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Tizza Covi und Rainer Frimmel «Unsere Geschichten leben von Dingen, die sich nicht vorhersehen lassen»

Von Bert Rebhandl

Rainer Frimmel und Tizza Covi machen Filme, in denen Menschen in erfundenen Geschichten sich selbst spielen. In Mister Universo macht sich ein junger Dompteur auf die Suche nach dem einst stärksten Mann der Welt – er durchmisst dabei auch das filmische Universum, dem er entstammt. Das ist ein guter Anlass für eine Zwischenbilanz mit dem österreich-italienischen Regieduo

Mister Universo (2016)

© Ventofilm | Covi/Frimmel

 

Ich würde gern mit einer Szene beginnen. Es ist die erste Einstellung Eures neuen Films Mister Universo. Wir sehen, wie Tairo, ein junger Raubtierdompteur, sich für einen Auftritt vorbereitet. In seinem Wohnwagen läuft auf einem Fernsehschirm ein Film: The Godfather 3. Was bedeutet dieser Film im Film?

Tizza Covi: Der Tairo kennt diesen Film in- und auswendig, er schaut ihn immer wieder an, das ist die einzige DVD, die er besitzt, so wie er auch im Grunde nur ein einziges Lied hat, das er immer wieder hört, ein Lied von seinem Onkel. The Godfather 3 ist einfach sein Lieblingsmaterial beim Vorbereiten für die Vorstellung. Konkret kommt dann in der Szene ein Satz vor, der nicht übersetzt ist, für mich aber essentiell: un uomo che sta troppo poco con la famiglia non sara mai un vero uomo, sagt der Pate. Ein Mann, der nicht genug Zeit mit der Familie verbringt, wird nie ein richtiger Mann sein. Das zieht sich durch unseren ganzen Film. Es ist eine versteckte Freude für mich, dass der Satz so drin ist, denn wir verwenden ja immer nur den Ton, der auch tatsächlich zu einer Szene gehört, wir basteln das nicht im Schnitt oder in der Nachsynchronisation zusammen, also hatten wir Glück, dass gerade diese Szene aus dem Godfather in einer Einstellung lief, die wir gut verwenden konnten. Das sind so Dinge, die man gern am Anfang hat, ein kleiner Link, ein Hinweis auf das, worum es gehen wird.

Rainer Frimmel: Tairo identifiziert sich sehr mit der Figur. Er träumt davon, selbst ein Pate zu sein.

Tairo kennen wir aus früheren Filmen von Euch, nun rückt er in die Hauptrolle.

RF  Ja, wir kennen ihn noch länger. Als wir La Pivellina drehten, war er 13 Jahre alt. Aufgrund der Erfahrungen mit ihm war schon damals klar, dass wir einmal mit ihm etwas machen könnten. Er ist eine ganz spezielle Persönlichkeit. Seine Spontaneität hat uns wahnsinnig beeindruckt, auch durch sein Schwierigsein, sein provokantes Verhalten, das ist für eine tragende Rolle ideal. Als Hintergedanke war er also immer schon da. Für Mister Universo haben wir ihn verbunden mit dem Artur Robin, über den wir auch immer schon einen Film machen wollten.

Wie kamt ihr zu Artur Robin, der lange Zeit als stärkster Mann der Welt aufgetreten ist?

TC  Wir haben eine Serie mit großformatigen Schwarzweiß-Fotografien mit Zirkusleuten gemacht, da war auch eine junge Frau von 25 Jahren dabei, eine Schwarze, die Hoolahoop gemacht hat. Sie hat von ihrem Vater erzählt, einem ehemaligen Mister Universum, der eine Kraftnummer macht wie bei Fellini in La Strada. Er sprengt Ketten, biegt Eisen und hebt Sachen.

RF  Es folgte dann eine lange Suche nach diesem Zirkus, mit dem Artur Robin auftrat. Damals hat es ja noch kein Handy gegeben. Das hat die Zirkuswelt total verändert, früher musste man anhand der Plakate nach ihnen fragen. Wenn der Tairo in Mister Universo sich so durchfragt bis zu Artur Robin, dann ist das auch unsere Suche. Wir haben ihn schließlich noch auftreten gesehen.

TC  Das war 2002. Er hat ein Eisen gebogen und es uns dann geschenkt. Ein Glücksbringer. 2003 hat er aufgehört zu arbeiten. Er war schon weit über 70, als er immer noch als stärkster Mann der Welt aufgetreten ist. Seine Frau Lily Robin ist Österreicherin, das hat unsere Verbundenheit erleichtert. Geholfen hat auch, dass die Robins sesshaft sind. Eigentlich sind sie Gadjis so wie wir …

Gadjis, so wie in Gadjo Tilo?

RF Wie in dem Film von Tony Gatlif, genau. Das kommt aus der Sprache der Roma und Sinti, da haben die Zirkusleute viel übernommen, auch wenn sie sich davon sehr abgrenzen wollen, um den Vorurteilen zu entgehen.

Tairo begrüßt in Mister Universo zwei Kinder mit dem Wort «tsingari». Ist das freundlich gemeint, oder zieht er sie da ein wenig auf?

TC  Das ist wie eine zärtliche Beleidigung.

RF  Es hat halt einen faktischen Hintergrund, denn der Vater von diesen Kindern stammt aus dem Zigeunerlager nebenan und entspricht sehr stark so ziemlich allen Roma-Klischees. Über den machen sie auch alle Witze.

Mister Universo ist der vierte Film in einer Reihe, die alle Protagonisten aus der Zirkuswelt haben. Wie seid Ihr mit dieser Welt in Kontakt gekommen? War das von Beginn an ein gemeinsames Projekt? Vielleicht sollten wir kurz Euren Werdegang rekapitulieren.

