Sand ins Getriebe Die Dercon-Volksbühne, das Theater und die anderen Künste und dann noch: Sänftenverkehr mit Helmut Berger in Albert Serras Liberté
«Jetzt spielt doch endlich mal», ruft einer aus dem Publikum – wenn ich recht gehört habe, war das Alexander Scheer, Volksbühnen-Star a. D., der vorher mit herausfordernder Haltung und crazy 3D-Brille sowie wirrem Haar durchs Foyer gestapft war. Dieser Einwurf, fast zu Beginn noch der zweieinhalb Stunden von Albert Serras Liberté-Inszenierung, bringt etwas Entscheidendes, das zwischen alter und neuer Volksbühne ästhetisch nicht passt, auf den Punkt. Dass sie nicht spielen wollen, heißt in erster Linie natürlich: Sie spielen nicht wie die Alten, nicht einmal dann, wenn sie zu den Alten gehören. Sie spielen also nicht, wie es zur Signatur des revolutionären Castorf-Theaters wurde, in dessen von immer massiveren Projektionen angestrahltes Volksbühnen-Gesamtbild die durchaus anders tickenden Schlingensief, Pollesch und Fritsch nach und nach eingemeindet worden sind.
Bei Castorf hieß (und heißt) spielen: auf den Text mit Gebrüll, mit Exzess, oder jedenfalls in einer Spannung zwischen Verausgabung und Erschöpfung (oder einer Erschöpfung, die die vorausgegangene Verausgabung immer schon implizierte). Das alte Volksbühnen-Spiel (mindestens à la Castorf) forderte sehr eigene Körper, ein sehr eigenes Sprechen, vor allem eine sehr eigene Verschlingung von Körper, Sprechen und Text, und zwar je eigener, desto besser, solange es im Rahmen des Verausgabungs-Paradigmas blieb. Es entstanden so Stars, es gab etwas wie einen hoch virtuosen Dilettantismus und es ging um Haltungen des Spiels, der Spielerinnen und der Spieler zum Text und zum Körper, zum Auftritt und zu den mitspielenden Figuren, die mit hergebrachtem psychologischem Drama, mit Treue zu Text, Figur und so weiter nicht mehr zu fassen waren. Ein Vitalismus, der das Leben der Figur nicht, wie bürgerlich dramatisch eingeübt, als eine Person aus dem aufgelesenen Text halluziniert, sondern dieses Leben näher am ganz eigenen Sprechen und Körper der Darsteller*innen verortet: Alle Darsteller*innen waren in der Volksbühne Stars, nicht als Virtuosen der Aneignung unterschiedlichster Rollen, sondern als idiosynkratische Komplexionen von Sprechstilen, Bewegungsmarotten und Selbstdistanzierungskaspereien, bei denen nicht sonderlich wichtig war, welche Figur sie jetzt wieder spielen und ob sie das überhaupt können, und was soll das schon heißen.
Das Leben von Figuren und Texten ist auf diese Weise mit viel Kraftaufwand bei der Authentifizierung von außen erspielt, nicht aus einem imaginierten psychologischen Innen entwickelt. Pollesch war und ist dazu das postdramatische Meta, aber ohne den Verschmelzungspunkt in der kollektiv ausgearbeiteten druckvollen Delivery-Idiosynkrasie würden auch seine Texte kaum so gut funktionieren. Dieser Vitalismus der alten Volksbühne, so unterschiedlich er sich bei den jeweiligen Darstellern und Regisseuren auch ausgeprägt hat, war der Vitalismus einer Fusionsenergie, die sich als Pathos, als Komik, als Spektakel, als Ironie und auch als Absage an jede tiefere Bedeutung entlud. Oft genug war das alles ja toll. Aber genauso sicher ist richtig: So, wie sie bei Castorf (und den eingemeindeten abweichenden anderen) spielten, spielen sie in der darin bislang durchaus konsequenten Dercon-Volksbühne nicht.
