Gute Abenteuer, böse Abenteuer Europa erzählen in 50 Filmen: Eine Reihe im Österreichischen Filmmuseum
In der kleinen spanischen Stadt Villar del Río gehen die Uhren anders. Das wird nicht nur daraus ersichtlich, dass die Turmuhr immer auf zehn Minuten nach drei steht (also High Siesta), sondern auch noch an einer anderen Kleinigkeit. In der Schule hängt eine Landkarte, die Europa noch mit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zeigt. Die Karte ist veraltet, allerdings sind Anachronismen immer relativ, und was in Madrid wesentlich sein mag, ist in der Provinz wahrscheinlich ohne großen Belang. Für die Menschen, die in Luis García Berlangas Komödie Bienvenido Mister Marshall (1953) ihre Wäsche im Fluss waschen oder den Acker auf frühmoderne Weise bestellen, macht es vermutlich keinen Unterschied, ob in Wien noch ein Kaiser thront, oder in Budapest schon die Kommunisten herrschen. Und man muss ihnen auch erst klar machen, was das bedeutet, dass ein amerikanischer Abgesandter bei ihnen vorbeischauen möchte, um nach Möglichkeiten zu sehen, das «European Recovery Program» optimal umzusetzen. Marshallplan ist der geläufige Begriff dafür, heute kommen vergleichbare Gelder aus Brüssel und laufen unter Regionalförderung (manchmal versickern sie auch regional). Das Europa, das nach 1945 mit amerikanischer Hilfe (und aus dem Geist pragmatischer Hegemonialinteressen) wieder auf die Beine kommen soll, wirkt bei Berlanga ganz so, als hätte es vom Jahrhundert der Extreme wenig bis gar nichts mitbekommen, im Gegenteil scheint es noch tief in einer altertümlichen Ordnung zu stecken, an der das wichtigste Indiz von Moderne zu sein scheint, dass jeden Samstag ein Film im Kino gezeigt wird. Ein Western, wie es in diesen Jahren beliebt ist. Selbst die Unterhaltung weist also in Villar del Rio ins 19. Jahrhundert.
Bienvenido Mr. Marshall ist einer von 50 Filmen, mit denen das Österreichische Filmmuseum im Mai und Juni den Versuch unternimmt, Europa zu umreißen: Europa erzählen, heißt die Reihe, es ist zugleich diejenige, mit der Alexander Horwath sich von seinem Amt als Direktor des Filmmuseums verabschiedet (worauf wir in cargo 35 noch einmal zurückkommen wollen). An eine Rede von Europa schließen die Filme immer nur implizit an, indem sie etwas in den Blick bekommen, was das Nationalkino transzendiert, oder vielleicht sogar erst so richtig auf einen Punkt bringt, der das Nationale in ein produktives Spannungsverhältnis setzt. Villar del Rio ist zum Beispiel vielleicht gar nicht so sehr als ein spanisches Dorf zu sehen, sondern als ein andalusisches (die lokal tourende Sängerin wird jedenfalls als Meisterin des andalusischen Liedguts empfangen), wird aber vom ERP als europäisch adressiert – dazwischen liegen die komischen Verhältnisse, die Berlanga aufs Korn nimmt und bei denen man durchaus als geübter Filmzuschauer den einen oder anderen Aspekt auf einer Zeitachse extrapolieren kann, zu dem Regionalismus von Pedro Almodóvar etwa, bei dem die Amerikanisierung Spaniens dann schon deutlicher zu erkennen war.
Bei dem Begriff Europa kann man an so vieles denken, dass man vielleicht auch 50 Filme aus einem Zufallsgenerator zeigen könnte, die immer noch eine Menge zu erkennen geben. Welche Schwerpunkte setzt die Reihe im Filmmuseum? Der auffälligste ist sicher das Gewicht, das der Umstand bekommt, dass Europa lange Zeit ein Kontinent der Expansion (Wolfgang Reinhard) war, eine Kolonialmacht, was sich am deutlichsten in Ousmane Sembènes Campde Thiaroye niederschlägt, dem wohl einzigen Film über Buchenwald, der aus dem Senegal kommt (oder umgekehrt wohl auch dem einzigen senegalesischen Film, dessen Geschichte bis nach Buchenwald reicht). Chocolat von Claire Denis und Tabu von Miguel Gomes sind weitere Filme über das große Europa, das im Grunde eine Globalisierung zu seinen eigenen Bedingungen im Sinn hatte.
