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Helke Sander «Unser Verstand wird uns umbringen»

Von Bert Rebhandl

Helke Sander studierte 1966 im ersten Jahrgang der DFFB. Schon damals ging sie ihre eigenen Wege: als Frau, als Mutter, als Feministin. Im Vorjahr veröffentlichte sie ein Buch über Die Entstehung der Geschlechterhierarchie in der Urgeschichte. Es ist auch ein Ersatz für einen Film, der nie zustandekam.

 

© Beat Pressner | courtesy of Helke Sander

 

Frau Sander, beginnen wir einfach mit dem Titel Ihres neuen Buches …

Mit dem langen?

Mit dem langen. Wenn Sie den erläutern, sind wir ja schon tief in der Materie.

Die Entstehung der Geschlechterhierarchie: Als unbeabsichtigte Nebenwirkung sozialer Folgen der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts. Der ist ein bisschen darwinistisch angehaucht. Es ging mir darum, die Gründe für die erste Arbeitsteilung herauszufinden. Ich habe mich 50 Jahre mit der ganzen Thematik befasst und bin dann auch zu einem Ergebnis gekommen. Anfangs dachte ich, ich finde die Antwort schon bei anderen Leuten, was aber nicht der Fall war. Ein Nebeneffekt war die Feststellung, dass es eigentlich keinen Bruch gibt in der Geschichte. Primitive Gesellschaften sind nicht ganz anders. Wir haben immer zu jeder Entwicklung auch Kehrseiten mitentwickelt, die sich von ihrer negativen Seite meist erst später zeigten. Wie zum Beispiel das Plastik im Meer, die friedliche Atomkraft und tausend andere Sachen.

Das Buch enthält auch eine Zivilisationskritik. Was aber haben Sie über die Geschlechterhierarchie herausgefunden?

Die ganze Menschheitsgeschichte hat sich ganz langsam entwickelt, was mit das Schwierigste zu begreifen ist, denn unser Verständnis geht meist nur ungefähr 5000 Jahre zurück. In diesem Zeitrahmen spielt sich das alles ab, was für uns lange und kürzer her ist. Aber was vor einer Million Jahren war, das können wir uns schwer vorstellen. In diesem Zusammenhang hat sich die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen entwickelt, die ich lieber Tausch nenne. Das war eigentlich gar keine Arbeitsteilung, sondern das waren Handelsbeziehungen zwischen getrennt lebenden Männern und Frauen, die sich aus unterschiedlichen Tätigkeiten entwickelten, die sich allmählich herausbildeten.

Zwischen den beiden Geschlechtern entwickelten sich Tauschbeziehungen?

Genau. Über Millionen Jahre hat jeder sein Essen selber gesucht. Da hat sich niemand geholfen. Das wird manchmal behauptet, kann aber nicht bewiesen werden. Durch verschiedene, dann auch biologische Veränderungen von Frauen und Männern gab es dann auch Nachteile durch den aufrechten Gang, die besonders Frauen betrafen: kleineres Becken, längere Schwangerschaft, größerer Kopf des Kinds. Und dann eben den Fellverlust, gegen den die Frauen auch konkret etwas machen konnten. Gegen eine längere Schwangerschaft kann man schwer etwas unternehmen. Gegen den Fellverlust schon. Die Frauen haben also nicht wie bei Elefanten einen langen Rüssel produziert, sondern ihre Intelligenz entwickelt und spezielle nur sie betreffende Werkzeuge. Die Biologie führte zur Herausbildung unterschiedlicher Tätigkeiten und Fähigkeiten. Nach meinen Schlussfolgerungen wurde das noch durch Instinkte gegliederte Zusammenleben zwischen 800 000 und 400 000 Jahre vor der Zeitrechnung durch ein mehr und mehr soziales Leben abgelöst.

Die ursprüngliche Selbstständigkeit der Frauen wurde zu der Herrschaft der Männer über die Frauen?

