essayfilm

Vor Natur und Artefakt Aus den Sachen treten überlebensgroß hervor die Menschen: Zu Agnès Vardas & JRs Visages, villages

Von Gertrud Koch

© Cine Tamaris | JRSA

 

VISAGES, VILLAGES ist das gemeinsame Werk von zwei Künstlern, die mit Film, Fotografie, Projektion und Räumen arbeiten. Sie tun sich zusammen, um eine gemeinsame Reise zu unternehmen. Im Inneren des kleinen Lieferwagens, mit dem die beiden herumfahren, verbirgt sich eine Maschine, mit der die gemachten Fotos in extrem großen Formaten direkt vor Ort ausgedruckt werden können. Dieses Spezialfahrzeug gehört zum Instrumentenkoffer von JR, der nicht mehr als seine Initialen preisgeben möchte und sein Gesicht hinter einer Sonnenbrille anonymisiert. JRs Fotoprojekte haben sich entwickelt aus der Praxis der Graffiti, mit denen er seine Karriere begann. Bewusst als Straßenkunst konzipiert, bestehen seine temporären Arbeiten aus Projekten, die im öffentlichen Raum, an bestimmten, genau umrissenen Orten in Zusammenarbeit mit den Bewohnern dieser Orte entstehen.

Die Fotoportraits der Bewohner werden ausgedruckt und auf großen Gerüsten oder direkt auf Häuserwänden, Mauern oder Fassaden angebracht. So verbinden sie die unbekannten Bewohner mit ihrem Habitat: Sie kehren aus dem Inneren nach außen, animieren die Architektur der Straßen und Plätze, der Wohn- und Arbeitsplätze. So wie Agnès Varda die Leinwand des Kinos im Laufe der Jahre in installative Settings und die traditionellen Kunsträume von Museum und Galerie hinein erweitert hat, so ist auch JR vom Graffiti-Straßenkünstler zum globalen Installationskünstler expandiert. Die topografische Erdung der Projekte teilt er mit Varda und deshalb ist es kein Wunder, dass er mit ihr eine Reise unternimmt, in der die (gebauten und natürlichen) öffentlichen Räume zur gigantischen Bühne werden, auf denen nicht nur die Fotografierten sondern auch die beiden Künstler selbst auftreten.

Diese Projekte, deren Entstehung der Film zeigt, stehen unter einer inneren Spannung: Der bekannte Künstler JR macht sich zum gesichtslosen Medium unbekannter Gesichter, denen er einen öffentlichen Platz gibt, an dem sie erkennbar und individuell sind. Auch Agnès Varda wird gefilmt, aber JR nimmt selbst für sie die Sonnenbrille nicht ab. Der Künstler als diaphanes Medium, der etwas im öffentlichen Raum zur Erscheinung bringt, wird im Film VISAGES, VILLAGES selbst zum Portraitierten, zusammen mit der Reisegefährtin Agnès Varda, deren eigene ästhetische Praxis allerdings nie aufgelöst ist in soziale, interaktive Praktiken im öffentlichen Raum, sondern immer zurückgebunden wird in eine Perspektive der Selbstwahrnehmung und reflexiven Kommentierung auf der Ebene der Bildproduktion.

Die Aktionen, die Fahrten, die Gespräche über diese, die den Film ausmachen, sind von einem heiteren Grundton getragen, der in seltsamem Widerspruch zu stehen scheint zu den mitunter doch wuchtigen Installationen und den übergroßen Formaten, die die Räume, aus denen sie hervorgehen, oft durchschneiden. Anders als Projekte der Land Art, die meist die Landschaft selbst als Artefakt ausstellt, dominiert in JRs Installationen ein Modus der Projektion. Obwohl es sich im technischen Sinne nicht um Projektionen handelt, sondern um Auftragungen und Hängungen, wirken die bespielten Flächen als Leinwände, auf die etwas projiziert wird.