Wie es kam, dass genau diese Protagonisten an genau diesem Theater mit genau dieser Nachwendegeschichte für genau dieses Publikum Kult werden konnten; wie es sein konnte, dass diese Ästhetik in ihrer ost-westlichen dramatisch-postdramatischen, also aus durchaus unterschiedlichen Avantgarden sich herleitenden und diese auch keineswegs zur Unkenntlichkeit miteinander verbindenden Mixtur, dass also diese in sich plurale Ästhetik einerseits doch als ein einheitlicher Komplex wahrnehmbar wurde und zugleich tatsächlich verschiedene linke und postlinke, studentische und poststudentische Alt- und Neu-Berliner Publika inkludierte bis amalgamierte, ist oft genug erzählt und lässt sich am differenziertesten wohl in Texten von Diedrich Diederichsen nachlesen. Was dann im Schlussspurt geschah, nach der Verkündung des überfälligen Endes, war freilich zum größten Teil nicht mehr schön. Castorf wurde vollends vom Größenwahn übermannt, wollte die Volksbühne als sein Privateigentum begreifen, ließ die Nachfolger nur sehr widerstrebend ins Haus, stahl sich mit Räuberrad auf und davon, wollte sich nicht mal von der Solidarität einer Figur wie Claus Peymann distanzieren und weigert sich nun auch noch wie ein trotziges Kind, seinen zum Theatertreffen geladenen Faust am angestammten Ort aufzuführen. Nie sah die Volksbühne und nie sah ihr in die Jahre gekommenes, sich geradezu sektenhaft gerierendes Publikum schlechter aus als am Ende.
Was von all dem an der neuen Volksbühne bleibt, ist das Intendantenmodell, und sonst kaum was. Ärgerlich genug, wenn auch kaum überraschend, dass man die Chance nicht genutzt hat, über weniger hierarchische Strukturoptionen auch nur nachzudenken. Genauso strukturell ärgerlich die (freilich nicht nur für Berliner Verhältnisse typische) eigenmächtige Besetzung auf Betreiben Tim Renners – der zwar ein Idiot ist, aber von wem auch immer auf die spannende Idee gebracht worden war, einen theaterfernen Intendanten zu berufen, ohne allerdings, wie sich bald herausstellte, länger darüber nachzudenken, wie (oder auch: ob) man dessen Ideen mit den vorhandenen Strukturen eines in mancher Hinsicht höchst traditionellen Theaters wie der Volksbühne synchronisieren kann.
Wirklich diskutiert wurde über all das aber nicht. Stattdessen gab es von Anfang an verhärtete Fronten, es schien, als herrschte auf beiden Seiten die Angst vor, mit dem, was man sagt, die falschen Freunde zu finden. So schlug man sich munter gegenseitig Petitionen und Unterschriftenlisten ins Gesicht, die Dercon-Gegner besetzten das Haus, Dercon ließ räumen, das neue Team musste sich den Zugang zum Haus in der Vorbereitungszeit gegen kindischen Widerstand von Castorf & Co erst erstreiten, und kaum war Dercon da, kippte man Scheiße vor seine Tür. Auf der Gegenseite machen aber auch weder die Programmdirektorin Marietta Piekenbrock noch der in der Kunstwelt seit langem und mit guten Gründen hofierte Dercon bei ihren öffentlichen Auftritten eine gute Figur. Sie treffen weder im Umgang mit der Presse noch mit den Gegnern den richtigen Ton, wirken mal beleidigt, mal trotzig, mal arrogant.
Die Dercon-Volksbühne nähert sich, so viel ist in den Unstellungen der alten Fans richtig, von der Kunst und nicht vom Theater her dem Theater. Das bedeutet nicht, jedenfalls nicht primär, auch wenn etwa Diederichsen das unterstellt, dass mit Dercon die Kunst als ohnehin mindestens ökonomisch hegemoniale Form nun auch noch das Theater kolonisiert oder usurpiert. Wenn es so wäre, wäre es schlimm, es wurde etwa im Vorwurf der Eventisierung oft suggeriert. Wenn das Programm der ersten Spielzeit jedoch eines zeigt, dann nicht den Willen zum Event und Spektakel, sondern den Sinn fürs Spröde und Rigorose, die entschiedene Lust an der Frage danach, was das Theater eigentlich ist, insbesondere im Verhältnis zu den anderen Künsten. Darin hat die Annäherung über die Kunst ihren Sinn. Denn die Kunst kann die anderen Künste nur genau deshalb wirksam ‹kolonisieren›, weil sie im Kern die radikale Unbestimmtheit dessen, was sie selbst ist, immerzu umtreibt. Und nur als Kernfrage der Kunst kann sie diese Frage an die anderen Künste (wieder) herantragen. Und das ist das, was, zum Unverständnis weiter Teile der Kritik, unter Dercon geschieht.