So würde ich das eher nicht ausdrücken. Es läuft zwar darauf hinaus, aber beide Geschlechter waren Selbstversorger, und zwar über Jahrmillionen. Als sich die Fähigkeiten spezialisierten, mussten beide Geschlechter lernen, sich gegenseitig zu versorgen. Das hat mit Sexualität überhaupt nichts zu tun. Vor 400 000 bis 300 000 Jahren lernten Männer, gemeinsam mit entsprechenden Werkzeugen größere Tiere zu jagen. Erst im Neolithikum wurden die Produkte von den Männern für das Überleben wichtiger, weil sie nun regelmäßig Proteine herbeischafften. Daraus entwickelte sich alles andere, nicht zuletzt die Domestizierung der Tiere. Damit aus einem Auerochsen ein Pflugtier wird, braucht es seine Zeit. Das war zur Sache der Männer geworden. Erst da entstanden Arbeit in unserem Sinn und die ersten Hierarchien.

Sie formulieren eine evolutionshistorische Hypothese. Welchen wissenschaftlichen Status würden Sie dafür reklamieren? Oder handelt es sich eher um eine erzählerische Intervention in eine nach wie vor von Benachteiligung von Frauen geprägte Gegenwart?

Meine These könnte ich vielleicht so zusammenfassen, dass der Verstand, den wir entwickelt haben, und der uns zu Menschen machte, uns eines Tages umbringen wird. Die Nebenwirkungen der Produkte, die sich mit immer größerer Beschleunigung entwickeln, sind nicht absehbar. Die Globalisierung ist der letzte Ausdruck der Affengeschichte.

Günter Anders äußert in Die Antiquiertheit des Menschen vergleichbare Gedanken über die Technologieentwicklung. Spielte er für Sie eine Rolle?

Daran habe ich mich nicht erinnert. Mir kam es darauf an, herauszufinden, wie es mit den Menschen anfing, warum das anfing, und zwar ohne den Wunsch eines Geschlechts, das andere zu unterdrücken. Das war ja nicht geplant. Das hat sich entwickelt aus Anfängen, die sich immer weiter verfestigten. Die Interpretation der griechischen Geschichte vom «Anfang der Kultur», die im Abendland prägend wurde, ist ein Stück aus einer späten Menschheitsphase. Die erste sogenannte Demokratie beruhte auf unterdrückten Tieren, Sklaven und Frauen. Mit Ursprung hat das nichts zu tun.

Sie beschreiben an einer Stelle einen wichtigen Moment: 1975 stellt Ernest Bornemann in Berlin an der TU Das Patriarchat vor. Ein Buch, das methodisch mit Ihrem neuen vergleichbar ist, es beruht auf intensiver Lektüre, hat aber auch Züge eines Manifests. Bornemann antwortet darin nicht zuletzt auf Matriarchatstheorien aus dem 19. Jahrhundert, vor allem auf Bachofen mit seinem Buch Das Mutterrecht (1861).

Ich würde nicht von Matriarchat reden, sondern von einer zunehmenden Entwicklung beider Geschlechter, wobei das eine geheimnisvoller war als das andere. Die Menstruation gliederte die Zeit. Die Geburt, die mit Blut verbunden war, führte zu Nachahmungen bei den Männern, um auch an dieser Kraft teilzuhaben. Das ist natürlich Spekulation, aber die anderen spekulieren auch. Das Mutter-Kind-Verhältnis spielt bei Bornemann kaum eine Rolle.

Haben Sie damals schon daran gedacht, Bornemann zu ‹antworten›?

Auch 1976 war ich auf jeden Fall überzeugt, dass die Biologie in der Forschung vernachlässigt wurde. Ich habe damals versucht, Filme darüber zu machen, die immer abgelehnt wurden.

Man könnte Die Entstehung der Geschlechterhierarchie also auch als eine Summe begreifen, die jetzt als Buch erschien, weil Filme nicht geklappt haben.

Ich habe über zwanzig Jahre oder mehr versucht, das Geld für einen Spielfilm mit dem Titel «Das Schicksal schöner Männer» zusammenzubringen. Die Finanzierungen gingen aber nie über den Anfang hinaus. Ich habe das als einen Gegenfilm zu Am Anfang war das Feuer (1981) von Jean-Jacques Annaud gesehen. Ich hatte schon Motive im damaligen Jugoslawien gesucht, ich hatte Schauspieler besetzt. Es wäre ein teurer Film geworden. Bei Annaud gab es im Neolithikum schon die Geburt der Hausfrau, ich fand das alles ziemlich albern, aber der Film war ein großer Erfolg.