Der Kolonialismus ist aber auch implizit Thema in Jacques Roziers Les Naufrages de l’île de la Tortue (Die Schiffbrüchigen der Schildkröteninsel, 1976), in dem Pierre Richard einen Angestellten eines Reisebüros spielt, der beim Ausgehen in einem brasilianischen Lokal auf einen Paradiesesmythos stößt (von einer Insel, auf der man morgens beim Aufwachen direkt die Mangos vor der Nase hat), den er zu einer kühnen Geschäftsidee umdeutet: Was das Tourismusunternehmen Robinson Club niemals beim Wort nahm, damit soll in der Vision von Jean-Arthur Bonaventure (!) Ernst gemacht werden. Ein Urlaub in der Karibik, auf dem die Zivilisation keine Rolle spielen oder erst wieder aus dem Nichts oder mit den natürlich vorhandenen Ressourcen auf einer menschenleeren Insel errichtet werden soll. Wie beim richtigen Robinson Crusoe.
Les Naufrages de l’île de la Tortue ist in einem Stil gedreht, der auf verblüffende Weise heutige Reality-Formate vorwegnahm, und Rozier zieht seine Idee fast vollständig konsequent durch – die Hoffnungen mancher Urlauber, die Robinson-Expedition möge sich vielleicht doch eher als eine Episode aus Paul und Virginie (mit einem erotisch eingefärbten Mauritius und indigenen Helferlein) entpuppen, erfüllt sich ganz und gar nicht, und zu einem Erfolg wird die ganze Sache nur um den Preis einer soliden Verbuschung.
Bestünde Europa erzählen aus 100 statt 50 Filmen, dann wäre ein natürlicher Partner für Les Naufrage sde l’île de la Tortue wohl einer der Emmanuelle-Filme (und man kann sich gut vorstellen, dass sogar einer zur Diskussion stand), denn das wäre die andere (in sexueller Hinsicht deutlichere) Variante eines Exports von Paradieseshoffnungen, der es Europäern dann doch niemals erlaubt, wirklich die Seite zu wechseln. Die Moderne, das ist eine Lektion dieser Schau, ist der Sündenfall, der am wenigsten revidierbar ist.
Durch die Ereignisse der vergangenen beiden Jahre hat ein Aspekt stärkere Aufmerksamkeit erfahren, der eigentlich immer schon augenfällig war, sich aber als Kehrseite des Tourismus irgendwie verdrängen ließ: Europa ist selbst eine Destination, für Besucher mit Interesse an Sehenswürdigkeiten, aber auch für Menschen mit Hoffnungen auf ein besseres Leben. Die Migrationen der jüngeren Zeit haben eine Vorgeschichte in den binneneuropäischen Wanderungsbewegungen, die vor allem aus dem Süden in den Norden führten. Viscontis unumgänglicher Rocco e i suoi fratelli (Rocco und seine Brüder, 1960), in dem Italien mit seiner Nordsüd-Erstreckung zu einem Sinnbild für europäische Strukturen wurde, die noch heute die EU prägen, bekommt in Europa erzählen einen hochinteressanten Komplementärfilm mit Déjà s’envole la fleur maigre (Schon fliegt sie hinfort, die kärgliche Blüte, 1960) von Paul Meyer. Palermo, Marseille und die belgische Borinage sind hier die Koordinaten einer «chronique fugace», die immer wieder in einer Klage mündet: «che miseria», welches Elend.
Ein Arbeiter namens Pietro Sanna, der in den belgischen Minen nicht einmal eine ganze Stelle hat, sondern sie sich mit seinem Sohn teilen muss, versucht, die nachgeholte Familie durchzubringen. Man sieht dem Film die dokumentarische Ausgangssituation noch deutlich an, in Szenen wie der vom Schulbeginn für die Kinder, die erste Wörter in der neuen Sprache zu lernen versuchen. Der traumähnliche Prolog in einer Schweiz, die sich als Themenpark mit gerade einmal einer Rutsche erweist (Suisse Hivernage), könnte wie ein Verbindungsglied zu Leopold Lindtbergs Die letzte Chance (1945) gesehen werden, in dem die tatsächliche Schweiz der Ort ist, an dem sich vor 1945 Menschen auf der Flucht aus allen Richtungen treffen. Und nachdem sich hier schon ein vielschichtigeres Konzept von Neorealismus abzeichnet (wofür sich die Schau insgesamt sehr interessiert, sodass man hier fast schon von einem europäischen Alleinstellungsmerkmal sprechen könnte, das aber jederzeit exportierbar war), könnte man bei Géza von Radványis Valahol Európában (Irgendwo in Europa, 1948) fast schon einen neuen Klassiker ausnehmen, der sich neben Rossellinis Germania anno zero stellen lässt: Ungarn im Jahre null (plus drei) geht von einer Reliefkarte eines Europa aus, das hier vor allem als Aufmarschgebiet der Elenden begriffen wird.
