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Der Andere ist kein Spiegel Das Denken der indigenen Gesellschaft: Über die Fotografien des Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro

Von Cord Riechelmann

© Eduardo Viveiros de Castro | courtesy of Weltkulturen Museum

 

«Ich bin kein Foto-Anthropologe», sagte Eduardo Viveiros de Castro am 17. November letzten Jahres kurz vor der Eröffnung der Ausstellung Variationen des wilden Körpers im Frankfurter Weltkulturen Museum, die eine Auswahl seiner Fotos zeigt. Die Fotos seien eher nebenbei entstanden. In Ruhemomenten, Forschungspausen sozusagen, habe er für sich fotografiert und die Fotos nie auch nur als Erinnerungshilfen für seine ethnologischen Analysen und Texte benutzt. Viele der Bilder habe er auch zum ersten Mal richtig gesehen, als sie für eine Ausstellung in Brasilien von den Kuratoren vergrößert worden seien.

Die bewusste und ausgesprochene Distanz seiner Forschungen gegenüber seinen Fotografien erinnert an Pierre Bourdieu, der ähnlich wie Viveiros de Castro immer darauf bestanden hat, dass seine Fotos nichts mit seinen soziologischen Arbeiten zu tun gehabt hätten. Was aber bei Viveiros genauso wenig wie bei Bourdieu verhindert, dass man die Bilder, wenn man nur etwas von ihren empirischen und theoretischen Arbeiten weiß, ziemlich unvermittelt als Bestandteil ihrer Forschungen wahrnimmt, ohne dass die Fotos zu bloßen Illustrationen werden. So sieht man zum Beispiel auf Viveiros Fotos Männer vor kleinen Spiegeln, die sie an einen Baumstamm oder an ihre Hüttenwand geheftet haben, sich mit Farben oder Federn in etwas anderes als sie selbst verwandeln. Und das erinnert an einen der zentralen Sätze aus Viveiros Metaphysik der Kannibalen, nach der der Andere für die Tupinamba kein Spiegel war, sondern ein Ziel oder Schicksal. Wobei das portugiesche Wort destino, dass in Viveiros Orginalsatz steht, beides – Schicksal und Ziel – heißen kann, die verfügbaren Übersetzungen ins Englische und Deutsche sich aber für jeweils eines der beiden Worte entschieden haben. Im Englischen ist der Andere demnach eine «destination» und im Deutschen ein «Schicksal . Aber unabhängig von den Bedeutungsverschiebungen in den Übersetzungen bleibt der Kern der Aussage erhalten, nach der der Andere vieles sein kann, nur eben keine Projektionsfläche, kein Spiegel für das eigene.

Für Viveiros Ethnologie und Denken liegt in diesem Verhältnis der Indigenen Südamerikas zum Anderen das vollkommen andere, das nicht totale Verständnis ihrer Gesellschaften begründet. Gegen Emile Durkheims Vorstellung, dass der Glaube des Stammes zugleich der Glaube an den Stamm, das Sein und die Erhaltung des Seins des Stammes in seiner ausschließenden Totalität ist, erkennt Viveiros im Selbstverständnis der ‹Wilden› Südamerikas eine grundlegende Unzulänglichkeit in ihrem Selbstverständnis als Stamm. «Zu bezweifeln, dass die Wilden dieses Götzenbild (die Totalität des Stammes, Anm. C. R.) verehrten, bedeutet zugleich die Vorstellung von der Gesellschaft als einer reflexiven und identitären Totalität, die sich durch die grundlegende Geste des Ausschlusses eines Äußeren begründet, in Zweifel zu ziehen», wie Viveiros schreibt.

Man hat damit einen der zentralen Punkte von Viveiros Denken der indigenen Gesellschaft benannt und gleichzeitig den Schlüssel dafür gefunden, warum Viveiros in der englisch-, französisch- und spanischsprachigen Welt weit über sein Fach hinaus in Kunst, Philosophie und Politik seit Jahren Wirkungen zeitigen konnte. Dass man jetzt auch auf Deutsch Viveiros Denken folgen kann, verdankt sich vor allem der Arbeit des Literaturwissenschaftlers Oliver Precht, der in der Reihe Neue Subjektile bei Turia + Kant unter dem schönen Titel Die Unbeständigkeit der wilden Seele als Übersetzer die erste Monografie aus Viveiros Arbeiten vorgelegt hat.