Kommerziell ein großer Erfolg, aber von der Kritik wurde er verhöhnt. Serge Daney nannte Annaud in einem anderen Zusammenhang den «ersten nicht-cinephilen Roboter des Kinos».

In den Fernseh-Redaktionen sah man das anders, da wurde bewundernd darüber gesprochen.

Gibt es noch ein Drehbuch von «Das Schicksal schöner Männer»?

Es gab viele, aber die gebe ich nicht mehr raus. Von einer Finanzierung zur anderen hat sich das erschöpft. Irgendwann möchte man da nicht mehr drin rumfuhrwerken lassen.

Wäre das Ihrer Meinung nach Ihr Hauptwerk geworden?

Ja, das würde ich sagen, weil ich fünfzig Jahre daran gearbeitet habe.

Diese fünfzig Jahre beginnen in den frühen 1960er Jahren. Sie kommen aus Finnland mit einem Sohn nach Deutschland zurück. Wie ergab sich der Weg zum Film?

Ich hatte in Finnland schon Karriere gemacht, war auch Redakteurin im Fernsehspiel bei Mainos TV. Nach der Rückkehr habe ich mich hier am Theater umgehört, fand es aber eher konventionell im Vergleich zu dem, was ich in Finnland gesehen und gemacht hatte. Neu war, dass ich mich plötzlich mit der Frauenfrage konfrontiert sah. In Finnland war ich in einer Männergruppe mit avantgardistischen Künstlern und hatte als Frau keine Schwierigkeiten in der Arbeit. Es war Zufall, dass ich dann von der DFFB hörte.

Subjektitüde, ein Kurzfilm aus der Studienzeit, ist bis heute eine Ihrer bekanntesten Arbeiten.

Ich war hauptsächlich tagsüber an der Filmakademie, nachts habe ich übersetzt. Vor allem Hörspiele aus dem Finnischen. Ich habe unglaublich viel gearbeitet. Im ersten Jahr war ich in der Gruppe von Jiri Weiss. Da wussten auch die Leiter noch nicht richtig, wie sie vorgehen sollten. Weiss war eigentlich der altmodischste von den ganzen Dozenten, aber die anderen waren schon besetzt: Lilienthal oder Leiser. Die schon politisierten Studenten gingen zu Leiser. Und dann hieß das Thema: Junge trifft Mädchen. Dazu hatte ich nun gerade keine Lust. Mich hat ein formales Problem interessiert: Wenn man eine subjektive Kamera macht, wann muss man schneiden? Denn eigentlich gibt es keinen Grund dazu. Gedreht haben wir dann alles bei dieser Haltestelle bei mir um die Ecke.

Wie haben Sie die Zeit an der DFFB in Erinnerung?

Ich habe viel mit Harun Farocki gemacht. Ich war bei ihm Assistentin – und er bei mir, bei Brecht die Macht der Manipulateure. Er hat mich immer zu den privaten Treffen mit SDS-Oberen mitgeschleppt. Darüber habe ich viel gelernt und das hat mich politisiert.

 

© Iris Wagner | courtesy of Helke Sander

 

In die Zeit des Studiums fällt auch die Gründung des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen.

Im Sommer 1967 habe ich einen Zettel an das Schwarze Brett vom SDS gehängt. Ich wollte die Frauen mit Kindern zusammenbringen, damit wir uns gegenseitig helfen und auch abends zu den Hearings gehen könnten. Damals hat ja kein Mann was im Haushalt gemacht. Kinder waren Frauensache.

In dem späteren Film Der subjektive Faktor (1981) taucht dieser Zettel wieder auf. Man sieht auch eine typische Männerrunde beim SDS und ein Baby, das stört.

Das ist eine ins Fiktive gewendete Dokumentation. Da kommen dann auch so Sachen vor wie die, dass ich damals keine Ahnung hatte, wer Marcuse war. Ich dachte, die verwechseln das mit Mabuse.

Das kommt im Film vor. Sie idealisieren sich und die damaligen Frauen nicht.

Ich hatte nie vorher was von ihm gehört.

Anni, Ihr Alter Ego in Der subjektive Faktor, ist vor allem mit einer Schreibmaschine assoziiert.

Das Gerät hieß damals Composer, das stand bei mir für die Arbeit des Übersetzens, das konnte man schlecht konkret zeigen.