TC  Wir haben gemeinsam studiert. Ich wollte immer Film machen, dachte mir aber, aus einer Stadt wie Bozen in Südtirol heraus werde ich das nie schaffen. Mit 18 habe ich ein Jahr Fotoassistenz in Paris gemacht, dann noch ein Jahr in Berlin, in Wien hat es dann geklappt mit einer Ausbildung.

RF  Ich wollte auch immer Film machen, hatte aber den Eindruck, dass ich es an der Filmakademie in Wien gar nicht erst zu versuchen brauche. Die Prager Filmhochschule wäre interessant gewesen, die war aber zu teuer. Wir suchten unabhängig voneinander eine Schule, die man sich leisten kann.

TC  Ich wollte nie nach Wien, aber da an der Graphischen (Graphische Lehranstalt) haben sie mich genommen.

An dieser Schule habt Ihr Euch kennengelernt. Angefangen habt Ihr mit Fotografie.

RF Wir haben immer schon sehr ähnlich fotografiert. Na ja, auf jeden Fall Menschen. Auf die Straße gehen, in Kontakt treten, die Kamera als Hilfsmittel nützen, um in Welten vorzudringen. Street Photography. Das ist mir bis heute geblieben. Dass man mit den digitalen Kameras nicht mehr durch den Sucher schaut, dass das Bild nicht mehr im Kopf entsteht, das ist etwas ganz Anderes. Das hat für mich nichts mehr damit zu tun, was uns interessiert hat. Wir haben einfach experimentiert, bald auch mit Film. In Bratislava konnte man damals billig ausarbeiten. Also haben wir die Kamera so Lumière-mäßig in Wien an verschiedenen Orten aufgestellt und eine Rolle durchlaufen lassen. Wien sieben Szenen heißt der Film, der daraus wurde, immer 11 Minuten in einer Einstellung. Der Film wurde nach Duisburg eingeladen, das war für uns großartig, auf der Dokumentarfilmwoche lernt man ja auch viel beim Reden über Filme.

TC  Du musst dir das so vorstellen: Ein Lokal von außen gefilmt, aber der Ton kommt von drinnen. Oder einmal ein Park, in dem aber niemand vorbeikommt. Das muss man dann halt elf Minuten lang durchsitzen.

RF  Kleine Details werden auf diese Weise zu Höhepunkten. Ich weiß noch, im Votivkino haben wir Empire von Warhol gesehen, der Höhepunkt des Films ist, als nach einigen Stunden, in denen nichts geschieht, irgendwann die Lichter ausgehen. Mit so etwas haben wir uns damals beschäftigt.

TC  Der erste Auftritt bei der Diagonale (Festival des Österreichischen Films) war Che bella è la vita, zehn Minuten mit Found Footage, ein Tiroler schimpft über Wien, ein ganz originelles Interview. Man kann das gar nicht mehr nachvollziehen, was das bedeutet, wenn man zum ersten Mal einen Anruf mit einer Festivaleinladung bekommt.

 

Das ist alles (2001)

© Ventofilm | Covi/Frimmel

 

Dann kommt Das ist alles. Der ist auf einer DVD-Ausgabe von Babooska enthalten.

RF  Das ist alles wurde in Kaliningrad gedreht. Ein Film über Minderheiten und Heimatlosigkeit. Da haben wir auch die Kamera fix hingestellt …

TC  Damals war unser Anspruch, eine gute Szene so lang wie möglich ungeschnitten zu machen. Auch bis heute würden wir eine gute Szene nach Möglichkeit nicht zerschneiden. Wir überlegen theoretisch viel, wie wir etwas haben wollen, aber am Set müssen wir die Konzepte fast immer auf die Seite werfen. Wir sind konzeptdenkende Menschen, verfolgen das aber nie bis zum bitteren Ende.

RF  Im Zirkus haben wir später gesehen, dass wir mit dem Stativ nicht weiterkommen. Da haben wir allmählich begonnen, Szenen auch anders zu drehen, auch mehrere Takes, mit anderen Brennweiten, damit wir Schnittmöglichkeiten bekommen. Wir haben uns minimal den Spielfilmregeln angenähert.

Der Film in Russland war ähnlich «ethnografisch» wie danach die Zirkusfilme?

TC  Kaliningrad war ja bis 1992 Sperrgebiet, viele Russlanddeutsche haben eine Sprache wie aus dem 18. Jahrhundert, als lebten sie immer noch unter Katharina der Großen. Eine Tante von Rainer hat dort Deutsch unterrichtet. Wir haben zuerst eine Fotoserie gemacht.

 

© Ventofilm | Covi/Frimmel

 

RF  Damals hat es die Fotografie, wie sie heute jeder macht, noch nicht gegeben. Wir haben bemerkt, die Leute haben überhaupt keine Fotos von sich. Aljoscha, einer unserer Protagonisten, hatte nur ein einziges Foto von seiner Schwester – vom Totenbett. Sie starb mit 14. Ein Jahr später sind wir mit einer Polaroidkamera zurückgekommen.

TC  Eine SX70. Die geht ja so komisch auf, aber wenn wir in ein Dorf kamen, konnten die Kinder schon erklären, wie dieses flache Ding aufgeht, weil sich das, obwohl es pro Dorf nur ein Telefon gab, wie ein Lauffeuer verbreitet hat, dass da zwei da sind, eine mit roten Haaren …

Die roten Haare fallen ja wirklich auf. Man könnte sagen, dass Du gut selbst in Eure Filme passen würdest.

TC  Als Kind bist du immer etwas Besonderes, wenn du rote Haare hast. Beim Fangenspielen bist du immer die Hexe. Das ist ein kleines Manko, an dem du dann gemessen wirst. Generell fühle ich mich sehr verbunden mit Minderheiten. Ich sag in Italien gar nicht, dass ich aus Südtirol komme, weil ich da nur beschumpfen werde. Das ergibt auf der anderen Seite einen extremen Zusammenhalt, wie man bei den Zirkusleuten sehen kann.

