Film 10 Roh Zu Éric Rohmer: A Biography von Antoine de Baecque & Noël Herpe
«For the sentimental young Maurice, ‹the height of happiness ›, as he was later to confess to an actress in one of his films, was to ‹ read a book with the woman (he had) fallen in love with›.»
Auf meinem Schreibtisch liegt ein dickes, gelbes Buch. Binnen weniger Tage hat sich eine Armada bunter Zettel gebildet, die es umschwärmen oder bereits ihren Weg hinein gefunden haben. Dieses Buch, eine stattliche Biografie Éric Rohmers, ist eine Zusammentragung der beiden französischen Filmkritiker, Autoren und Filmwissenschaftler Antoine de Baecque und Noël Herpe. Es fasst samt Index 637 Seiten und erschien 2014 erstmals auf Französisch, 2016 dann auf Englisch. Seit 2018 ist es bei mir. Ich habe das Buch bestellt, weil ich mehr über den Filmemacher erfahren wollte, der sich mir recht unvermittelt präsentierte. Es ist auch noch nicht sehr lange her: 2014 bin ich durch die Amerika-Gedenkbibliothek gewandelt, auf der Suche nach Filmen, und was mir an Rohmer auffiel, bevor ich ihn kannte, war, dass es viele Filme von ihm gab. Fast eine ganze Regalreihe «Film 10 Roh». Ich beschloss diese Mine zu erschließen, vielleicht aus der Kalkulation heraus, sollte ich auf Interessantes stoßen, für eine Weile beschäftigt zu sein. Und so war es dann auch. Der Gang zur Reihe mit der schnell wichtig gewordenen Signatur wurde zum Ritual und mit ihm wuchs eine Beziehung zu einem Filmemacher, die ich mir oft nicht erklären konnte, aber die, so viel spürte ich, bedeutsam war.
Die Beschäftigung mit der Biografie ist also auch eine Art Erforschung dieses ideellen Nahverhältnisses, das sich bisher vornehmlich über Filme vermittelte. Einmal habe ich dafür sogar eine kleine Reise angetreten, 2016, als das Filmfestival Jihlava im gleichnamigen tschechischen Ort im Programm die Präsentation einiger seiner Lehrfilme ankündigte, die er in den 60er Jahren für das französische Fernsehen gemacht hatte. Dass diese nicht viel mit dem gemein hatten, was ich an Rohmer schätzte, hätte mir eigentlich auch schon vorher klar sein können. Trotzdem ist ein Weg, den man für jemanden unternimmt, ja dennoch ein Wert und wird zum Teil der Geschichte.
«The archives of Maurice Schérer’s youth also contain many poems, mainly love poems devoted to the various parts of the female body.»
Auch Éric Rohmer, der lange nicht so hieß, sondern Maurice Schérer, hat einige Wege unternommen, von denen er nicht wissen konnte, wohin sie ihn führen würden. Tatsächlich kommt das Buch zwangsweise immer wieder auf sie zu sprechen, denn lange Jahre mündeten sie immer wieder hier: nirgendwo. Maurice Schérer war ein begabter Schüler, der sich sowohl in den Fächern der Sprachen und Naturwissenschaften mühelos bewegte als auch in der Kunst. Anfang 1940 als Zwanzigjähriger in die französische Armee eingezogen, schickte er seinen Eltern Skizzen einer katalanischen Landschaft und entdeckte die Malerei: «A little later, as I made the rounds of the bookstores in another provincial city, I discovered a book with reproductions of paintings by Picasso and a preface by the critic Jean Cassou. In it I read a sentence that made a great impression on me: the author said Picasso was our time’s greatest creator of forms. I re-used this sentence in my book on Hitchcock.»
Schérers Wurzeln sind mittelständische, dennoch umgab ihn eine angeborene Aura der Aristokratie und Wohlerzogenheit, unterstrichen von einer auffälligen Statur: sehr groß, sehr dünn und mit feinen Gesichtszügen. (Truffaut war es, der ihm später den Spitznamen «le grand Momo» verpasste.) Seine ersten Ambitionen waren literarischer und akademischer Provenienz. Maurice Schérer wollte schreiben, und er wollte an der École normale supérieure (ENS) studieren. Doch während ihm die schriftlichen Aufnahmeprüfungen keine größeren Mühen bereiteten, scheiterte er mehrmals an den mündlichen: «He failed all the important oral examinations he took between the ages of nineteen and twenty-seven, a sign indicating a lack of charisma combined with a great shyness and, on top of that, a halting way of speaking, an uneven, unclear delivery that sometimes verged on stammering.»
«‹Claire’s knee formed, beyond the sharp line of the dress, a small dark brilliant triangle›, writes the author of Élisabeth.»