Wie entstand nun der Aktionsrat?

Es gab ein erstes Flugblatt Anfang Januar 1968, das nur an Frauen verteilt wurde. Zu dieser Sitzung kamen dann ungefähr hundert Leute, die hatten alle dieses Kinder-Problem. Es gab keine Kindergärten. Die Lösung war naheliegend: Frauen aus verschiedenen Gegenden haben sich zusammengetan. Beim Vietnamkongress im Februar gab es schon fünf Kinderläden. Wir hatten das Bedürfnis, dieses Treffen zu wiederholen. Bald waren wir die größte Gruppe im Republikanischen Club. Der ursprüngliche Name war «Aktionsrat zur Vorbereitung der Befreiung der Frauen». Das haben wir dann abgekürzt.

Worum ging es in weiterer Folge?

Wir haben festgestellt, dass wir keinen Anteil an der Bestimmung der Erziehungsziele hatten. Also gab es Flugblätter für die Kindergärtnerinnen. Und wir wollten einen großen Streik für das nächste Jahr vorbereiten. Wir stellten außerdem fest, dass die meisten Westdeutschen und Westberliner nicht wussten, dass es schon einmal eine Frauenbewegung gegeben hatte. Hatten wir nie gelernt. Da wussten aber die Frauen etwas, die aus der DDR kamen. Die hatten alle Bebel gelesen. Dadurch gab es so einen unglaublichen Schub auf die alte Literatur. Wir machten uns kundig über die Kontroversen zwischen proletarischer und bürgerlicher Frauenbewegung. Wir entdeckten eine Figur wie Lily Braun. Das war für uns Neuland. Es blieb das Problem, dass Frauen oft auch reaktionär sind. Damals wählten die Frauen immer noch hauptsächlich CDU. Bei Arbeitskämpfen in England traten Frauen häufig als Streikbrecherinnen auf – auch das hat uns beschäftigt. Zu dieser Zeit fing auch mein Interesse an der Urgeschichte an, mit Marx/Engels: Der Ursprung der Familie. Da bin ich dann drangeblieben über fünfzig Jahre.

Sie waren damals eine alleinerziehende Mutter?

Ich war in Finnland verheiratet und habe mich scheiden lassen. Mein Sohn Silvo kam damals schon ins Schulalter.

Hat das politische Engagement damals alles andere zweitrangig werden lassen? Filme mussten warten?

Nein, definitiv nicht. Ich wollte auf gar keinen Fall Funktionärin der Frauenbewegung werden. Ich habe das alles in erster Linie angefangen, um selber arbeiten zu können, um Filme machen zu können. Ich glaubte auch nicht, wie sehr viele zu dieser Zeit, dass bald die Revolution kommen würde. Diversen dogmatischen Vereinigungen habe ich mich nie angeschlossen, da war ich vollkommen immun. Ich habe mich bemüht, Geld für politische Filme zu bekommen. Ich habe Kinder sind keine Rinder gemacht (1969), zwei Jahre später mit Sarah Schumann Macht die Pille frei? Das war eine schreckliche, kleine Produktion, einen Tag draußen und einen im Studio. Aber eigentlich suchte ich dauernd Geld für Spielfilme.

 

Kinder sind keine Rinder (1969)

© Helke Sander | Deutsche Kinemathek

 

Macht die Pille unfrei? Der Gedanke taucht in dieser Zeit auch bei Ula Stöckl in dem Film Der Schlaf der Vernunft (1974) auf.

Es geht darum, dass es keine sexuelle Kultur gibt. Zum Teil ist das grandios, was die Pille möglich macht, aber zum Teil wurden die Frauen dadurch auch so zum Objekt, das hat sich verstärkt, man musste dann nicht mehr aufpassen. Der Papst war dagegen, wir waren auch dagegen.

Gab es damals Austausch mit dem Feminismus in anderen Ländern?

Den gab es ja noch nicht.

In Amerika gab es Betty Friedan, die Der Weiblichkeitswahn (1963) schrieb und damit große Diskussionen auslöste.