Wie geht es den Leuten um Kaliningrad heute?

RF  Damals wollten alle unbedingt nach Deutschland. Mittlerweile sind viele wieder zurückgegangen. Sie wurden in Deutschland in Fabriken gesteckt, viele wurden völlig verheizt. Im Dorf war Aljoscha jemand, in Deutschland wurde er krank.

Bei Das ist alles kann man die Grundlagen Eurer Arbeit schon gut erkennen.

TC  Wir kennen die Leute immer sehr gut, wichtig ist zuerst einmal, dass wir zwei Sommer mit ihnen gelebt haben.

RF  Deswegen kann man das auch auf Film drehen. Erinnerungen werden oft auf dieselbe Art erzählt. Wir hatten 40 Filmrollen, kannten aber die Geschichten schon und wussten deswegen ziemlich gut, was wir schließlich drehen wollten.

TC  Bei Babooska gibt es achtzehn Stunden Material, also nicht sehr viel, wenn man das mit heutigen digitalen Möglichkeiten vergleicht. Wir waren insgesamt sechs Monate mit den Leuten unterwegs, haben aber pro Monat drei bis maximal vier Stunden gedreht. So fokussiert war das. Wann nimmst du die Kamera, wann ist es gut? Nur nicht zu viel aufdrehen. Dadurch wird jede Szene sehr wertvoll und kann den Bogen gut mittragen.

 

Babooska (2005)

© Ventofilm | Covi/Frimmel

 

Wie habt ihr den Zirkus Floriciccio gefunden, um den es in Babooska vor allem geht?

RF  Wir waren in Italien unterwegs. Tizza hat damals in Rom gelebt. Wir haben davor schon in Österreich kleine Zirkusse fotografiert, und in Italien dann weitergemacht.Mich hat das immer fasziniert, da hinten reinzuschauen, von der Rückseite des Zelts. Am Anfang standen Porträts mit der Großformatkamera, da haben wir viele Leute kennengelernt. Babooska war 13 und hat uns damals schon fasziniert.

TC  Im Konzept waren viele Leute drin, da sollte es noch ein Film über kleine Wanderzirkusse im allgemeineren Sinn werden. Babooska ist hängengeblieben, mit ihr konnten wir gut arbeiten. Dabei muss man sich vorstellen: Babooska war 21, wir waren 30, sie war aber schon völlig abgebrüht, sprach immer davon, dass ihr Leben schon zu Ende wäre, dass sie keine großen Träume hätte wie wir. Dieser Unterschied hat mich an ihr fasziniert. Inzwischen ist sie ausgestiegen.

Das ist ja das Leitmotiv in Babooska: Bleiben oder Aussteigen. Eine Lebensform auf Abruf.

TC Es ist uns damals aufgefallen, dass das, was passiert, ohne dass wir interferieren, nicht mehr genug ist. Es gibt eine Szene in einem Lokal, Babooska und ihr Freund und eine Wirtin, die haben wir mehr oder weniger angesetzt. Die Zirkusleute suchen sich ja jedesmal, wenn sie in einen Ort kommen, ein Café, in dem sie ausspannen können. Wir haben diese Bar gefunden, da wäre Babooska von sich aus nie hingegangen, das haben wir also in die Wege leiten müssen, dass sie und ihr Freund da hingehen am Nachmittag und dort über ihre Probleme reden.

Die beiden sitzen in dieser Szene an einem Tisch an der Wand. Das Bild nenne ich eine Seidl-Einstellung. Ein komponiertes Bild, die Figuren wirken für einen Moment wie arrangiert. Habt Ihr mit dieser Form des Dokumentarfilms etwas anfangen können?

RF  Also Mit Verlust ist zu rechnen, der hat gesessen. Auch Good News.

TC  Aber fotografisch haben wir eine gemeinsame Größe: Diane Arbus. Sie fotografiert Leute außerhalb der Norm, aber immer mit einer positiven Sicht. Niemals Freaks, aber auch niemals perfekt.

RF  Das ist alles immer ein bissl schief, sodass das Menschliche durchkommt. Die hat uns unabhängig voneinander gefallen. Diane Arbus ist unsere Lieblingsfotografin.

TC  Über unseren Filmen liegt immer eine positive Weltanschauung. Wir haben alle Leute, mit denen wir arbeiten, eigentlich gern. Was wir ganz fest suchen: in der Traurigkeit, im Drama liegt viel Humor, alltäglicher Humor. Das kann man sehr schwer erzeugen, das muss man anders inszenieren, dass der hervorkommt. Auch wenn es einem schlecht geht, gibt es Situationskomik, gibt es sprachlichen Humor. Roland Klick, dessen Film Supermarkt uns sehr gefällt, hat einmal in einem Interview gesagt: Wenn man Leuten etwas nimmt, muss man ihnen auch etwas zurückgeben. Darin finden wir uns wieder. Die Leute haben ein Leben lang eine Freude mit dem, was mir mit ihnen machen, das bleibt ihnen ein Leben lang.

Die Szene in der Bar in Babooska geht später noch weiter, denn am Wochenende findet dort eine Tanzunterhaltung statt. Ein Tänzer produziert sich offensichtlich für die Kamera.

RF  Der hat die Kamera gesehen, der Ansager spricht ihn ja sogar darauf an: Felipe, du wirst gefilmt. Das haben wir aber drinnen gelassen, wir wollten gar nicht so tun, als wären wir nicht da gewesen. Wir haben ihn zu dieser Nummer veranlasst. Selbst bei den inszenierteren Szenen muss man immer mit etwas rechnen. Etwas, was wir durch unsere Anwesenheit provozieren. Wir wissen, wenn wir irgendwo hineingehen, entsteht eine künstliche Situation.