Nun war ja Castorf auch einmal Avantgarde. Bevor sie zum Dogma wurde, war nicht nur die vitalistische Antwort, die die Volksbühne in ihren diversen Optionen aufgefaltet hat, ein aus diversen Traditionen abgeleiteter Versuch, das Theater revolutionär neu und anders zu verstehen. Die Castorf-Volksbühne war offen wie wenig andere Theater für Selbstbefragungen, von der Kunst (Schlingensief sowieso, aber auch Jonathan Meese), der Performance (Gob Squad, Forced Entertainment), dem Tanz (Meg Stuart) her. Wie wenig von dem alten Geist der Befragung noch übrig ist, war am traurigen Ende dann zu erleben: Alles sollte so bleiben, wie es war. Vielleicht hätten das alte Team, das alte Publikum und die Theaterkritik den Aufbruch eher akzeptiert (und ganz sicher hätten sie ihn besser verstanden), wenn er einfach den Anschluss an theaterinterne Befragungen des Theaters, also an neuere, etwa postdramatische Avantgardetraditionen, gesucht hätte.
Während etwa die Kammerspiele in München, sehr viel eher einer theaterinternen Explorationslogik folgend, weiterhin mit Fusionsversuchen zwischen Performance-Formen und Sprechtheater experimentieren (institutionell gefasst: zwischen freier Szene und Stadttheaterstrukturen), immerhin mit Anta Helena Reckes Mittelreich-Schwarzkopie der appropriation art eine Heimstätte bieten, setzt die neue Volksbühne tatsächlich sehr konsequent ganz anders an – wobei es mit Susanne Kennedy einen gemeinsamen Nenner gibt, das immerhin. Aufs Ganze gesehen aber erweist sich die erste Spielzeit des neuen Teams bislang als eine fast schon labormäßig konzipierte Versuchsreihe der Befragung des Theaters auf das, was passiert, wenn man das Theater Künstler*innen überlässt, die an der Kunstform Theater sehr grundsätzlich zweifeln. Ergebnisse erhofft sich Dercon dabei einerseits von der genauesten exemplarischen Beobachtung der Arbeit an Grenzen: zwischen Tanz und Theater, zwischen Theater und Film, zwischen Installation und Theater. Und dann aber durch einen Rückgang in die Theatergeschichte, also die Frage danach, welche Aktualisierungen des Historischen für die Gegenwart Neues versprechen. Dass man dabei ausgerechnet bei Beckett ansetzt, ist interessant, aber auch erklärungsbedürftig.
Es lohnt ein – hier schematischer – Durchgang durch die bisherigen, wichtigen Volksbühnenabende der Spielzeit. Ich habe nicht alles gesehen, aber alles, was ich gesehen habe, hatte seinen logischen Ort in dieser Versuchsreihe. Vorher aber noch ein Schritt zur Seite. Denn hineingepasst in die Reihe hätte auch ein Projekt, von dem gerüchteweise zu hören war, das aber aus mir unbekannten Gründen platzte (oder vielleicht auch nur verschoben ist; mehr dazu ist in der aktuellen Ausgabe von Monopol nachzulesen). So war eine Anverwandlung des vielleicht verrücktesten künstlerischen Großexperiments der letzten zehn Jahre ans Theater geplant. Dercon war nämlich bei der Planung der Spielzeiteröffnung in weit gediehenen Gesprächen mit dem Filmregisseur Ilya Krzshanovsky – beziehungsweise dem Produktionsumfeld, das bereits Unsummen in dessen megalomanes Projekt Dau gesteckt hat und sich auf der inzwischen sicher verzweifelten Suche nach dessen Monetarisierung befindet.
Für dieses Projekt hatte Krzshanovsy in der Nähe des ukrainischen Charkow einen das Moskau der 50er emulierenden Stadtteil (namens «Das Institut») bauen und über zwei Jahre stehen lassen, in dem Hunderte bleibender und wechselnder Darsteller lebten, improvisierten, aber natürlich auch nach Krzshanovskys Drehbuch spielten und dabei von ebenfalls wechselnden Teams von Kameraleuten gefilmt worden sind. Das hatte eine gewisse Verwandtschaft mit den immersiven Environments, in die die Theatertruppe Signa ihr Publikum wirft – wenn auch nur für Abende oder Nächte. Ein bisschen auch mit den Arbeiten des Teams Vegard Vinge und Ida Müller, das zu Castorf-Zeiten und von norwegischem Öl-Kulturgeld finanziert auch schon mal ein paar Jahre mit Proben (oder whatever) am Prater verbrachte, ohne dass irgendein Ergebnis heraussprang.