Die jungen Frauen in Amerika fingen ungefähr zur gleichen Zeit wie wir an, schienen uns aber unpolitischer. In Berlin wurde diskutiert: In welcher Form sind Frauen am Unglück der Welt und an der Ausbeutung beteiligt? Diese Frage spielte die Hauptrolle. Aus Amerika kriegten wir ab und zu Briefe von Frauen, die von uns gehört hatten. Wir konnten damals aber alle nicht gut Englisch. Besucherinnen aus Frankreich waren tief beeindruckt von unserer Organisation, schon beim Vietnamkongress, in Frankreich gab es damals noch keine Frauenbewegung. In England hat später meine «Tomatenrede» eine große Rolle gespielt (1968 hielt Helke Sander auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS eine Rede, nach der das ansonsten ausschließlich männlich besetzte Gremium sofort zur Tagesordnung übergehen wollte. Dagegen protestierte die Studentin Sigrid Rüger mit einem Tomatenwurf auf den SDS-Theoretiker Hans-Jürgen Krahl, BR)

Wie haben Sie die Affäre um die Besetzung und die Relegation von 18 Studierenden erlebt?

Michael Ballhaus brachte einen großen Topf Milchreis, das weiß ich noch, ich war also auch einmal dabei. Die Aktion, die zur Relegation geführt hatte, gefiel mir nicht. Ich habe aber dafür gesorgt, dass alle eine Abfindung bekommen. Sie sollten einen Anwalt nehmen, habe ich ihnen geraten. Zuerst haben sie gelacht, dann aber genau das getan. (Die Abfindung betrug 19 800 DM.)

Mit Der subjektive Faktor blickten Sie 1981 noch einmal auf diese Zeit zurück.

Das Schöne an 1968 war die allgemein ausbrechende Neugierde. Als es dann zu kompliziert wurde und man lernte, dass man nicht morgen hier eine Revolution haben konnte, bildeten sich unterschiedliche Parteien. Ich wollte zeigen, wie sich das aus einem Anfang voller Fragen verengt auf Dogmatismen.

 

Der subjektive Faktor (1981)

© Helke Sander | Deutsche Kinemathek

 

Warum heißt der Film Der subjektive Faktor?

Das war einfach, weil es mit mir was zu tun hatte.

Ich lese den Titel auch als (weibliche) Kritik an den Weltgeistfantasien der Studentenbewegung. Deren Marxismus brachte es ja auch mit sich, dass sie sich auf der objektiv richtigen Seite der Geschichte sahen.

Viele waren eigentlich nicht politisch, bis auf die Oberen aus dem SDS, die tatsächlich ja auch ihr Studium damit verbunden haben. Bei vielen anderen spielten andere Dinge eine Rolle, die waren ja alle wahnsinnig jung. Sie dockten da an, wo es ein persönliches Interesse traf. Faszinierend war aber auch, wie chaotisch das Leben in den ersten Kommunen war. Sehr anstrengend. Die Frauen haben viel daran mitgewirkt, dass das überhaupt lebbar wurde. Ich gehörte nicht zu denen, die alle Türen aushängen wollten.

In Der subjektive Faktor ist auch Helma Sanders-Brahms zu sehen, die mit Unter dem Pflaster liegt der Strand einen sehr wichtigen Film über 1968 gemacht hat. Welches Verhältnis hatten Sie zu ihr?

Ich würde nicht sagen, dass wir befreundet waren. Wir waren Konkurrentinnen und wurden bis über ihren Tod hinaus immer verwechselt. Ab und an haben wir uns dagegen zur Wehr gesetzt. Sie taucht in einigen meiner Filme auf. Sie kommt in Muttertier Muttermensch vor (in diesem Film aus dem Jahr 1998 spricht Helke Sander aus der Position der Australopithecusfrau Lucy, BR). Und dann haben wir gemeinsam den Film Felix gedreht (ein Episodenfilm aus dem Jahr 1986 mit Ulrich Tukur in vier Beziehungssituationen, die anderen Episoden stammen von Christel Buschmann, Margarethe von Trotta und Helma Sanders-Brahms, BR). Das Schlimmste war: Eines Tages kam jemand in Hamburg wegen einer Diplomarbeit zu mir von einer anderen Universität. Diese Person fand es interessant, dass ein und dieselbe Person Deutschland, bleiche Mutter und Redupers gemacht habe. Die habe ich rausgeschmissen.