Das Verhältnis von Innen/Außen wird dabei dramatisiert. Wenn ein Frauenportrait sich über eine ganze Hauswand erstreckt, dann wirkt die portraitierte Bewohnerin des Hauses als Riesenprojektion aus dem Haus heraus. Dieses Spiel mit Proportionen und Formaten erzeugt eine anthropozentrische Konstellation: Aus den Sachen treten überlebensgroß die Menschen hervor, und auch in der Natur werden sie zu freundlichen Riesen vergrößert. Diese Technik ist Mimesis an die Reklamewände, die mit ähnlichen formalen Effekten operieren, wenn in Hochhausschluchten oder entlang Autobahnen Riesenköpfe erscheinen, die für eine Sache stehen, die sie verkaufen sollen. Dieser funktionale Zusammenhang wird in den Installationen freilich durchschlagen und statt die Sache der Ware aus der Person heraustreten zu lassen, löst sich die Person von der Sache und wird zu einem eigenen Bild.

Der humanistische Kern dieser künstlerischen Arbeiten tritt darin sichtbar hervor. Der Mensch in XXL wird wortwörtlich vor Natur und Artefakt gestellt. Es liegt nahe, diese Verfahren einerseits als Übertragungen filmischer und fotografischer Projektionsmodi zu verstehen, andererseits produzieren sie neue Effekte. Während die filmische Großaufnahme durch die feste Kadrierung der Einzelkader wie der Leinwand innerhalb festgelegter Proportionen variiert, erzeugt die völlige Loslösung von dieser Rahmung den überwältigenden Eindruck von ‹Größe› – it’s big.

Nun erscheint der Mensch vor der Größe der Natur oder der gebauten städtischen Landschaften nicht mehr als fragiler David vor den Kulissen Goliaths, sondern umgekehrt wirken die Kulissen Goliaths wie Davids Spielzeug, wie Bausteine einer Selbstdarstellung. Aus dieser Umstellung entsteht so etwas wie spielerisch-narzisstische Lust an der Größe, wie sie auch den Körper-Skulpturen von Niki de Saint Phalle eignet, die oft installative Momente haben, insofern sie begehbar sind und damit Teil des menschlichen Raumes werden, der den Bildraum öffnet. Anders aber als die Riesen-Objekte von Jeff Koons, der den Fetisch der Waren freistellt so wie vor ihm schon Disneys Donald Duck Comics, wenn die Damen im Billionärsclub von Entenhausen ihre enormen Diamantketten in Schubkarren vor sich herschieben müssen, weil deren Gewicht sonst das Genick der Trägerinnen brechen würde. Anders auch als die Riesentränen im Augenwinkel der Comic-Heldin in Roy Lichtensteins Formung des ‹Big›, die Affekte freistellen, werden die Großformate, die JR und Varda in ihrem gemeinsamen Film vorzeigen, zu einer neuen Galerie des Menschen, der seine Größe, Singularität und Stärke im wahrsten Sinn des Wortes in den Vordergrund rückt.

Es ist auch eine Feier der Gleichheit, denn es sind Frauen und Männer ‹von der Straße›, aus der Nachbarschaft, vom Arbeitsplatz, die hier ihren Auftritt bekommen und groß in Erscheinung treten. Varda baut sie oft in Skizzen von Erzählungen ein, macht sie darin auch zu filmischen Subjekten, während JR eher auf den interaktiven Austausch setzt, auf das Wiedererkennen durch die Blicke der anderen.

So beeindruckend die Reise zu den großen Menschen auch ist, so stellt sich doch auch ein Moment des Kippens ein, wenn die Ästhetik des ‹Big›, das Unscheinbare des Alltags freizuschaufeln, unter der Hand doch in eine Werbung für den unverwüstlichen élan vital des Menschen aufblendet. 

 

Visages, villages (Agnès Varda, JR) F 2017 | Kinostart am 31. Mai 2015