrapunktischer Effekt.

1972 dreht Früh seinen letzten Film, Der Fall, eine entschleunigte, atmosphärische, komplett desillusionierte Noir-Etüde um einen Privatdetektiv (wieder Walo Lüönd, diesmal komplett humorlos), der sich mit kleinbürgerlichen Bettgeschichten herumschlägt und bald selbst hoffnungslos in einer verfangen ist – eher aus Selbsthass denn aus echtem Interesse an der jungen Verführerin, der er nachsteigt. Ort der Handlung ist Zürich Oerlikon, damals ein industriell geprägter Randbezirk, das exakte Gegenteil der behaglichen Bilderbuchschweiz (zu der freilich auch der Rest des Werks auf Sicherheitsabstand bleibt). Isoliert stehende Hochhäuser zwischen ungepflegten Brachen, viel Beton, mittendrin das Hallenstadion, eine nicht nur für schweizer Verhältnisse überdimensionierte Mehrzweckhalle, in der die erstaunlichste Szene des Films spielt: Während eines Radrennens zerschlagen sich nicht nur endgültig die Hoffnungen des Detektivs, auch das Früh-Kino insgesamt scheint angesichts dieses Raums einer neuen, komplett durchkommerzialisierten Massenkultur zu desintegrieren, löst sich in willkürlich anmutende Momentaufnahmen eines ihm selbst zutiefst fremden Spektakels auf.

Vor ein paar Monaten sind wir in die Schweiz gezogen, ebenfalls nach Oerlikon – in die Margrit-Rainer-Strasse. Von der proletarischen Härte, die Frühs letzten Film prägt, ist nichts mehr zu sehen, leider sind auch die schrundigen Kneipen und lärmigen Billigrestaurants verschwunden, durch die Lüönd vagabundierte. Das Neubaugebiet, in dem wir wohnen, verbindet eine schon in Der Fall durchschlagende architektonische Funktionalität mit klassischer schweizer Reinlichkeit. 

 

Bis auf Im Parterre links sind alle Langfilme Frühs auf DVD erschienen. Über den Schweizer Versandhandel ist eine sechs Filme umfassende « Kurt Früh Edition » erhältlich, die bei Praesens Film erschienen ist