Auf Ihren Film Redupers – Die allseitig reduzierte Persönlichkeit (1977) kommen wir gleich noch. Davor war aber 1974 die Gründung der Zeitschrift Frauen und Film.

1973 starteten wir mit Claudia von Aleman das erste internationale Frauenfilmfestival. Es war zwar eine unglaublich mies bezahlte Angelegenheit, hatte aber große Wirkung. In den unterschiedlichsten Städten und Dörfern gab es Publikum dafür. Bei der Zeitschrift ging es anfangs vor allem darum, die Filme bekannt zu machen und den Vertrieb zu unterstützen, also ganz grundlegende Dinge: Adressen verfügbar zu machen und so weiter. Wir haben uns immer bei mir getroffen. Es gab nicht einmal einen Briefkopf. Wenn es dann an das Produzieren ging, haben wir uns aus dem Arsenal über das Wochenende die IBM geliehen. Nach sechs Nummern erschienen wir beim Rotbuch Verlag. Ich erinnere mich aus dieser Anfangszeit besonders gern an die schönen Titelbilder von der Sarah Schuhmann.

Gab es damals Mitte der 70er Jahre auch neue theoretische Bezugspunkte?

Das war damals nicht das primäre Interesse. Wir wollten unseren Einfluss vergrößern. Die Zeitschrift hatte nichts Akademisches, wir wollten, dass die wenigen Filme von Frauen gesehen wurden. 1975 haben wir Geschlechterparität – was auch hieß: gleiches Geld – in den Gremien gefordert.

Eine Forderung, die heute von Pro Quote auch erhoben wird, also seit damals nicht erfüllt wurde.

Die machen das jetzt viel professioneller. Wir haben 1975 eine Institution gegründet mit dem Namen Film Women International. Es gab eine UNESCO-Förderung. Susan Sontag war dabei, Valie Export, Chantal Akerman, Larissa Shepitko, Martha Meszaros. Es wurde eine Vorsitzende gewählt, die Leiterin des Filminstituts in Schweden, Anna Lena Wibom. Von der haben wir dann nie wieder was gehört. Es gab danach noch zwei, drei internationale Gründungen, die von den vorherigen nichts wussten.

Gab es Kontakt zur Zeitschrift Filmkritik, die ja weitgehend eine Männergruppe war?

Die haben uns gehasst. Harun verkaufte in der Akademie der Künste immer die Hefte der Filmkritik. Ich wollte unsere daneben legen, und uns im Verkauf abwechseln, da war er aber nicht dafür zu haben. Die einzigen, die uns anerkannten, war die Zeitschrift Jump Cut in den USA. Mit denen hatten wir immer Kontakt, die hatten viel schon begriffen von Gender Mainstream – auch wenn ich das Wort nicht mag. Wir haben ja auch nicht Frauenfilme gesagt, sondern Filme von Frauen. Das hat sich nicht richtig durchgesetzt.

Das klingt nach einem blinden Fleck bei den Männern von der Filmkritik.

Ja, es war doof.

Kannten Sie Frieda Grafe?

Sie war in der Sache ein bisschen gespalten. Ich habe sie einmal kennengelernt in München mit Enno Patalas. Sie hatte da eine gewisse Berührungsscheu mit uns.

Einer Ihrer beiden bekanntesten Filme entsteht Mitte der 70er Jahre: Redupers – Die allseitig reduzierte Persönlichkeit.

Ich wollte einen Film über den Verlauf der Zeit machen. Was passt alles in 24 Stunden, und was bleibt übrig? Daraus erklärt sich auch der Titel, der zuerst auf Widerstand stieß. Redupers hätte auch ein Mann sein können. Aber mit Frauen und Kindern verschärfen sich die Probleme.

 

Redupers – Die allseitig reduzierte Persönlichkeit (1978)

© Helke Sander | Deutsche Kinemathek

 

Der Titel hat sicher viel zum Erfolg des Films beigetragen.

Ich wollte immer noch eine Giraffe haben, die über die Mauer guckt. Das haben wir nicht bekommen. Es war eine schwierige Produktion, weil ich ja auch noch die Hauptrolle gespielt habe.

Was hat Redupers für Ihre Karriere bewirkt?