Dau war ein durch mindestens unter anderen sehr dubiose Geldgeber ermöglichtes Projekt, ein so anachronistisches wie exzessives Reenactment von Avantgarde-Ideen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Bislang ist davon buchstäblich nichts zu sehen, es gibt nur Erlebnisberichte von Reportern, die Zugang zur Stadt/zum Set hatten; inzwischen arbeiten nun auch schon seit Jahren Teams aus Schnittmeistern und Informatikern in einem Haus in London daran, aus den Unmengen des Materials Ergebnisse zu produzieren: in Form von Filmen, Fernseh- und Webserien, ganz neuen Weisen der Präsentation von Bewegtbild im Netz und weiß der Teufel noch was.
Einen Seiten- oder gar den Hauptstrom dieses gigantischen Projekts wollte Dercon einerseits in den Online-Auftritt, dann aber auch sehr real an die Volksbühne und an den Rosa-Luxemburg-Platz holen, dessen Umgebung nun ihrerseits eine Art Kopie des «Instituts» aus dem Film («Film») werden sollte – eine Experimentalanordung also zur ultimativen Grenze, der zwischen Leben und Kunst, an deren Aufhebung die klassischen Avantgarden und ihre Nachfolger immer schon produktiv scheitern. Das nicht Realisierte, das, was hätte sein können, aber nicht war, gehört als ihr gespenstisches Double zur Geschichte der Künste. Wenn dann, wie es aussieht: sehr bald, die Geschichte Dercons an der Volksbühne als Geschichte eines Scheiterns erzählt werden wird, dann könnte man ja auch zur Einschätzung kommen, dass es kein Scheitern aus Lustlosigkeit gewesen sein wird, sondern viel eher ein Scheitern an überdimensionierten Ambitionen.
Damit zum realen Eröffnungsabend, und also Beckett. Auch dieser Eröffnungsabend wollte programmatisch sehr viel. Vor und neben und rund um Beckett war, allerdings schroff, vieles gestellt. So wurde zum einen die Neubesetzung der Volksbühne allegorisch in Szene gesetzt: Präsentation des komplett leergeräumten Theaters zu elektronisch verstärkter, das Gemäuer leise erschütternder Gitarrenmusik, Auszug des Publikums, das draußen zwischen performativer Installation selbst Installation wird, Wiedereinzug zum Beckett-Reenactment, provisorisch bestuhlt, dann vollständiger Abbau von Bühne wie auch Bestuhlung. Das alles einerseits begleitet von Beckett-Film-Projektionen in den Seitengängen des Foyers. Und vor allem, andererseits: von diversen Performances/Choreografien des Künstlers Tino Sehgal.
Das Werk Tino Sehgals unterhält zum Theater ein kompliziertes Verhältnis. Sehgals Sprech/Tanz/Bewegungs-Choreografien haben zentrale Elemente des Theatralen in die Räume der Kunst überführt. Er arbeitet mit Darstellern, mit Text, mit Choreografien und bildet daraus semi-partizipative Situationen an der Grenze von Bühne, Environment, Installation. Ein Theater mit dem forcierten Re-Entry einer aktuellen Form des Theatralen in der Bildenden Kunst zu eröffnen, ist ein verwirrendes Statement, aber darin gerade der Punkt: als Theater, das nicht (einfach) Theater ist, sondern ins Theater rückübersetzt wird.
Dazu kam dann Beckett. In drei kurzen Stücken, aufgeführt in den an ‹Originalen› orientierten Reinszenierungen von Walter Asmus, die weniger minimalistisch sind, als dass sie in formaler Entsprechung zu Beckettes Texten auf Reduktion fokussieren. Reduktion auf den Text (als Bild: der sprechende, rotlippige Mund Anne Tismers), das Licht (das im zweiten Stück, in dem Tismer nur auf gerader Bahn von rechts nach links geht und wieder zurück, einen milchig-diffusen, aber doch klar aus dem Dunkel geschnittenen Raum schafft), das Bild (in der Konfrontation von Darstellerkörper und einem Kamera-Zoom, der ihn auf einer Lichtleinwand anders verdoppelt). Der Fokus auf Reduktion ist überhaupt eines der Leitmotive der ersten Spielzeit, in unterschiedlichen Formen wurde er bei Mette Ingvartsen, Susanne Kennedy, Apichatpong Weerasethakul, bei Tim Etchells und Marino Formenti und auch bei Albert Serra durchexerziert – bei Etchells/Formenti ganz klar und bei Serra implizit mit Beckett-Bezug. Und natürlich ist das durchweg immer auch gegen die an der alten Volksbühne erprobten Formen von Ausufern und Exzess gerichtet.