Eine Kinderschar, deren Zivilisationsdefizite sich an der Härte zeigen, mit der sie baumelnden Leichen (wohl Opfer des deutschen Rückzugs) die Schuhe von den Füßen reißen, findet auf einer Burgruine eine Zuflucht nicht nur hinter schroffen Mauern, sondern vor allem bei einem Musiker, der sich vor dem Lärm der Welt hierher zurückgezogen hat, und bald die Internationale mit der wilden Schar einstudiert. Zu der Gruppe zählt auch ein Junge, der keiner ist, ein so aus dieser Zeit noch kaum gekanntes Beispiel von Hosenrolle aus einer Mischung aus purem Existenzkampf und denkbar komplizierter sexueller Identität.
Bis 1989 war Europa nicht nur geografisch halbiert, sondern es war auch Szene einer systemischen Auseinandersetzung, die ihre eigene Expansion mit sich brachte. Die Organisationsentwicklung der EU führte dazu, dass heute vielfach von einer Osterweiterung gesprochen wird, so als würde Europa noch einmal kolonisieren, nunmehr aber sich selber – daran ist eine Menge richtig, aber zugleich lässt sich aus der Reihe im Filmmuseum auch erkennen, dass historisch wie geografisch schon vor 1933 und dann auch wieder nach 1989 nicht einfach Urzustände herrschten, sondern dass auch während der Zeit des geteilten Himmels (um Christa Wolfs unübertreffliches Sprachbild zu zitieren, das auch Titel der Verfilmung durch Konrad Wolf aus dem Jahr 1964 ist) nur die Unordnung neu konfiguriert wurde, die im Grunde immer schon geherrscht hat.
Der Kommunismus als die Systemalternative, die Europa hervorgebracht und exportiert hat, taucht in Europa erzählen in dialektischen Konstellationen auf, in Gestalt des eurokommunistischen Priesters, den Nanni Moretti so großartig selbst spielt in La messa è finita (Die Messe ist aus, 1985), aber auch in Fridrich Ermlers Oblomok imperii (Der Mann, der sein Gedächtnis verlor, 1929), aus dem man vielleicht besonders deutlich einen Befund entnehmen kann, den man auch für spezifisch europäisch halten mag: Als Kontinent und als geistige Landschaft ist Europa gerade deswegen so an dieses Konzept der Moderne gekettet, weil diese sich mit ihren gewaltsamen Beschleunigungsversuchen als eine permanente Schocktherapie für eine Pathologie erwies, die im Rückblick beinahe schon wieder idyllisch wirken mag. Der Kleinfeudalismus mit einem lockeren Reserve-Fernandel als Pfarrer, wie ihn Villar del Río kennt, muss vielleicht gar nicht in die Gegenwart gebracht werden, schon gar nicht mit Gewalt. Europa erzählen aber macht klar (zum Beispiel durch eine verwandte, komische Bukolik in Boris Barnets Okraina, 1936), dass nicht nur der Marshallplan theoretisch auch eines Tages bis Wladiwostok wirken hätte können, sondern dass umgekehrt auch die Kulakenjagd unter Stalin durchaus Villar del Río erreichen hätte können. Man muss sich das gar nicht im Detail auszumalen versuchen, es schaudert einen auch so schon genug angesichts all der phantasmatischen Verbindungslinien, die sich von dieser fast schon unheimlich dichten Reihe über ein Europa legen, das weder am Mare Nostrum noch am Ural, und schon gar nicht in Brüssel oder Berlin, aufhört.
Europa erzählen (ÖFM, 11. Mai bis 25. Juni 2017)