Anders als manchen Klassikern des dokumentarischen Kinos liegt Euch nichts an diesem Effekt, dass man sich so lange in einer dargestellten Welt bewegt, bis man darin «unsichtbar» wird.

RF  Manchmal wollen wir schon beobachtend sein, gerade wenn ich mir Babooska anschaue, manchmal wollen wir aber auch etwas auslösen.

TC  Wir haben anscheinend etwas, was uns uninteressant macht für die Leute, die wir filmen. Nanni Moretti hat einmal gefragt: Warum sehen euch die Leute nicht? Ihr geht in einen Supermarkt, und die Leute schauen nicht auf Euch, sondern auf die Protagonisten. Da haben wir schon etwas, was ganz wichtig ist. Ist es bescheidenes Auftreten, oder haben die Protagonisten so ein faszinierendes Auftreten? Mit Nanni würde das so nie gehen. Wenn jemand glauben würde, dass wir große Regisseure sind, was wir nicht sind, würde das vieles verändern.

RF  Wenn man zum Beispiel eine Prozession dreht, also eine Szene mit vielen Leuten, die vorbeigehen, da muss man schon sehr unauffällig sein, damit sich nicht jemand plötzlich an dich oder an die Kamera wendet.

TC  Wobei man auch sagen muss: In La Pivellina ist das Kind zwei Jahre alt, da haben wir uns vollständig integriert, sind also doch irgendwie unsichtbar geworden.

Wir kommen gleich zu La Pivellina, aber noch eine Sache zu Babooska: Ihr zeigt ein Italien ohne Sonne, kam mir vor. Warum so grau?

RF  Das war bewusst. Wir drehen viel bei dem Licht. Das Herbstlicht ist das schönste. Diese leeren Orte hätten im Sommer einen ganz anderen Film ergeben.

TC  Selbst im Sommer haben wir die bewölkten Tage gesucht. Oder das Licht in der Früh. Wir vermeiden nach Möglichkeit die starken Kontraste.

 

La Pivellina (2009)

© Ventofilm | Covi/Frimmel

 

Wie verlief der Übergang von Babooska zu La Pivellina?

TC  Irgendwann haben wir die Tante von Babooska kennengelernt, die in einer Vorstadt von Rom hinter einem Wellblechzaun gelebt hat. Das erschien uns als eine etwas kriminelle Gegend, wir haben klassische Erziehungsangst gehabt, aber wir haben dann den Schritt hinter den Zaun gemacht. Dort fanden wir etwas, das nicht den Vorstellungen entspricht. So kam die Idee: Wir machen einen Film über das Leben hinter diesem Zaun.

RF  Walter und Patty hatten wir schon davor kennengelernt, da haben sie Straßentheater gemacht. Walter als Deutscher hat unsere Neugierde besonders erweckt. Patty ist die Tante von der Babooska. Der Kreis schließt sich, weil der Platz in Mister Universo noch einmal vorkommt, da steht dann der Floriciccio-Wagen dort.

Mister Universo ist offensichtlich von einer Bewegung der Rekapitulation geprägt. La Pivellina sehe ich als einen Film über einen Ort, an dem provisorisches Leben auf die Notwendigkeiten des verwalteten Lebens trifft. Wo kommt der Strom her? Wie geht man mit Behörden um? Hält man sich an Vorschriften? Auf dieser Ebene ist der Film dokumentarisch.

TC  Wir haben lange nach einer Idee gesucht, etwas von außen zu nehmen, damit wir den Platz hinter dem Zaun von innen erleben können. Das muss irgendeine Kleinigkeit sein. In Wien war ich dann einmal mit unseren Kindern am Spielplatz. Es hat zu regnen begonnen, alle haben sich so schnell wie möglich ins Trockene gebracht, nur ein Kind blieb zurück, die Mutter war weg. Es hat sich dann erwiesen, dass sie auf der Toilette war, also nichts Schlimmes. Aber in diesen Minuten überlegt man: Rufe ich die Polizei, nehme ich das Kind schnell mit nach Hause, weil wir wohnen gleich nebenan? Und so entstand diese Idee: Ein kleines Kind kommt in diese «gefährliche» Umgebung. Dann hat es sich ohnehin ergeben, dass die Asia da war. Der Vater ist ein Rom, die Mutter aus einer uralten Zirkusdynastie. Wir müssen ja auch immer die Logistik so gering wie möglich halten. Jeden Tag eine Mutter mit einem Kind und einem Taxi aus Rom kommen zu lassen, das ginge gar nicht. Asia war schon da, deswegen haben wir mit ihr gearbeitet, nicht weil wir sie so süß oder so super gefunden hätten. Wir haben das Einverständnis ohne Probleme bekommen.

In La Pivellina wird dieses dokufiktionale Prinzip ein paar Schritte deutlicher. Menschen spielen sich selbst, in einer ein bisschen erfundenen Geschichte.

TC  Einmal haben wir mit Patty und Walter eine Probeaufnahme gemacht. Die war so schlecht! Sie haben so «gespielt», dass du vor Peinlichkeit Bauchschmerzen kriegtest. Wir waren verzweifelt. Danach war klar: Jeder kann sich selber spielen. Was wir lernen haben müssen: Unsere Aufgabe besteht darin, dass man den Leuten ein Gefühl der Sicherheit gibt, viel Zeit mit ihnen verbringt, viel Lachen, viel Kartenspielen, damit sie sich nicht mehr verstellen müssen. Dass wir sie genau so haben wollen, wie sie sind. Wenn jemand sich nicht selber spielen kann, dann ist das mein Fehler, dann muss ich schauen, wo das Problem ist.