Aus der Konzeption der indigenen Gesellschaften als vor allem unvollständige und damit natürlich auch als unabgeschlossene folgt aber wesentlich mehr als nur ein an den Rändern durchlässiges Modell von Stamm oder Gesellschaft. In der Religion der Tupinamba, die im Komplex des kriegerischen Exokannibalismus verwurzelt sei, zeichne sich eine Form ab, in welcher die Gesellschaft sich durch eine Beziehung zum Anderen konstituiere, wo die Einverleibung des Anderen von einem Aus-sich-Heraustreten abhänge, sich das Äußere in einem unablässigen Prozess der Verinnerlichung befinde und das Innere nie etwas anderes war als eine Bewegung nach außen, wie Viveiros weiter schreibt. «Diese Topologie kannte keine Totalität, sie setzte keine identitäre Monade oder Blase voraus, die obsessiv ihre Grenzen festigt und das Äußere als diakritischen Spiegel für eine Begegnung mit sich selbst benutzt», wie Viveiros die Grundbewegungen der kannibalischen vorkolonialen Gesellschaften zusmmenfasst. Wobei der Name «Tupinamba» nur ein Sammelbegriff für die Indigenen Südamerikas vor der Ankunft der Spanier ist und der Begriff Exokannibalismus für die Eigenart vieler indigener Stämme steht, in kriegerischen Auseinandersetzungen Angehörige feindlicher Stämme gefangen zu nehmen und nach einer langen Zeit gemeinsamen Zusammenlebens zu verspeisen. Eine Eigenart, die die christlichen Missionare und Padres den Indigenen als Praxis relativ schnell abgewöhnen konnten, so dass der Exokannibalismus bereits einige Jahrzehnte nach der Ankunft der Spanier kaum noch eine Rolle im indigenen Leben spielte. Als Idee der «Anthropophagie», grenzenloser «Menschenfresserei», als Reißen, Verzehren, Verdauen und Ausscheiden alles Anderen und auch des Eigenen prägt der alte Exokannibalismus die brasilianische Kunst und Kultur aber bis heute.

Wobei man an den Anfang der Wiederentdeckung des Kannibalismus für die modernen Kunstbestrebungen in Brasilien das 1928 erschienene Anthropophage Manifest des Dichters Oswald de Andrade stellen kann, das zu den kanonischen Texten der klassischen Avantgarden von den Surrealisten bis zu den Situationisten zählt. Es ist dabei aber nicht nur das einzige dieser Manifeste, das bis heute als aktuell gelesen werden kann, weil ihm jeder totalitäre Leninismus abgeht – es ist auch deshalb zeitlos, weil es den Grundkonflikt, der im Schreiben über schriftlose Kulturen immer existiert, nie aus den Augen verliert.

Und Viveiros’ Metaphysik der Kannibalen wie auch seine Fotos situieren sich in direkter Weise in diesem Konflikt. Denn natürlich kommt auch mit dem mitschreibenden Ethnologen so etwas wie ein Kannibale, nur eben ein scheinbar zivilisierter, in die Wälder Amazoniens, in die sich die Nachfahren der Tupinamba zurückgezogen haben, nachdem ihre «erste» Welt von den Spaniern zerstört worden war.

Und Viveiros Fotos erzählen auch davon, wie direkt ein Ethnologe in die aktuellen Kämpfe um die Lebensgrundlagen der Indigenen hineingezogen werden kann. Es gibt ein Foto, das Viveiros in einem Kleinflugzeug über den Rücken auf einen vor ihm sitzenden Passagier aufgenommen hat. Der Mann gehört zu einem Goldsucherunternehmen und notiert auf dem Zettel für seinen Chef, was sie alles zum Goldsuchen brauchen. Das Flugzeug befindet sich auf einem Flug in das Gebiet der Yanomami im Amazonaswald und transportiert illegale Goldschürfer. Viveiros sitzt ähnlich illegal als ‹falscher› Passagier im Flugzeug, um zu Forschungszwecken in das Yanomamigebiet zu fliegen. Die Goldsuche ist gesetzlich streng verboten und findet, wie Viveiros erfahren konnte, nachdem er seine Beobachtungen Regierungsstellen angezeigt hat, offiziell nicht statt. Und dieser nicht erklärte und kaum von der Regierung verfolgte Krieg der Ausbeuter der natürlichen Ressourcen des Regenwaldes gegen ihre indigenen Bewohner befindet sich aktuell in einer neuen Intensitätsphase. Zur Folge hat das nicht nur Abholzungen in vorher kaum gekanntem Ausmaß, sondern auch buchstäblich mörderische Auseinandersetzungen mit den Indigenen, die auch Morddrohungen gegen Ethnologen wie Viveiros einschließen.

Es ist auch dieser Hintergrund, der von ganz realen Kämpfen um Leben und Tod erzählt, der Viveiros Fotos jeden Verdacht des Ethnokitsches nimmt und sein Denken eben nicht als Wühlen in Vergangenheiten erscheinen lässt. Wie überhaupt die Veranstaltungsreihe Tropical Underground. Revolutionen von Anthropologie und Kino, die die Verknüpfungen von Anthropologie, Avantgarde und Globalisierung in Brasilien seit den 1960er Jahren in Frankfurt am Main als Kooperation zwischen der Goethe-Universität, dem Deutschen Filminstitut und verschiedenen Museen untersucht, den optimalen Rahmen für Viveiros’ Arbeiten im Allgemeinen bietet. Denn Viveiros arbeitete vor seinen ethnologischen Studien als Fotograf und gehörte zu den Mitarbeitern des Avantgardefilmers Ivan Cardoso, einer Schlüsselfigur des brasilianischen Cinema Marginal der 1960er/70er Jahre. Viveiros’ Ethnologie kann man, ohne ihm zu nahe zu treten, sehr gut in den nicht nur ästhetischen Kämpfen dieser Kunstbewegungen verorten, deren erstes Merkmal eben auch die Vervielfältigung der Subjektpositionen ist, oder um es mit Viveiros selbst zu sagen: «Da sind mehr Menschen oder genauer: Subjekte im Himmel und auf Erden als unsere Anthropologien sich je haben träumen lassen.» 

Die Reihe Tropical Underground läuft noch bis Juli 2018