Humore des Abgrunds Grottig, schlundig, abgründig komisch: Die Filme von Pauline Curnier Jardin
Für Vice ist Pauline Curnier Jardin eine von «9 Breakout Artists» der diesjährigen Biennale von Venedig. Das anziehendste Portal nicht nur im Arsenale-Teil hat das Werk, mit dem sie hier vertreten ist, auf jeden Fall: eine schartige, felsige, scharfnagelige, rot-graue, nicht ganz unvulvische geöffnete Frauenhand heißt den, der diesen Eingang in der Handinnenfläche zu durchschreiten wagt, (furcht)erregend willkommen. Gerade im Vergleich mit der sehr braven black box gleich auf der anderen Seite des Gangs, in der Streicher, Rassel und andere, in Spielplatz, Schaukelpferd und den Stadtraum hineinimprovisierte Instrumente Musik produzieren - Videos, denen auch Kinder gerne zusehen, Traces von Nevin Aladağ.
Eher nichts für Kinder ist Curnier Jardins Grotta Profunda Approfondita. In Christine Macels allzu arg ernsthafter Großausstellung menschlichen Treibens und Tuns in mehr oder minder weltbewahrender und weltverändernder Absicht unter dem Titel Viva Arte Viva wandert man durch die riesigen und dramaturgisch schwer zu bespielenden Arsenale-Hallen von Rasheed Araeens Würfeln, die man anfassen und umbauen darf, zu Sheila Hicks' riesigen Wollknäuelhaufen, zu Materialsammlungen aller Art, von Francis Pritchards sehr spooky Puppen zu David Medallas Nadelbastelstunde im großen nach oben schwingenden Boden. In einem großen netzartigen Zelt darf, wer sich die Schuhe auszieht, erdverbunden bzw. schamanisch herumsitzen oder auch trommeln. In diesem Parcours, in dem man auf wenig Zwingendes und wenig auf den ersten Blick Törichtes trifft, öffnet sich diese Grotte als abgründigster Ort. Der Eingang durch die geöffnete Hand ist dabei gleich wieder blockiert durch ein schwarz-weißes Video an einer Wand. Man geht um die Ecke, sich wölbender Boden wie bunter Sandstein, die Anmutung des Raums entschwieden weniger Box als eben Grotte und Höhle.
Grotta profunda, auf französisch: Gorge profonde. Das ist, kein Zufall, der Titel des Porno-Klassikers Deep Throat. Auch das steckt darin, mehr noch als dieser Porno, wie die Künstlerin in einem Interview sagt, eine andere Referenz, auch ein Porno, Behind Green Doors der Mitchell Brothers, habe ich mir brav angesehen, ein Werk von 1973, das im banalsten amerikanischen Diner-Alltag beginnt und sich dann in eine Maskenorgie verwandelt, schon mal eine Fellatio in post-ejakulatorisch-ekstatischer Zeitlupe zelebriert und darauf vorübergehend ins Farbig-Psychedelische kippt.
Grotta profunda approfondita ist grafisch weitaus weniger explizit, mehr oder minder jugendfrei sogar, obwohl es sich atmosphärisch gar nicht so anfühlt. Die nackten oder auch nicht so nackten weiblichen Körper haben keinen Sex, sind in der Höhle als animalisch-mythische Wesen, als Venus von Willendorf und zischelndes Fischgoldschuppenwesen (aka Meerjungfrau-Affe) und Bernadette Soubirous unterwegs. Die feuchte und fiebrige Stimmung, das Verschwimmen von Umrissen, die Erzeugung eines hoch suggestiven zwielichtigen Klimas, Feier des weiblichen Körpers, seiner vielgestaltigen Transformationen und Wandlungsmöglichkeiten vom in einen flügelhauben-hammerhai-artig über den Kopf hinauswuchernden Auswuchs mit großem dunklen Gesichtseinauge darin zum auf allen Vieren kriechenden Insekt, eine Öffnung des filmischen Raums hinein in etwas vielversprechend recht Dunkles, ein Abgrund hinter verschlossenen Türen, darin liegt eine erkennbare Nähe der Grotta profunda zu Behind the Green Doors.
