Radikal expansiv Es zählt, wem man seine Stimme leiht: Zu einer Med Hondo-Retrospektive im Berliner Arsenal
Soleil Ô, das Erstlingswerk des aus Mauretanien gebürtigen Abid Mohamed Medoun (genannt Med) Hondo, stieß 1969 einen Fanon’schen Schmerzensschrei aus, wie das Kino ihn bis dahin nicht gehört hatte. Einen (nicht näher bestimmten) Mann afrikanischer Herkunft (Robert Liensol) zieht es auf der Suche nach Arbeit und einem Leben in Würde nach Frankreich, wo er für sich und seinesgleichen nichts findet außer entwürdigende Verhältnisse. Der narrative Kern des Films, eine lose Serie von Vignetten aus dem von Rassismus geprägten Alltag der afrikanischen Diaspora nach dem vermeintlichen Ende des Kolonialismus, wird unterbrochen, durchkreuzt von zunehmend apokalyptischen Visionen – ein fieberhaftes Defilee, das von der kulturellen Hegemonie des Westens bis zur ökonomischen Abhängigkeit, in der nicht nur Frankreich seine ehemaligen Kolonien hielt, alle Register neokolonialer Gewalt zieht. In allegorischen Tableaus, die sich frei aus dem Agitprop-Fundus (Schautafeln, Karikaturen, Fotoinserts) bedienen, entfaltet Hondo ein politisches Kino ohne Kompromisse, das um die Mühen der Ebene weiß, um enttäuschte Hoffnungen und Verzweiflung, und sich weigert, diese grundlegenden Negativerfahrungen im Namen der Revolution oder irgendeines anderen utopischen Versprechens beiseite zu wischen.
«Cours, cours, camarade, le vieux monde est derrière toi», so der Titel eines dichten Filmprogramms rund um Hondos filmisches Schaffen, das Ende August, Anfang September im Arsenal zu sehen war. In Soleil Ô, Hondos programmatischem Debütfilm, nach dem auch seine Produktions- und Verleihgesellschaft benannt ist, wird dieser Satz, ein 68er-Slogan, dem durch Paris irrenden Protagonisten in ermutigender Absicht nachgerufen: Lauf Genosse, die alte Welt ist hinter dir (her)! Das Kuratorentrio, bestehend aus Enoka Ayemba, Marie-Hélène Gutberlet und Brigitta Kuster, hat so viele seiner Filme nach Berlin geholt, wie Hondo selbst es gestattete. Denn die Vorführung von schlecht gealterten Kopien, da lässt der auch mit 81 Jahren unvermindert Streitbare nicht mit sich verhandeln, ist strikt untersagt: Tant pis! Auch so fanden mehr seiner Filme den Weg ins Arsenal, als je an einem Ort versammelt waren, zumal die Kuratoren um die verfügbaren Arbeiten des legendären Filmemachers eine Reihe von «benachbarten» Filmen angeordnet haben, die Hondos grenzüberschreitende Praxis, seine radikal expansive Vorstellung eines afrikanischen Kinos, das nicht anders als global zu denken ist, konsequent weiterführen. Manche dieser Erweiterungen sind zeit- und kulturgeschichtlich naheliegend, andere greifen überraschend auf den euroamerikanischen Bewegtbildkanon (von John Cassavetes bis Stan Brakhage) über, der sich nie so afrozentrisch ausnahm wie in dieser klug und umsichtig kuratierten Schau. Dass die hier angestoßene Wiederentdeckung von Hondos Werk unabgeschlossen bleibt, es seinem Verständnis von politischem Kino folgend auch bleiben muss, davon zeugten nicht zuletzt die intensiv geführten Publikumsgespräche, die Hondos Filme und die seiner Nachbarn anregten, Abend für Abend.
Das kuratorische Prinzip der Nachbarschaft ist Hondos zweitem Film entlehnt, dem semidokumentarischen Migrationsepos Les Bicots nègres vos voisins (1974), worin Hondo deutlicher noch als in Soleil Ô drei Bewegungen zusammenbringt, deren Artikulation zu den Grundanliegen seines Kinos gehört: Migrationen, Warenströme und zirkulierendes Kapital. Das vielgestaltige Film-Pamphlet (es kursieren unterschiedliche Längenangaben und Versionen) behandelt die prekären Wohn-und Arbeitsverhältnisse afrikanischer Auswanderer, Flucht- und Anziehungsgründe ebenso wie die eminent politische Frage (die das diasporische Kino jener Zeit ständig umtreibt), ob und unter welchen Umständen man zurückkehren, den Kampf ‹nachhause› tragen soll. Les Bicots nègres ist formal heterogen und auf transparente Weise modular. Fiktionalisierende Reenactments sind dem dokumentarischen Bildmaterial sichtbar aufgepfropft, technische Operationen und ästhetische Verfahren liegen überall offen zutage. Nur eines der weitgehend autonomen Filmsegmente konnte in Berlin gezeigt werden: Mes voisins (1971) ist eine halbstündige Intervention zur Wohnungsfrage als Dreh- und Angelpunkt für das Gelingen von so etwas wie globaler Nachbarschaftlichkeit, ein Film, der die betroffenen Migranten nicht nur sprechen lässt, sondern ihnen tatsächlich zuhört (das von Hondo eingesprochene Voice-over folgt auf das Gesagte, anstatt sich wie üblich darüber zu legen), und der an Dringlichkeit nur noch hinzugewonnen hat in den bald fünfzig Jahren, die uns inzwischen von ihm trennen.