Der Bezug auf Beckett ist, das ist eine zentrale Pointe, nicht einfach museal, sondern wiederum reflexiv, nämlich als Frage danach, was sein Archiv dem Theater als einem Medium bedeutet, das von der Gegenwart lebt; wie, anders gefragt, die Gegenwart des Theaters vorangegangene Formen (also vorangegangene Antworten auf die elementaren Fragen danach, was das Theater überhaupt ist) integrieren und produktiv machen kann. Der Rückgriff auf die sonst, wenn überhaupt, dann meist abschätzig behandelten Asmusschen Nicht/Originale ist dabei allemal kühn. Programmatisch daran ist sicher der Rückgang zur negativen Beckett-Ästhetik, die einen anderen als den derzeit dominierenden Weg ins Postdramatische ging. Allerdings führt der Abend die Reinszenierungen dezidiert nicht als aktuell gültige Antworten vor, sondern als etwas, dem man, um es zu bedenken, für eine gewisse Dauer den Raum und die Zeit auf der Bühne einräumen kann. Darum wird die Beckett-Bühne auch coram publico wieder abgebaut, die Geste des Zurückstellens ins Archiv also mitperformiert. Das macht die Inszenierung noch einmal ausdrücklich so gespenstisch, wie das Wiederheraufrufen eines Vergangenen nun einmal ist. Aber man weiß nie, was Gespenster bewirken, auch wenn man sie sehr bewusst ruft. Danach werden Bühne wie Publikumsraum wieder geleert und von Tino Sehgals Sprechchorperformern als Ghostbustern bespielt, die das Publikum, das, soweit es nicht geht oder im Saal auch ohne Sitze verharrt, auf die Bühne bitten: Alles auf Anfang.
Ähnlich komplex gebaut war der Mette Ingvartsen-Abend, der eine an der Grenze von Tanz und Theater angesiedelte Solo-Performance von Ingvartsen, eine von ihr inszenierte Gruppenchoreografie, einen Besuch im Filmarchiv und von Abend zu Abend wechselnde Vorträge zu einer um das Thema nackte Körper und Sex- und Gewaltfantasien kreisenden Gesamtreflexion verband. Die Kritik hat diesen Abend wenig beachtet, vielleicht weil es alle Bestandteile bis auf die Vorträge ja vorher schon gab und man, ohne darüber nachzudenken, wie sinnvoll das sein kann, auf Uraufführungen fixiert ist; vielleicht auch, weil dieser Abend zwischen Tanz, Theater, Experimentalfilm und Uni in keine Schublade passt. Das ist nun allerdings ein fatales Problem. Auf die fundamentalen Fragen gerade nach den Grenzübergängen, die Frage, danach, was passiert, wenn sich die Kunst mit der Frage nach sich selbst konfrontiert, sei es in der Begegnung mit ihren Archiven, sei es an der Grenze zu anderen Künsten, sei es auch nur in der Verweigerung der üblichen Antworten, scheinen große Teile der Kritik nicht gefasst.
Ich will damit ganz sicher nicht sagen, dass die Volksbühnen-Abende alle so großartig wie der von Mette Ingvartsen waren oder durchweg überzeugende Antworten gaben. Womit wir schon bei Susanne Kennedy sind. Ihr Women in Trouble schließt an frühere, zum Installativen geneigte Arbeiten karussellförmig an, in der Karussellförmigkeit aber auch an Schlingensiefs Kaprow City, wie überhaupt Schlingensiefs Beuys-Zitat «Zeige Deine Wunde» ebenso eine Referenz der Inszenierung darstellt wie René Pollesch, auf dessen Cassavetes-Fetisch-Film Opening Night sich auch Kennedy mit Nachdruck bezieht. Das Stück ist eine kontrolliert durchgearbeitete Experimentalanordnung zur Posthumanisierung von Subjekt und Affekt. Im Ergebnis aber bleibt das, was sich aus Kennedys Dissoziationen (von Stimme, Maske, Text, Räumen, schwer identifizierbaren Figuren/Körpern) ergibt, mir jedenfalls ebenso unklar wie die Haltung des Ganzen zu den brutalen Desaffizierungen und Desidentifikationen, die Kennedy eine Lust zu sein scheinen. Im Ergebnis dreht sich’s hermetisch.