RF  So eine Probeaufnahme machen wir jetzt nie wieder, genau das wollen wir nicht, das haben wir ihnen dann auch kommuniziert. Patty war ja dann wirklich toll, hat auch viele Preise gekriegt. Das war aber für uns auch ein Weg dorthin.

Könntet Ihr noch ein paar Worte zu dieser Gruppe von Menschen sagen. Wo kommen sie her? Um die Frage bei Walter konkret zu machen: Wie wird jemand Schwertschlucker?

RF  Da wirst du hineingeboren, das ist auch eine Hierachie. Ganz genau wissen wir das historisch jetzt auch nicht, aber die Leute sind das, was sie sind, oft schon in achter Generation. Es gibt eigene Ausdrücke für jemand, bei dem Vater und Mutter aus dem Zirkus kommen, andere wiederum sind Gadjos, mit Eltern von außerhalb, dann die untersten, die von außerhalb dazu stoßen, zum Beispiel Ausreißer, die haben es am schwierigsten. Diese soziologische Arbeit, eine Gruppe darzustellen, die man sonst nicht so beachtet, das ist ein Aspekt, den ich auch sehr spannend finde. Man wohnt ja auch dort, im Wohnwagen, dadurch haben wir uns Respekt erarbeitet, wir haben nicht im Hotel gewohnt. Geschichtlich müsste man das recherchieren. Die fahrenden Völker vermischen sich. Ich habe mit dem Tony Gatlif einmal eine scharfe Diskussion gehabt, weil er gesagt hat: Das sind alles Roma und Sinti. Der wollte die Zirkusleute für seine Position vereinnahmen. Und ich habe dann schon auch klargemacht, dass die sich als eigenes Volk sehen.

Sie sind im strengen Sinn kein Volk, aber eine ausgeprägte Gruppe, die halb außerhalb der Gesellschaft und ihrer institutionellen Regeln lebt.

TC  Das ist überhaupt die Frage, wie man so leben kann.

RF  In La Pivellina ist eben dieser Zaun die Metapher. Die Zirkusmenschen leben in prekären Verhältnissen, aber auf eine andere Weise gilt das in Italien auch für viele andere Menschen. Der Zirkus mit seinem täglichen Kampf um ein Publikum lässt sich übertragen auf Italien, viele Menschen haben diesen täglichen Überlebenskampf.

In seinem späten Film Ginger und Fred hat Fellini diese Welt der «Gaukler» (ich meine das jetzt in einem sehr weiten Sinn) im Fernsehen einmal noch vorführen lassen. Für ihn war das damit auch zu Ende. Ihr zeigt gewissermaßen etwas, das nach diesem Ende noch geblieben ist.

TC  Ja, zum Beispiel in der Szene mit dem Affen in Mister Universo. Das ist das Tier, das in Ginger und Fred die Szene mit Mastroianni hatte. Es hat gedauert, bis ich begriffen habe, was das für ein toller Film ist. Fellini und Neorealismus sind natürlich schon absolut zentral für uns.

In der Szene mit dem Schimpansen werden eine Reihe von Stationen des italienischen Kinos genannt: Phenomena von Argento, Adriana Celentano (Gib dem Affen Zucker) und Fellini. In dieser Tradition steht Mister Universo. Davor gibt es noch einen Film von Euch, der vielleicht der komplexeste ist: Der Glanz des Tages. Wie passt der in die Entwicklung?

RF  Man hat das einmal mit diesen Matrjoschkas verglichen. Unsere Filme gehen so ähnlich auseinander hervor. Walter Saabel mit seinen Geschichten haben wir gut kennengelernt, bei La Pivellina ist er uns abhanden gekommen, wir wollten mit ihm einen größeren Film machen. In der Zwischenzeit haben wir auch den Philipp Hochmair kennengelernt, der am Burgtheater und in Hamburg am Thalia Theater arbeitet. Irgendwann war die Idee da, die beiden zusammenzubringen.

TC  Wenn man Viktor dazu zählt, dann ist es eigentlich sogar ein Film über drei Männer, die drei ganz verschiedene Leben führen. Das war schlussendlich die Schwierigkeit, dass wir vielleicht zu viel hineinbringen wollten.

Der Einstieg könnte einfacher nicht sein: Walter Saabel taucht an der Wohnungstür von Hochmair auf und sagt: «Ich bin’s, der Walter, ich bin dein Onkel.» Eine Vorstellung, die auch eine Zumutung ist. Nicht zuletzt, weil sie erfunden ist, die beiden Männer das dann aber so spielen sollen, und zwar, indem sie jeweils sie selbst bleiben.

RF Was wir ursprünglich wollten, das hat nicht wirklich funktioniert, wir wollten eigentlich mehr Sympathie zwischen den beiden, es wurde dann aber eher ein spannungsreiches Verhältnis, was dann eh wieder gut war.

TC  Bei Der Glanz des Tages mussten wir das Drehbuch vergessen, weil unser Konzept nicht aufgegangen ist. Wir halten niemals an unseren geschriebenen Ideen fanatisch fest, es macht keinen Sinn, sich auf etwas zu versteifen. Wenn also die beiden Protagonisten eine Art Konkurrenz haben oder völlig aneinander vorbeileben, dann muss man das halt so lassen, und das ist teilweise sehr schwierig, während der Dreharbeiten flexibel zu sein, wenn man eigentlich eine andere Idee hatte.

 

Der Glanz des Tages (2012)

© Ventofilm | Covi/Frimmel

 

Was wird denn hier dokumentiert? Oder gezeigt? Zwei Männer in einer seltsamen Wohngemeinschaft, ein Kind, ein Burgtheaterstar mit einem sehr stressigen Leben? Hochmairs Alltag ist faszinierend, aber auch eine Zumutung.