Die mir bekannte Version von Les Bicots nègres setzt ein mit einem Prolog, der die migrantischen Anerkennungs-und Umverteilungskämpfe im Zentrum des Films in Beziehung setzt zum Trägermedium selbst und seinen transnationalen Verwertungskreisläufen. Ein Mann im Kaftan steht vor einer mit amerikanischen und europäischen Filmpostern zugepflasterten Wand und erläutert, direkt in die Kamera blickend und gestikulierend, das französische De-facto-Distributionsmonopol (mit Steuerwohnsitz im Fürstentum Monaco), das den afrikanischen Markt mit Hollywood-Genreware überschwemmt und zugleich den Verleih afrikanischer Filme – und damit zusammenhängend ihre Produktion – in einem Zustand ständiger «Unterentwicklung» hält. Der Mann lacht dazu: ein bitteres Lachen, auf halbem Weg in den Wahnsinn. Am Ende des mehrstündigen Films kehrt Hondo noch einmal zurück zur Befragung der eigenen Praxis und ihrer materiellen Grundlagen. In einem Zimmer, dessen Wände wieder, diesmal jedoch mit afrikanischen Filmplakaten zugekleistert sind, versammelt er afrikanische Filmemacher zu einem gestellten Gespräch am runden Tisch über das vielfach belastete Verhältnis zu ihrem Handwerk. Gemeinsam führen sie Beschwerde über strukturelle Ausschlüsse und systematische Blockaden. Eine Ende der 70er Jahre verfasste Studie von François Kodjo, die auf das subsaharische Kino seit der Unabhängigkeit zurückblickt, benennt es so: un cinéma bloqué.
Diese filmpolitische Klammer, die Les Bicots nègres einfasst, fehlte in der Berliner Reihe, dafür ist in der Begleitpublikation ein wichtiger Aufsatz von Med Hondo wiederabgedruckt, der sein praktisches Engagement für alternative Produktions- und Distributionswege theoretisch begründet. «What is Cinema for Us?» fragt er darin, stellvertretend für einen ganzen Kontinent. «Throughout the world when people use the term cinema all refer more or less consciously to a single cinema, which for more than half a century has been created, produced, industrialised, programmed and then shown on the world’s screens: Euro-American cinema.» Die historische «Verspätung» (P.-S. Vieyra) des afrikanischen Kinos bedeutet, dass es diesem ganzen vorgefertigten Medienapparat begegnet als Fait accompli; um auszubrechen aus dem Zirkel, gibt es für Hondo nur einen Weg: «[to] create our own networks of film production and distribution, liberating ourselves from all foreign monopolies.»
Zugleich jedoch warnt er: «It would be dangerous (and impossible) to reject this [Euro-American] cinema as simply alien – the damage is done.» Vielleicht ein Schlüssel zu seinem dritten Spielfilm, der Musical-Paraphrase West Indies ou les nègres marrons de la Liberté (1979). Basierend auf Les négriers, einem Theaterstück von Daniel Boukman, in episodischen Aufzügen, deren wesentliche Ausdrucksmittel Gesang und Tanz sind, erzählt der Film die Geschichte der Westindischen Inseln von der Zeit des transatlantischen Sklavenhandels bis zu den Migrationen der Gegenwart – dies alles an Bord eines Sklavenschiffs, das trotz opulenter Ausstattung durchsichtig ein Filmset ist, ein Stück Kalikowelt gestrandet in einer riesigen Schiffswerft. Die Mittel des populären westlichen Kinos, das, wie Hondo beklagt, die Leinwände aller afrikanischen und arabischen Städte beherrsche, kommen hier auf eine doppelbödige Weise zum Einsatz, die an Brechts episches Theater (und dessen Nachspiele im Kino der 60er Jahre) gemahnt: Das Spektakel wird durchschaut und entlarvt, aber irgendwie dürfen wir trotzdem partizipieren an seinen betörenden Effekten. Eine Lehre überhaupt des Dritten Kinos, von Humberto Solas bis Lino Brocka: The damage is done, und wer größeren Schaden abwenden will, muss hindurchgehen durch die ästhetischen Formen des dominanten Kinos, sie aneignen, umformen, gegen sich selbst kehren.