Auch hier jedenfalls: Reduktionen, radikale Absagen an den Vitalismus des an der alten Volksbühne praktizierten Theaters: Das Spiel ist auf einen Null-Level des Affekts herabreguliert; wo die Räume bei Schlingensief (auch in Kaprow City) vollgemüllt waren, ist alles steril; wo bei Cassavetes und bei Polleschs Opening Night-Referenzen die Frage nach dem Exzess als Frage nach der hysterisierten Darstellung (einer Frau) ins Zentrum gestellt ist, wird hier jedes Molekül in Richtung Stillstand gekühlt. An Vitalfunktionen (des Menschen, des Theaters, aber auch der Sprache) ist hier nur mehr wenig zu sehen oder zu spüren. Die heranzitierten Texte sind in ihrer Fülle und im assoziativen Bezug aufeinander opak, auch komische Effekte bleiben weitgehend aus. Wie überhaupt die bisherige Experimentalreihe der Volksbühne unter Dercon eine verdammt strenge und spröde, komik- und spektakelaverse Angelegenheit ist. Als ließe sich Beckett nur lesen als Exempel einer in Richtung Kunstreligion tendierenden negativen Ästhetik, wie Adorno ihn liest. Und als wäre eine mögliche Reaktion auf radikale Unbestimmtheit nicht auch das Lachen über die freiwillig oder unfreiwillig komische Absurdität, die in jeder Annäherung ans allzu Grundsätzliche immer auch liegt.
Und ein wenig Spektakel war doch. Apichatpong Weerasethakuls Bewegt-Bild-und-Licht-Show Fever Room ist einerseits eine schöne Meditation über die Scheinmaterialität der kinematografischen Lichtprojektion, andererseits aber tatsächlich eine theatrale Raumerfahrung, bei der einem die Augen und der Orientierungssinn übergehen können und sollen. Zunächst noch auf der Bühne hinter geschlossenem Vorhang scheinbar in einer Art Kunstraum verortet, in dem auf vier beweglichen Leinwänden vorne und auf den Seiten recht vertraute Weerasethakul-Filmbilder mit Flussfahrt und Höhlenschlaf laufen, öffnet sich nach einer Weile der Vorhang und gibt den Theaterraum frei als Kinoraum, in dem nun freilich das Licht selbst von nur in Schattenrissen erkennbaren, wie aus den Höhlenfilmen entlaufenen Darstellerkörpern als Leinwand bespielt wird. Dazu macht aber auch das Licht selbst manchen ziemlich immersiv desorientierenden Disco-Lightshow-Effekt.
Viel näher an dem einen oder anderen Nullpunkt, damit auch an Beckett, dann wieder Albert Serra. Sein Theater-Debüt Liberté wurde von der Theaterkritik ohne weitere Umstände geschlachtet, ohne dass man sich allerdings mehr als oberflächlich mit Serras filmischem Werk zu befassen für nötig befand. Dabei fügt sich Liberté gleich doppelt interessant sowohl in Serras filmisches Werk als auch in die Dramaturgie der ersten Dercon-Volksbühnen-Spielzeit. Serras eigene Genre-Angabe: Tableau vivant. Eine prospektartig gestaltete Guckkasten-Bühne, die nie umgebaut wird und an ihrer Hinterwand ein in schattenhaften Umrissen gemalter Wald, aus dem heraus es unentwegt zwitschert und zirpt. Davor ein kleiner Teich, das ganze im märkischen Sand zwischen Berlin und Potsdam. Auch eine genaue Jahresangabe gibt es: 1774. In Frankreich ist Ludwig XV. gestorben und mit ihm ein Hof, an dem die Libertinage was galt. So gehen die Libertins mit einem grotesken Ziel ins Exil: Sie wollen am preußischen Hof Friedrichs des Großen die Libertinage einführen. Es werden dafür Pläne gemacht, Novizinnen eines Klosters fürs Bordell umzulernen, die Äbtissin ist interessiert.
Mit von der Partie ist ein alter Libertin, Duc de Walchen, von Helmut Berger gespielt. Und die vom Hof Ludwigs XV. verbannte Duchesse de Valselay, das ist Ingrid Caven. Außerdem: Jeanette Spassova, alter Volksbühnenstar, als Äbtissin. Androgynst unter hoher Perücke: Ann Göbel, zuletzt auch schon bei Castorf zu sehen, als Mademoiselle de Geldöbel. Stefano Cassetti, den man unter anderem aus Filmen von Francois Ozon kennen kann. Und, nicht zuletzt: Anne Tismer, die im Theater alles geschafft hatte, von Kruse bis Zadek bis zum Schaubühnenensemblemitglied, bevor sie dem Theater mit ziemlich viel Zorn im Blick zurück den Rücken zudrehte, eine, die zu allem und vor allem zu jeder Künstlichkeit fähig ist, eine, der virtuos jeder Ton, jedes Register, jede Nähe zum Wort und jede Distanz zur Rolle und zu sich selbst zur Verfügung steht.