Bernadette Soubirous ist aber auch sehr im Spiel, denn: diese Höhle ist unter anderem Lourdes. Grotta profunda, das Video, war 2011 unter dem Titel Grotta Profunda les humeurs du gouffre eine site-spezifische Arbeit, entstand in Toulouse und verbindet die göttlichen Einflüsterungen der Bernadette durch die Jungfrau Maria mit den prähistorischen Höhlen an der französisch-spanischen Grenze. Les humeur du gouffre: Die humoralen, also die Körpersaft-Launen des Abgrunds, der auch ein Schlund ist und eine Höhle. In diese humorale Höhle hinein begibt sich der Film, für zwanzig seiner dreißig Minuten, beginnt aber (wörtliche Einblendung) «dehors», also draußen. Etwas spricht, jemand blickt. Weibliche Stimme, die denen, die zu blicken wissen, eine Bewegung ins Herz der Dinge verspricht. Was man sieht, schwarz-weiß, von Blenden verunklart, wie überhaupt der Fokus in ständiger Bewegung ist, etwas verschleiert sich, verschwimmt, kehrt in die Schärfe zurück, ein Wogen und Wallen in begrenzten und entgrenzten Schärfe- und Unschärfebereichen, auch einmal eine Weile lang Schwärze.
Eine junge Frau, Bernadette, gespielt von einem Mann, Simon Fravega d'Amore, vage sakral fantasiekostümiert. Ein Huhn auf einer Wiese, rundum ist Gebirg. Es spricht/singt dann und bis zum Ende wohl die Jungfrau Maria in einem eigentümlichen Singsang mit der Stimme der Künstlerin selbst. Dazu künden atonale Choräle von Großem und Schrägem, Bernadette beginnt zu Maria/der Kamera/uns zu beten. In der achten Minute legt Bernadette/Simon sich schwarz-weiß hin zum Schlaf und wacht in der neunten auf in rötestem Rot. (Und vor. Und zurück.) Dann eine Art Hippie-Jesus schwebend an der Stelle/vor einer weiblichen Scham. Dann lümmelt er, dieser Jesus, nackt bis auf einen Lendenschurz auf einem Hocker im Schwarzen. (Und vor. Und zurück.)
Jetzt hat der Film, hat Bernadette, hat wer auch immer Visionen. Bei 10:30 sind wir endgültig drin (stummfilmtafelhaft eingeblendet: «dedans») in der Höhle der Humoralpathologie: «Sie hat ihre/n Geliebte/n betreteten. Wie dunkel es ist.» Erdtonrotbraundunkel, gewaltiger Tropfstein, Wasser, von der Kamera liebkost. Auf der Tonspur räsoniert Maria/die Göttin/Pauline Curnier Jardin/die Höhle über Evolution und ob nicht die Erde sich und die menschliche Rasse in ihrer Vielfalt und alle Wesen, die auf ihr leben, selbst hervorgebracht hat. Zur Illustration dieser Vielfalt springen, zu schönster Partymusik, hast du nicht gesehen ein sehr blonder und ein dunkelhäutiger Mann als Schoko und als Vanille in Strumpfhosen aus einer großen Eistüte und machen sich peinlich berührt davon in ein Off.
Kurz gesagt: Uff. So geht das zwischen Ernst und Scherz vom nicht allzu Frommen ins recht Körperschwüle, die Musiken wild durcheinander bis hin zum walzerseligen Johann Strauß, Maya Deren steht Patin, es fehlt aber auch nicht das Bewusstsein für die Camp-Affinitäten des Ganzen, die aber den feministischen Freiheitsdrang in Bild, Ton, Text, Körper nie unterminieren. Das alles ergibt eine ziemlich einzigartige Mischung und lädt zur Exploration früherer Filme von Pauline Curnier Jardin. Bei Vimeo lässt sich einiges finden. Was Methode hat im filmischen Werk, das elf Jahre zurückreicht, ist der historische/realmythische Kern: In Ah, Jeanne von 2006 geht's um Jeanne d'Arc (gespielt, gesungen von der Künstlerin selbst), bevor dann eben auch alles Mögliche andere ins Spiel gebracht wird.