Viel hängt am Setting, dem unruhig zwischen historischer Referenz und allegorischer Resonanz wankenden Sklavenschiff. Zum ersten Mal ins Bild tritt es am Ende eines langen Travellings durch die weite und ansonsten leere Halle, vorbei an einer Gruppe Obdachloser, die ein Stück abseits des Filmsets um ein Feuer stehen und sich die Hände wärmen. Das realistische Detail erinnert daran, des Filmsets, diese Gefäße für make-believe, Fluchtfantasien und utopisches Begehren, zugleich Teil sind der sozialen Wirklichkeit ringsum. Der Einsatz dieser eröffnenden Kamerabewegung ist es nicht, die Props und profilmischen Aufbauten, an denen das filmische Erzählen sich aufrichtet, in ihrer banalen Materialität zu enthüllen und zu entzaubern. Das Travelling beschreibt vielmehr eine Passage, von der Welt des Filmsets zu jener des Films. Es bindet zusammen, was das narrative Kino normalerweise trennt: den Raum der Produktion und die Produktion des Raums.
Das Sklavenschiff ist ein lebensgroßes Mock-up und zugleich ein Lehrmodell jener weltumspannenden «routes», die (nach dem berühmten Wortspiel in Paul Gilroys The Black Atlantic) die nicht-identischen « roots » der afrikanischen Diaspora darstellen. (Es gebe in Hondos Kino des Exils, so Ko-Kuratorin Gutberlet in ihrer Einführung, keine Heimat, keine «Rückkehr zu den Ursprüngen», wie Manthia Diawara und andere Chronisten des afrikanischen Kinos sie als beherrschende Tendenz der 80er Jahre identifiziert haben.) Ohne sich vom Fleck zu bewegen, transportiert das Schiff, Verkehrsmittel und Zeitmaschine in einem, seine lebendige Fracht über das Meer und in die Vergangenheit. Der von Ortswechseln und Zeitläuften unberührte Schiffskörper steht dabei für die historische Kontinuität von Enteignung, Ausbeutung und Entrechtung, zumal in je verschiedene Fahnen und politische Losungen gehüllt. An einer Stelle bleibt das Spruchband zwischen zwei ideologischen Paradigmen stecken: «Liberté, égalité, c’est moi.» Der gleichbleibende Cast verstärkt noch diesen Eindruck von Kontinuität. Über die Epochen hinweg verkörpern die Darsteller Iterationen derselben sozialen Funktion, neue Kostümierungen der alten Charaktermasken. Der König verwandelt sich in einen Präsidenten, der Sklavenhändler wird zum Kulturattaché, die Sklaven zu migrantischen Lohnarbeitern – nur der Geistliche bleibt, was er ist, und immer schon war: eine der bösesten Pointen in einem an bitterbösen Querschlägen nicht eben armen Film. In seiner Architektur verräumlicht das Schiff soziale Hierarchien. Die geknechteten Massen leben im Dunkel des Frachtraums, während sich auf dem Hauptdeck die Szenen des öffentlichen Lebens ereignen: erst Sklavenauktionen und Aufstände, später Wahlen und Demonstrationen (einschließlich eines gezinkten Unabhängigkeitsreferendums für das französische Übersee-Département). In der Offizierskajüte schließlich halten der König und später der Präsident der Republik Hof; anlässlich einer Revolte wird sie zum belagerten Anwesen des Plantagenbesitzers.
Die verschränkten Bewegungen von Menschen und Waren, die Hondos Werk durchziehen, fallen in West Indies unmittelbar in eins. Die Provokation des Films besteht darin, die Geschichte der Sklaverei in die Gegenwart zu verlängern. Das hat einmal biografische Gründe: Hondo ist Angehöriger einer in Mauretanien und Marokko ansässigen Bevölkerungsgruppe, den Haratin, denen als (vermeintlichen) Nachkommen ehemaliger Sklaven noch bis vor kurzem Grundbesitz und andere Besitzrechte versagt waren; sein Großvater mütterlicherseits, mit dessen Erzählungen Hondo groß wurde, hatte Versklavung am eigenen Leib erfahren. Zum anderen, und sicher maßgeblich, spiegelt sich darin eine politische Analyse, die moderne Migrationsbewegungen aus den Routen des Kolonialhandels herleitet, und die globale Zirkulation der Ware Arbeitskraft aus dem Handel mit Menschen als Ware. Eigentumsverhältnisse und Akkumulationsregime mögen sich wandeln, WestIndieshält zornig fest am Befund einer allen Wandel überdauernden Kontinuität.