Auf dieser Bühne also versammelt: die abgehalfterte Visconti-Legende, der zur Chanteuse mutierte Fassbinder-, Schroeter-, etc.-Star, die empfindliche Ex-Virtuosin, die in allen früheren Volksbühnen-Stürmen Erprobte, der Schauspieler aus dem Kino. Mindestens ebenso wichtig: Neben den Stars agieren Laiendarsteller*innen aus verschiedenen Ländern, die die deutsche Sprache, in der das gespielt wird, unterschiedlich gut oder schlecht artikulieren. Sie bringen den für Serra, der es hasst, wenn die Dinge wie geschmiert laufen, nötigen Sand ins Getriebe. Ihnen setzt er die Könner und Virtuos*innen aus. Das holpert, das führt mit heftigen Akzenten vom Deutschen auf Abwege des kaum mehr Verständlichen, das zersetzt auch jeden Anflug des Eindrucks von Geschlossenheit.
Das ist, auch mit der künstlich hergestellten Anmutung natürlichen (Nicht-)Lichts, die Fortsetzung seiner filmischen Arbeit, die vom reinen Laiendarstellerspiel zur Mischung der Ensembles geführt hat. Ähnlich arbeitet das leise Mikroport-Sprechen, indem es die Töne künstlich verstärkt, an der Destruktion nicht nur der Deklamation, sondern auch des Verhältnisses der Darsteller*innen zum umgebenden Raum. Experimente mit Darstellung zweiten Grades: Wie kann man Könner von ihrem Können entfernen, wie bringt man einem, der glaubt, dass er weiß, wie es geht, wieder bei, dass keiner das weiß und wissen kann. Sie alle sollen nicht wissen, was sie da tun, denn so erst erscheint die wirkliche Frage: Warum stecken denn alle hier in Kostümen? Was tun sie da? Was reden die da? Wer redet da überhaupt? Und was sind das für Texte, nicht von heute, aber auch nicht authentisch von gestern?
Der Sand ist also nicht nur im Getriebe. Im Sand zwischen Berlin und Potsdam stranden alle, strandet das Projekt der Einführung der Libertinage, ins Leere geht ein langwieriger Versuch, die Papiergeld-Ideen des britischen Ökonomen John Law eventuell auf den exzessiven Austausch der Lüste zu übertragen, es strandet jeder Versuch, nach Potsdam, nach Potsdam zu kommen, die Lust am Sex im Gepäck. Alle warten, wortreich gewiss, nicht auf Godot, aber doch auf la liberté. Etwas unklar bleibt das Verhältnis zum grafischen Sex. In einer Sänfte tut sich mal was. Weiter hinten gibt es einen Klaps auf den Po im Kostümreif. Mehr tut sich nicht. Auf der Handlungsebene insgesamt schürzt sich ebenfalls nichts, schon gar nicht ein Knoten. Aber Bewegung ist doch, nämlich im ständigen Auf- und Abtritt von Sänften. Endlich Arbeit für die Volksbühnen-Werkstatt: Fünf Sänften, allesamt rokokoesk, durften sie bauen, kleines Taxi, großes Taxi (mit sehr tollen weißen Puscheln am Dach), Ingrid, Helmut, Jeanette. Vier der fünf Sänften sind in steter Bewegung, das Regiebuch gibt genaueste Anweisung, regelt den regen Sänften-Verkehr. Ein bisschen üben müssen sie noch, bei der Premiere hat es bei der Koordination, auch beim Ton, bei den Übertiteln zudem, etwas gehakt. Vorne rechts, soviel steht fest, steckt eine der Sänften und rührt sich nie wieder vom Fleck, ohne Tragstangen wirkt sie hilflos kupiert. In ihr sitzt Helmut Berger, knipst das Licht an, spricht seinen Text, mal allein, mal von einem Gegenüber leicht anlibertiniert, knipst das Licht wieder aus. Von Charisma ist wenig zu spüren, auf Charisma legt es Serra nicht an. Bei den Proben, so ist zu hören, war Berger, ganz im Gegensatz zu Caven, die Gefügigkeit selbst.