TC  Wir haben sehr hart mit ihm gearbeitet. Zu einem Schauspieler kann man ja nicht so sagen: Sei du selber. Wir hatten zuerst ihn und seine Geschichten, auch er hatte uns vorab, so wie der Walter, viele erzählt. Zum Beispiel über einen Blackout vor tausend Zuschauern.

Er steigt insgesamt nicht wirklich gut aus. Man hat den Eindruck eines radikal selbstbezogenen Menschen.

RF  Er beschäftigt sich halt viel mit dem, mit dieser Zerrissenheit zwischen den Figuren, mit der Suche nach dem, wer man selber ist.

Er kann als Künstler das Chaos im Leben immer rechtfertigen.

TC  Er hat von uns viele Möglichkeiten gekriegt, wie er auch als hilfsbereiter Nachbar dastehen hätte können. Er wollte das aber nicht spielen, denn das ist er einfach nicht. Er interessiert sich nicht für die Leute auf der anderen Seite.

RF  Für Philipp war das wichtigste das Theater. Dem ordnet er alles unter. Für Bühnenschauspieler gibt es etwas, was sie traurig macht: Wenn das Stück vorbei ist, verschwinden die Rollen. Dem Philipp war es ein Anliegen, dass diese Rollen bewahrt werden.

Bei manchen Provokationen ist charakteristisch unklar, ob sie spontan sind oder Text.

RF  Er nützt vor allem einen Handke-Text, das ist besonders spannend, wenn sich das dann so vermischt mit dem Walter und seiner Geschichte.

TC D ie Triebfeder unserer ganzen Arbeit ist, dass man eine fiktive Geschichte in eine reale Welt bringt und dass diese Geschichte genährt wird mit Dingen, die du nicht vorhersehen kannst. Zum Beispiel wenn Tairo sagt: Ein alter Mensch interessiert mich nicht. Dann hört er aber viel über Artur Robin, und am Schluss will er den wirklich treffen, das sind echte Emotionen, die wir mit einem Experiment geschaffen haben. Für dieses Spannungselement machen wir Filme, und zugleich liegt darin der Grund, warum wir nicht größere Filme machen oder durchdachtere, also ganz erfundene Spielfilme.

RF  Es gibt eine Schlüsselszene aus Der Glanz des Tages, die unsere Arbeit gut beschreibt. Wenn wir mit dem Walter an den Ort seiner Kindheit fahren, wo er zu diesem Baum geht, das war ja ganz spontan von ihm, dass er diesen Baum streichelt, und wenn er dann im Gasthaus die Leute trifft, mit denen er endlich seine Erinnerungen teilen kann, dann spielt er wirklich in jeder Hinsicht sich selbst.

Er kommt zu sich selbst, könnte man sagen.

RF  Genau. Seine Frau, die Patty, hat das alles nie interessiert, was ihn immer umgetrieben hat. Vor allem dieser Lehrer, auf den er am Stammtisch zu sprechen kommt.

Walter erfährt von den Männern im Gasthaus, dass dieser Lehrer sich das Leben genommen hat. Der Dialog wirkt eher, als wäre er geschrieben. «Er ist nicht mehr da.» Warum ist er nicht mehr da. «Er hat sich vergast.» Warum? «Es hat alles nicht mehr zusammengepasst.» Das sind markante Formulierungen. Vermutlich fallen sie aber doch spontan.

RF  Wir haben das zweimal gedreht, aber das ist die Sprache dieser Menschen, das war nicht geschrieben.

TC  Die Leute wissen gar nicht so klar, dass wir das für einen Spielfilm machen, sie verstehen auch nicht ganz, warum sie etwas zwei- oder dreimal sagen sollen, weil wir Schnittmöglichkeiten brauchen. Solche Sätze machen diesen Film aus, die haben wir aber nicht geschrieben, da können wir uns keine Lorbeeren dafür anheften. Wir haben sie provoziert, würde der Rainer sagen.

RF  Wir haben das damals ja auch wirklich nicht gewusst, was mit diesem Lehrer Hiller passiert ist.

Den gab es auch wirklich, das ist nicht Drehbuch?

TC  Es ist in hohem Maß Drehbuch, denn von diesem Lehrer hat Walter uns vor zehn Jahren zum ersten Mal erzählt, wir kennen die Geschichte schon, weil er sie immer wieder mit leichten Variationen, aber doch wiedererkennbar erzählt. Wir sind mit ihm ja wirklich gut befreundet. Manchmal verschönert er etwas, manchmal lässt er etwas in der Emotion weg, aber den Kern der Geschichten kannten wir so gut, dass wir schreiben konnten, was er im Film sagen sollte.

Vieles, was Ihr über die Jahre von ihm erfahren habt.

TC  Man muss aber auch aufpassen, denn nach dreimal ist er so erschöpft. Und niemand kann sich dahinter verstecken, dass in Wirklichkeit alles besser ist, wie das bei Schauspielern sonst meistens ist. In Wirklichkeit ist nichts besser. In Wirklichkeit lebt die Wendy in einer Nussschale, wo sie kein fließendes Wasser hat, und hat Rückenschmerzen und muss jeden Tag auftreten. In Wirklichkeit leidet der Walter seit seiner Kindheit so extrem, dass er nie das aus seinem Leben hat machen können, was er wirklich gewollt hätte, weil er ein unglückliches Kind ist, dem du nimmer helfen kannst. In Wirklichkeit lebt die Patty (und die Asia auch) unter dem Existenzminimum. Und alle diese Menschen zeigen das. Sie zeigen es mit Würde, aber sie zeigen es: Wir sind arm, wir sind verlassen worden, wir können uns nicht dahinter verstecken. Ich finde das eine ganz große Leistung, dass sie das machen. Gegen viele Menschen, die meinen, es wäre keine große Kunst, Laiendarsteller zu sein.