Nach Sarraounia (1986), einem fast klassizistisch anmutenden Historienepos über die gleichnamige Hausa-Königin, die Ende des 19. Jahrhunderts den bewaffneten Widerstand gegen die französischen Truppen der Mission Voulet-Chanoine anführte, versucht sich Hondo an einem Film noir, der die latente Existenzangst des Genres für politische Zwecke mobilisiert. Lumière noire (1994) erzählt die Geschichte eines technischen Angestellten am Flughafen Charles de Gaulle, der Zeuge der Ermordung seines besten Freundes durch französische Polizeikräfte wird. Der Mann ist ein bisschen armselig, kein Held jedenfalls, er hat einen Eintrag im Strafregister, der ewig zurückliegt und eigentlich aus seiner Akte getilgt sein sollte, ein verjährtes Delikt, das die Polizei nun als Druckmittel einsetzt, um den Bildtechniker – er stellt Holografien von Flugzeugteilen her – zur Falschaussage zu nötigen. Etwas, man weiß nicht genau was – ein überpersönliches Verlangen nach Gerechtigkeit, das nicht figurenpsychologisch motiviert ist –, treibt ihn dazu, Ermittlungen anzustellen auf eigene Faust. Einer Gruppe malischer sans-papiers, die den Vorfall vom Flughafenhotel, wo sie ihrer Abschiebung harrten, mitverfolgt haben, folgt er nach Bamako und Timbuktu – eine gehetzte, prosaische Reisebewegung, die ihn der Wahrheit ein Stück näherbringt. Zurück in Frankreich nimmt der einstweilige Protagonist ein jähes Ende. Aber die Ermittlung übersteigt den Ermittler: Ein guter Cop, ein Indochina-Veteran mit gallischem Schnauzer, führt die Wahrheitssuche stur fort. Das ist nicht als versöhnliche Geste in Richtung des staatlichen Gewaltmonopols misszuverstehen, im Gegenteil. Dass der, dem diese universelle Bürde nun zufällt, Polizist ist, ist ein fast schon kontingentes Detail, und macht seine Arbeit auch nicht leichter.
Lumière noire, der über weite Strecken am und um den Flughafen Charles de Gaulle spielt, ist ein dramaturgisches Verkehrsdrehkreuz, ein Film als Schnittmenge transnationaler Transportwege, manche davon nur angedeutet, im Bildhintergrund. Die Coca-Cola-Flasche, die überall, wo sie auftaucht in der Welt, identisch aussieht, stiftet einen globalen Dingzusammenhang, vor Ort indes, ob im schummrigen Banlieue-Lokal oder im malischen Busch, beharren lebensweltliche Besonderheiten, die sich schwerlich zu einem großen Ganzen integrieren lassen. Darunter: eine Reihe prominent platzierter Kino-Referenzen. Ein Bildnis Humphrey Bogarts etwa soll es uns leichter machen, an die Existenz des moralisch integren Polizisten zu glauben. An anderer Stelle besucht der Film eine Filmpostermanufaktur, wo sich das Bild (wie in den rahmenden Episoden aus LesBicotsnègres) für einen Moment auf paratextuelle Bildgebungsverfahren öffnet – und über sie auf die Distributionslogik und -logistik der Ware Film im Allgemeinen. Die großformatigen Werbeplakate von Eddie Murphys Harlem Nights und Charles Burnetts To Sleep With Anger, die hier an der Wand lehnen, sind nicht nur Hommage an zwei sehr ungleiche Meisterwerke des Black Cinema, sondern verweisen außerdem auf Hondos langjährige Tätigkeit als Synchronstimme von – vornehmlich afroamerikanischen – Figuren des Hollywoodkinos.
wer spricht (who is speaking), ein Auftragswerk von Sebastian Bodirsky, das zusammen mit anderen installativen Exponaten (und einer Performance) begleitend zur Filmreihe in der Galerie Savvy Contemporary zu sehen war, stellt sich ganz in den Dienst einer Recherche zu Hondos über 250 Sprecherrollen, für Danny Glover, Richard Pryor, Amiri Baraka (in Warren Beattys Bulworth), Yaphet Kotto. Und immer wieder: Eddie Murphy. Mit ihm ist Hondos einprägsame Stimme genauso fest assoziiert wie hierzulande Michael Douglas oder Robert De Niro mit ihren deutschen Synchronsprechern (Volker Brandt und Christian Brückner). Bodirsky exzerpiert Auftritte von Figuren, denen Hondo seine Stimme geliehen hat. Zum meist ernüchternden Vergleich schiebt sich immer wieder kurz die deutsche Version derselben Szene dazwischen. Med Hondo hat diesen Zweitberuf immer sehr ernst genommen: Es zählt, wem man seine Stimme leiht. Im Prozess des dubbing zeigt sich das Kino zudem noch einmal als jene globale Kunst/Industrie der Bewegung und des Austauschs, der Hondos ganzer gerechter Zorn gilt, und seine ganze Hoffnung.