Was sie alle da tun, als heterogenes Ensemble, bei dem nichts zum anderen passt, ist als ‹Spielen› kaum zu erkennen. Zu viel Sand, zu wenig Energie, die ständige Bewegung, Sänfte hinein, Sänfte hinaus, verpufft, führt ja zu nichts. Keine Spannung kommt auf. Auf je eigene Art bleibt das alles Sous-Vide-Schauspielerei. Jeden Anflug von Deklamation, alle Echauffage an Körper oder Stimme entlang, hat Serra im Ansatz gekillt. Alle tragen Mikroports, in die sie weniger sprechen als flüstern, monoton oder im Kampf mit der fremden Sprache, nur Anne Tismer gewinnt dem schauspielerischen Nullpunkt noch eine eigene Virtuosität ab, findet im monotonen Singsang des gespreizten Texts ihre eigene Melodie, die allerdings zu den Monotonien und Kämpfen der andern aufs Wunderbarste nicht passt. Helmut Berger, ohnehin in sein Schicksal ergeben, er ist ein Star, keiner holt ihn hier raus, er quält sich am Stock in seinen liegenden Tod, Ingrid Caven wirkt eher, als kochte eine leise Wut in ihr, weil Serra sie in die Sänfte zwingt und darin gewaltsam am großen Auftritt hindert, nach dem sich alles an ihr sehnt. Erst bricht diese Wut in extrem schrägem Gesang aus ihr heraus, recht weit hinten am Stück, bevor sie am Schluss doch noch bekommt, was sie will: Das letzte Wort gehört ihr, ganz oben vom Rang aus gesungen oder lautstark gekrächzt, Gesicht nicht erkennbar im Dunkel vor Heiligenschein: der Horror, der Horror.
Davor aber, bevor es sich so doch noch, seltsam jedoch, gipfelt, gehen alle nur schleichend, fühlen sich im und auf dem Bühnenraum fremd, stapfen Hügel hinauf, es wird auch mal geplanscht, die meiste Zeit jedoch tun sie nichts weiter als stehen und sitzen. Und flüstern. «Lauter» ruft einer am Anfang. «Mehr Licht» hat keiner gerufen, dabei ist der Abend auch eine grandiose Dunkelheitskomposition. Aus dem Halbschatten will das gar nicht heraus. In seiner Dämmernacht sind alle Katzen grau, aber die Grautöne sind sehr verschieden. Man erkennt kaum die Gesichter, eine Form der Entdeutlichung, die auf ihre Art durchaus dem Darstellungsentzug von Susanne Kennedys Maskenspielen korrespondiert: Dort werden die Körper von ihren Stimmen und Gesichtern getrennt und im grellen Licht entindividuiert. Serra arbeitet, das ist ein großer Unterschied, zwar auch nicht ihre Individualität, schon gar nicht ihr Stardom, aber doch entschiedene Differenzen heraus, weil ihn der Zusammenstoß des Heterogenen und die Spaltprodukte der ganzen Zusammenstöße interessieren.
Es entstehen in diesen Zusammenstößen aber nicht Figuren, sondern surreale Momente, bei denen eine Sänftenbewegung mit einem artifiziellen Satz, eine französisch-deutsche Desartikulation mit dem Vogelgezwitscher, Ingrid Cavens Kampf mit dem jederzeit vergessbaren Text und Anne Tismers Mikroport-Singsang mit dem partiell angestrahlten Körper des Helmut Berger sich zu etwas fügen, von dem man nicht so genau sagen kann, was es ist. Monströs, das ganz gewiss. Auch verschlurft, unterspielt, ein schleichendes Durcheinander, beherrscht höchstens vom anhaltenden und genau geregelten und in dieser fortgesetzen Exaktheit auch immer absurderen Sänftenverkehr. Ein Abend von fortgeschrittener Strangeness und What-the-fuck-haftigkeit. Große Teile der Kritik konnten darin beim besten Willen keinen Theaterabend erkennen. Kann gut sein, dass es was anderes ist. Aber genau darin ist es ein exemplarischer Dercon-Volksbühnenabend: ein Experiment, das den Kern der Sache des Theaters betrifft, die Sinnlosigkeit des großen Als-Ob, der Notwendigkeit, aus der Kopräsenz am geschlossenen Ort das beste zu machen. Mag sein, die Dercon-Volksbühne wird bald verschwinden im politischen Treibsand. Aber aufregend gewesen sein wird es doch.