RF  Bei Der Glanz des Tages hat sich das noch einmal mehr vermischt: Film, Realität, Persönlichkeit. Zweimal steigert sich Walter ja richtig hinein, der Hass auf den Bruder, der in der Geschichte der Vater vom Philipp ist, das ist aber sein wirklicher Hass auf einen Bruder, den es wirklich gibt. Da mussten wir manchmal ausschalten, weil Walter den Philipp dann wirklich so gesehen hat.

Wie in einer Übertragung.

RF  Philipp hat sich in die Enge getrieben gesehen und zurückgegeben. Es war wirklich ein psychologisches Experiment.

In Mister Universo fällt zu Beginn in einem Dialog eine Formulierung, die sehr wichtig ist: Tairo kann alles tun, sagt jemand zu ihm, er kann auch «trovare ti te stesso», sich selbst finden gehen. Aber davor soll er an diesem Abend noch auftreten. Dieses «trovare di te stesso», das fällt nicht zufällig, richtig? Das ist wieder geschrieben, denn das ist doch ein Schlüsselsatz.

TC  Das ist Drehbuch. Man muss dann aber Kompromisse eingehen, weil es nicht immer geht, Szenen so lange zu drehen, bis man das hat.

RF  Das mussten wir erarbeiten.

TC  Weil der Text in diesem Fall sehr wichtig ist.

Beim Sprechen über Der Glanz des Tages höre ich Zwischentöne heraus. Ihr mögt den Film hoffentlich?

RF  Absolut.

TC I ch habe lange mit ihm gehadert. Wir versuchen ja immer Geschichten so klein wie möglich zu halten. Das bedeutet dann neunzig Minuten, um einen Menschen kennenzulernen. Hier sind es zwei. Wenn du mit denen nicht einmal zehn Minuten auf einem Stuhl sitzen kannst, ohne dass zu viel passiert, wirst du den nicht kennenlernen. Am Anfang war ich ein bisschen unglücklich, dass man zuviel reinpacken musste, wie ich fand. Wir haben ganz fest im Schnitt arbeiten müssen, bis wir zufrieden waren.

Es ist sicher der anspruchsvollste Eurer Filme, weil er so konzeptuell ist: Ein hochreflektierter Kunstschauspieler trifft auf einen tief verletzten «Naturschauspieler».

RF  Das ist ja auch Thema. Abgesehen von den Welten, in denen sie leben, ist tatsächlich das Spielen das Thema. Ganz extrem. Was gibt man von sich, was ist wirklich echt, wer ist man? Ist ein Schauspieler in seinen Rollen er selbst? Das hat sich ja sogar noch weiter gesponnen in Locarno, wo der Walter den Preis für den besten Schauspieler bekommen hat. Der Walter, nicht der Philipp oder beide zusammen. Er war da schon in Sizilien und wollte nicht einmal zur Verleihung kommen. Jetzt hat er einen riesigen Silbernen Leoparden in seinem Wohnwagen stehen.

Woran arbeitet Ihr jetzt?

RF  Eine Geschichte in Wien. Die wird wieder mehr dokumentarisch, der Zugang verändert sich gerade sehr. Wir gehen ins Milieu des Wiener Lieds und der Halbwelt. Ausgangspunkt ist ein konkreter Fall, für den sie alle unschuldig gesessen sind. Zuerst dachten wir auch da an eine Art Spielhandlung, aber wir werden das jetzt doch stark mit Interviews machen.

TC  Das sind so unglaubliche Geschichten, da ist uns wirklich wichtig, das einfach festzuhalten. Es wird sehr viel um Gefängnis gehen.

RF  Und auch darum: Wo ist die Wahrheit? Jeder erzählt seine eigene Wahrheit, das kann man anhand eines Falles sehr gut darstellen. Da muss man schauen, ob wir das so hinkriegen, denn es ist ja doch ein realer Fall, auch wenn er schon verjährt ist. Ob das alles vor der Kamera wirklich geht.

TC  Gleichzeitig schreiben wir an zwei Sachen, die in diese Richtung weitergehen, die wir bisher gegangen sind, aber nicht im Zirkusmilieu.

Wie seid Ihr auf das Wiener Milieu gekommen? Ihr lebt ja natürlich auch darin, der 18. Bezirk hat ja alle Facetten zwischen Großbürgertum und Strizziwelt.

RF  Da kann man fast zurückgehen bis zu meinem frühen Film Aufzeichnungen aus dem Tiefparterre. Ein Jargon, der am Aussterben ist. Wir haben einfach ein Faible, Dinge festzuhalten, die verloren gehen. Auch festzuhalten an einem Medium, letztlich geht das auch verloren. Dass man Film und Fotografie macht, hat etwas mit diesem Wunsch zu tun.

 

Aufzeichnungen aus dem Tiefparterre (2002)

© Ventofilm | Covi/Frimmel)

 

Wie entstand Aufzeichnungen aus dem Tiefparterre, der wie ein Vorbote vieler politische Phänomene aus unserer jüngeren Gegenwart wirkt? Ein Mann präsentiert sich mit allen seinen Ressentiments und irgendwie hemmungslos vor einer Kamera.

RF  Ich habe Zivildienst im AKH (Allgemeinen Krankenhaus) gemacht, bei den Krankenträgern. Das ist eine ganz eigene Welt, die sind sehr eng mit den Kranken, oft sind sie die einzige Bezugsperson, in vielen Fällen ist der letzte Mensch, der mit Patienten vor einer Operation redet, ein Krankenträger. Peter Haindl war einer der auffälligeren, mit seinem Goldschmuck. Da sind die Sprüche gelaufen, das habe ich so nicht gekannt, ich komme ja eher aus einem bürgerlichen Milieu. Aber wir haben doch eine Freundschaft aufgebaut.

TC  Ich erinnere mich, dass du ihn irgendwann gefragt hast, ob du nicht einen Film mit ihm machen könntest. Und er hat geantwortet: Na, das habe ich schon selber gemacht.

