routine pleasures

momentaufnahme

Von Anke Stelling

Moment – das ist die Notaufnahme.

Ich habe mir gewünscht, meine Schmerzen mal in Zahlen statt in Wörtern ausdrücken zu dürfen, anhand eines Pappstreifens, anhand ei­ner Skala von eins bis zehn: Das Schmerzbarometer soll helfen bei der Kommunikation.

Mein Leib ist intakt, nichts blutet. Einer tastet mich ab und flucht: «Was soll das denn hier? Der Abdomen ist weich.» Das kenne ich aus dem Emergency Room. Weicher Abdomen: Dr. Greene kann wieder gehen.

Es gibt auch Farben im Wartebereich. Rot ist dringend, das wissen alle. Orange, gelb, grün und blau. Wer auf dem blauen Stuhl sitzt, hat besser eine Lunchbox dabei.

Wer betrunken ist, ist selbst schuld an seinem Elend. Wer kein Deutsch spricht, schart die Familie um sich. Wer keine Familie hat, hat immer noch das Recht auf eine Zweitmeinung, weil: Wir sind alle freiwillig hier.
 

Das geht nicht, sage ich, das gibt es nur im Fernsehen. Das kann nicht der Normal­ zustand sein, bitte, das geht nicht. Bitte, Flora, hörst du? Wir müssen was tun! Keine Betten, keine Ärzte. Keine Informationen, alle selbst schuld, der Süßigkeiten­automat ist kaputt und elf kommt nicht vor auf einer Skala von eins bis zehn. Hier spricht niemand, siehst du die Angst in den Augen der Ärzte? Alle sind gezwungen, keiner soll sterben, das ist Wahnsinn, hast du die Patientenverfügung dabei?

«Ganz ruhig, Stelling», sagt Flora, «du kannst jetzt nichts machen. Es kämpfen für uns: die Krüppelbewegung, das Netzwerk Care Revolution und die Schwulen in Schöneberg.»

Ein langer Gang, es ist Viertel vor drei in der Nacht. Keine Decken, nur Stöhnen. Nichts zu machen, sagen die Ärzte; die Greisin zittert unter ihrem Anorak, tastet nach dem Veilchen in ihrem Gesicht. «Drin ist schlimm», sagt sie, «draußen ist besser.»

 

Wer ohnmächtig war, wird aufgenommen. Winzige, glänzende Kap­ seln in winzigen, trüben Plastikbechern. Ich nehme das und den Rest auch in mich auf.

Das Personal spricht nicht, dazu ist zu viel zu tun: Handlungsabläufe, Krankheitsverläufe, alles läuft soweit nach Plan. Den Plan macht wer anders, wer, ist niemandem hier klar. Ich habe immer noch das Recht zu gehen, kann aber nicht, hänge schief am Handlauf, entwende einen Rollstuhl und suche die Raucherinsel.

Romy aus Schöneberg mit Permanent Make up – so was ist praktisch kurz nach der OP. Ilknur aus Kreuzberg mit Börek im Beutel – nimm nur, ich hab sowieso kein’ Appetit. Das Personal nur einen Aschenbecher weiter: Bernd von der Sicherheit – ein Jahr noch, dann ist Schluss. Thilo vom Transport hat das, was ich hab, schon zum dritten Mal – Spritze rin und allet wieder schick.

Pappelsamen fliegen durch die Luft, schon bald ist Juni.

Flora zu Besuch in weißen Kniestrümpfen, und es kämpfen für mich: der Anblick solcher Schönheit sowie das stete Vergehen der Zeit.