Oder Coeurs de Silex (2012): Auch eine site-spezifische Auftragsarbeit. Historischer Bezug auf die brutale Bombardierung der Stadt Noisy-le-Sec, Eisenbahnknotenpunkt im Osten von Paris, durch die Royal Air Force im Jahr 1944. Dies traumatische Ereignis aber als Ausgangspunkt für Improvisationen von sechs Schauspielern in den Straßen der Stadt. Und ganz ähnlich Blutbad Parade (2014): Der Film geht zurück auf ein Ereignis im Jahr 2016 - Flieger der französischen Luftwaffe warfen ihre Bomben aus Versehen über einem in Karlsruhe gastierenden Zirkus ab. 100 Jahre später kehren die Phantome der Toten zurück. Wieder also der historische Kern, um den herum wildes fantasmatisches Erinnerungswundfleisch zu wuchern beginnt, seine Eigenlogik entwickelt, sich vom Trauma abstößt, ohne sich ganz davon lösen zu können.
Nichts nämlich steht bei Curnier Jardin jemals fest. Nicht die Figuren in steter Bewegung, die Kamera, die zittert, schleicht, nicht einer Subjektive zuzuordnen, aber von allen Ansprüchen objektiver Beobachtung befreit. Auch die Farben haben mit den realen Farben der Welt nur von ferne zu tun. Blutbad Parade zeigt nach dem Schwarzbildvorspann erst einmal Bäume vor sehr grünem Himmel, als Hommage sicher auch an viragierte Schwarzweißfilme der Stummfilmzeit, die für Curnier Jardin nicht nur aus hier historischen Gründen, sondern überhaupt etwa in den oft sehr liebevollen Schriften und Texttafeln, zum engeren Referenzraum gehört. Eine Frau ist im Grünen, später wieder anders gefärbt, unterwegs, in einem menschenleeren Schützengraben, blickt selbstbewusst in die Kamera, Gesichtsausdruck nicht zu entziffern.
Auch hier geht es von einem nicht genau bestimmbaren Außenraum in ein Innen, nun aber ein Zirkus mit seinen Performern, der sehr tolle Chris Immler gibt den Conférencier namens Bloch («großes B, kleines Loch»). Verschoben, verdichtet treiben Motive, die mit dem historischen Fall zusammenhängen, wilde Blüten: Auftritt Professor Ammonia, mad scientist mit Glatzenperücke (mit gut sichtbaren Nähten) und prächtigem Schnauzer, der in einem Glaskolben roten Stoff synthetisiert. Auch eine Venus-von-Willendorf-artige Figur schleicht wieder durch die Natur, liegt später denkmalsgleich im Bildvordergrund, während hinten zwei Jogger äußerste Gegenwart konnotieren - diese Venus ist allerdings nicht buchstäblich nackt, sondern trägt einen faulig-schillernden brust- und beckenbetonenden Fatsuit mit wie gespachteltem Farbauftrag.
So wuchert das, so geht es dahin, so tendiert es gern ins Groteske, das Historische mischt sich mit Theorieanklängen, das Abseitige mit dem Frontalen, in den Begleittexten Verweise auf Michel Foucaults Tanz der Episteme (der Film The Resurrection Plot), Le Salon d'Alone ist «eine Oper für acht objekte und eine tiefe Einsamkeit», The Teeth of the Shelf, the Eyes of the Librarians eine Ode an den zwanzig-Männer-und-eine-nackte-Frau-Blockbuster Der Name der Rose. Mal wuchern die die Fantasien, die Songs und Anklänge, die Kostüme, die Verweise und Referenzen in ihren Eigenlogiken den historischen Kern zu, dann liegt er wieder ganz frei: ein langer Kuss auf den Mund des Soldatendenkmals.
Pauline Curnier Jardins Arbeiten nehmen sich solche Lizenzen, sind Reflexionen zu Buchstäblichkeit und Übertragung, aber alle Theorie, die darin steckt, ist selbst schon in sich ewig transformierendes Material überführt. Metatheorie, die sich lustig macht über das Zu-Ernst-Nehmen, ohne dabei ein Jota ihrer eigenen Ernsthaftigkeit aufzugeben. Das Groteske, der Gang in die Grotte, der deep throat als serious stuff mit komischen Heiligen: schöne Humore des Abgrunds sind das.