Der Film ist dann eigentlich nur kuratiert.

RF  Ich habe gesagt: Mach weiter so. Dann haben wir das geschnitten.

TC  Faszinierend war diese Ambivalenz. Ich habe ihn irrsinnig lieb gefunden, und dann war er wieder so ein Idiot.

RF  Ein totaler Rassist, aber seine Freundin ist eine Jugoslawin, ihr verschafft er eine Gemeindewohnung. Dass man in einem Satz so viele Widersprüche haben kann!

TC  Barbara Albert unterrichtet in Potsdam an der HFF. Da haben wir einen Workshop gemacht, in dessen Zusammenhang wir den Film wieder einmal ausgegraben haben. Die Überraschung war: Er ist sehr schlecht angekommen. Das sehe ich jeden Tag auf Youtube, war die einhellige Reaktion. Das kann man gar nicht mehr nachvollziehen, was das damals noch bedeutet hat, dass sich jemand selber filmt für eine Nachwelt.

RF  Inzwischen sehen wir Peter Haindl als Pionier dieser Generation. Damals wurden die Kameras zum ersten Mal so klein und kompakt, er hat das gleich genutzt.

Abschließend würde mich interessieren, wie es Euch mit Eurer Arbeit finanziell geht. Das ist hoffentlich nicht reine Selbstausbeutung?

RF  Wir können davon leben.

TC  Gesamtbudget für einen unserer Filme sind 150 000 Euro. Wir weigern uns, das als Low Budget zu bezeichnen, für manche junge Leute sind 1,5 Millionen Low Budget, für andere sind 150 000 Euro riesig viel Geld.

RF  In der Welt, in der wir drehen, ist das viel Geld. Da könnten wir jemand eine Wohnung davon kaufen. Wir produzieren selbst, das heißt, wir haben auch die Rechte an den Filmen. Die haben sich alle verkauft. Von La Pivellina haben wir ein paar Jahre leben können. Das war ein Film, der war zur rechten Zeit am rechten Ort. Ein französischer Weltvertrieb ist eingestiegen, am Anfang dachten wir, da kommt nie etwas zurück, weil die natürlich erst einmal ihren Anteil hereinholen. Dann kam aber doch irgendwann Geld. Bei Mister Universo haben wir auch einen Weltvertrieb, der Film kommt in Frankreich und in Italien ins Kino.

TC  Wir zahlen auch unsere Darsteller gut. Von diesem Budget bleibt keine Gage übrig, oder sagen wir so: Die Gage fließt wieder rein. g

Das Gespräch führte Bert Rebhandl

 

 

Schauspielen

Der 18. Bezirk in Wien gilt als eine feine Gegend, aber er hat auch Teile, in denen das Geld noch nicht mit seiner alles verwandelnden Kraft angekommen ist. In einem dieser Winkel, nicht allzu weit von der U-Bahn-Station, die das mächtige Allgemeine Krankenhaus erschließt, befindet sich das Büro der Firma Ventofilm, und, am selben Stockwerk, auch die Wohnung von Tizza Covi und Rainer Frimmel und ihren gemeinsamen Kindern. Wenn man so Filme macht wie die beiden, dann hilft es, wenn man auch privat das Leben teilt. Denn häufig drehen Covi und Frimmel auf engem Raum, und das ist sowohl im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn gemeint.

2005 erzählten sie in Babooska zum ersten Mal aus der Welt eines kleinen Zirkus in Italien, und damit von einer unzeitgemäßen Lebensform. Rainer Frimmel erwähnt an einer Stelle unseres Gesprächs ausdrücklich die Bedeutung, die Mobiltelefone besonders auch für die ‹fahrenden Menschen› gewonnen haben, die einander nun viel besser verfolgen können. Das Motiv der Suche spielt vor allem eine Rolle in dem neuesten Film von Covi und Frimmel, in Mister Universo. Tairo, der bei einem kleinen Zirkus die Raubtiernummer macht und damit die entscheidende Attraktion ist, sucht nach dem legendären Artur Robin, um von ihm ein gebogenes Hufeisen zu bekommen. Er braucht es als Glücksbringer, weil man ihm seinen bisherigen entwendet hat.

Die Odyssee von Tairo ist auch eine Fahrt durch das filmische Universum, das Covi und Frimmel im Lauf der Jahre erschlossen haben, ausgehend von dem Zirkus, in dem sie damals die Artistin Babooska getroffen haben. Die Filme entstammen einem ursprünglich fotografischen Projekt (von dem es auf dem Titelbild dieser Ausgabe ein Beispiel gibt), sie haben sich sowohl von den Bedingungen der Standfotografie wie auch von den Orthodoxien des Dokumentarischen allmählich entfernt, ohne diese grundsätzlichen Verwurzelungen jemals abzustreifen.

La Pivellina ist ein Spielfilm, in dem Tairo auch schon auftaucht, das fiktionale Element ist im Grunde ein Anlass, um den Menschen vor der Kamera die Gelegenheit zu geben, sich selbst zu spielen – darunter die rothaarige Patty und ihr Mann Walter, der hier noch eine wichtige Nebenfigur ist; er wird in Der Glanz des Tages in den Mittelpunkt rücken, der Film, mit dem Covi und Frimmel die Welt des Zirkus verließen, und den Schwertschlucker Walter mit dem Theaterstar Philipp Hochmair zusammenbrachten, woraus sich ihr vielleicht bester Film ergab – eine komplexe Auseinandersetzung über Rollenverhalten und Interaktion, über natürliches und artifizielles Schauspiel.

Im Gespräch vertreten Tizza Covi und Rainer Frimmel ihre Filme überzeugend so, als wären sie einfach Teil eines gemeinsamen Lebens.