Ein Ort der Zuflucht war die Literatur. 1944, während Paris bombardiert wurde, saß Schérer in seinem Hotelzimmer im Quartier Latin (das er fünfzehn Jahre bewohnen sollte), wagte es nicht, aus dem Fenster zu schauen, und schrieb an Élisabeth, einem Roman, den er fünf Jahre zuvor begonnen hatte. Es heißt, sein Tonfall erinnerte an den der Comtesse Sophie de Ségur sowie an Colette, obwohl Rohmer später verlauten ließ, er sei zu der Zeit vor allem von Amerikanern wie Dos Passos und Faulkner beeinflusst gewesen. Die Kapitel trugen Namen wie «Morning Thoughts», «During the Rain» und «Late Afternoon», Passagen handelten von Mädchen in Schwimmanzügen und wie sie darin aussahen und waren von kleinen schnippischen Dialogen und Flirts durchsetzt. Élisabeth, ein Roman von Gilbert Cordier, erschien 1946 bei Gallimard und blieb gänzlich unbeachtet. Eine Serie von Kurzgeschichten, die er vier Jahre später erneut bei Gallimard unterzubringen versuchte, wurden aufgrund eines negativen Leserreports abgelehnt. «The door to literature suddenly slammed shut.»
Rohmer, der noch immer nicht Rohmer hieß, stand erneut mit leeren Händen da, hielt sich mit dem Unterrichten von Latein über Wasser und entdeckte die boomende Pariser Filmclub-Szene, an welcher er zu partizipieren begann. Baecque/Herpe gestalten jene Jahre als eine Art Buch im Buch, beziehungsweise zeigt sich ab hier die detaillierte Dokumentation einzelner Individuen, die für das, was sich später als Nouvelle Vague formieren sollte, zwingend waren. De Baecque ist ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, eine Anthologie zur Geschichte der Cahiers du cinéma erschien unter seinem Namen, genauso wie eine Biografie über François Truffaut. Rohmers Rolle in diesen Episoden schwankt. Mal begegnet er einem als expressiver Regisseur von Kurzfilmen, der kurzerhand selbst vor die Kamera tritt, um die männliche Hauptrolle zu übernehmen (La Sonata à Kreutzer, 1956). Dann wieder bevorzugt er es, Hawks-Retrospektiven in der Cinémathèque zu begleiten und zieht damit den Unmut seiner Cahiers-Kollegen auf sich (deren Chefredakteur er von 1957 bis zu seinem Sturz 1963, angeführt von Rivette, war), die sich seiner Unterstützung und Loyalität gegenüber der Nouvelle Vague nicht ausreichend sicher fühlten: Ein konservativer Cinephiler opfert die Kraft des Moments zugunsten klassizistischer Ausführungen über das Schöne.
«What I would like to express constantly in my tales is, if I may be so bold, a pure relationship between self and self.»
Zwei Langfilme, Les Petites Filles modèles (1952), der als erster Film der Nouvelle Vague gilt (und eine Adaption eines Stoffes der Comtesse Sophie de Ségur ist), aber zu weiten Teilen nicht mehr existiert, und der erfolglose Le signe du Lion (1959) mit kaum mehr als 5000 Zuschauern in Paris, waren, worauf Rohmer in den frühen 60ern und mit knapp über vierzig blicken konnte. Außerdem eine Reihe von «Amateur»-Filmen, denen er sich in seiner Freizeit widmete, sowie der unbemerkt gebliebene Roman Élisabeth und der Verlust der einzigen (mageren) Einkommensquelle bei den Cahiers. In der Zwischenzeit hatte Rohmer obendrein geheiratet und zwei Söhne bekommen. Die Krise war also nicht nur künstlerischer, sondern auch existenzieller Natur. Rohmer spielte mit der Idee, eine neue Filmzeitschrift zu gründen, als ihm die Kurzgeschichtensammlung wieder in die Hände fiel, die Gallimard 1950 abgelehnt hatte und die bereits den Titel «Moral Tales» trug. Aus ihr erwuchs sein erster von drei Filmzyklen, «Six Contes Moraux , der unter anderem auch Le genou de Claire (1970) enthielt, jenes Knie, das bereits Jahre zuvor immer wieder in Maurice Schérers Lyrik und Prosa aufgeblitzt war. Über seine «Contes Moraux» sagt Rohmer in einem unveröffentlichten Interview von 1962: «The goal is to explore the most absolute subjectivity without rejecting the principle of cinematic objectivity. I seek to explore, in a form more amiable than austere, certain hidden worlds of our inner life, of our souls.» Alles, was dann folgte, fand ich unter «Film 10 Roh».
Antoine de Baecque, Noël Herpe: Éric Rohmer: A Biography (Columbia UP 2016)