Wenig. Danach ging es erst mal wieder von Null los. Sobald man Erfolg hatte, kriegte man erst mal keine Förderung mehr. Als ich 1985 einen Goldenen Bären für den Kurzfilm No. 1. – Aus Berichten der Wach- und Patrouillendienste bekam, hat danach nie ein Produzent angerufen und gefragt: Wollen wir mal was zusammen machen? Was bei Männern immer gleich geschieht. Ich habe wahnsinnig viele Drehbücher geschrieben. Das Verhältnis von gedrehten zu nicht realisierten ist ungefähr 1:6.

Wie ging es in den 80er Jahren für Sie weiter?

1981 wurde ich Professorin an der Hamburger Hochschule für bildende Künste. 1983 folgte der Film Der Beginn aller Schrecken ist Liebe. Und das Projekt «Das Schicksal schöner Männer» wurde konkreter. Ich wollte einen Märchenfilm über die Anfänge der Menschheit machen.

Mit einer Äffin als Hauptfigur?

Ein bisschen was von Lucy sollte natürlich drin sein, aber ich wollte die Schauspieler nicht in Affenkostüme stecken. Das wäre schon anders gegangen.

Sie stoßen sich ja auch sehr an der Kubrick-Szene, die am Beginn von 2001 – Eine Odyssee im Weltraum steht.

Kubrick macht aus der Urgeschichte etwas ganz Falsches. Eine Kampfszene unter Männern. Er unterschlägt die ganze Neugierde der frühen Menschheit und inszeniert die Männer als Kampfmaschinen.

Wann fingen Sie eigentlich an, an einen Film über die Vergewaltigungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu denken?

Das begann ungefähr 1972. Damals traute ich mir das noch nicht zu. Als Kind habe ich das zum Teil noch selbst miterlebt. Bei uns im Haus gab es eine Frau, die war Blockwartin während der Nazizeit und noch in den 70ern eine Denunziantin. Sie wurde von Russen mehrfach vergewaltigt. Ich hatte lange Zeit Hemmungen, mich dem Thema zu stellen, denn ich wollte nicht mit einer revanchistischen Haltung assoziiert werden.

 

BeFreier und Befreite (1991)

© Helke Sander | Deutsche Kinemathek

 

Was gab dann den Ausschlag, dieses Projekt zu realisieren?

Es gab nach achtjähriger Recherchearbeit auf eigene Kosten eine kleine Unterstützung vom Frauensenat in Berlin. Außerdem war ich damals Kodirektorin beim Bremer Institut für Fernsehen. Da haben wir die Historikerin Barbara Lohr eingestellt, die hat die letzten zwei Jahre mitgearbeitet. Immer wenn ich zu einem Festival eingeladen war, ging ich in die entsprechenden Geschichtsmuseen. Da ging es oft um «war atrocities», aber spezifisch zu Vergewaltigungen gab es wenig. Die Wende war für den Film ein Glücksfall, weil wir danach Material aus dem Osten und besonders der Charité bekamen. Die sagten zwar lange, wir haben nichts. Ich habe aber den Chef von der damaligen Gynäkologie ausfindig gemacht, und der hat in den Kellern nachgeguckt. Er hat tatsächlich ganz viel gefunden und war selber darüber erstaunt. Und ich hab noch viel in Bezirksämtern gefunden. Jetzt ist das alles weg. Alle Zahlen, die heute für diese Ereignisse gehandelt werden, stammen von uns. Es gibt keine belastbaren anderen, auch wenn wir nur selten in dem Zusammenhang genannt werden.

1985 kommt Shoah von Claude Lanzmann heraus. Sie gehen nach Minsk zum Recherchieren. War Lanzmann da vielleicht ein Vorbild für Sie?

Wie gesagt, ich habe ja schon Jahre vorher zu dem Thema geforscht. Lanzmann hat darum keine Rolle gespielt, sondern die Schriftstellerin Svetlana Alexijewitsch. Sie hat das Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht geschrieben, das erschien zuerst in einem ganz kleinen Verlag in Hamburg (Galgenberg). Damals hatte ich schon von praktisch allen west- und ostdeutschen Fernsehanstalten Ablehnungen. Ich wollte ihr unbedingt von meinem Vorhaben erzählen und sehen, ob ich ihr das so erzählen könnte, dass sie versteht, worauf ich hinauswollte, auf jeden Fall wollte ich keine Russenhetze betreiben oder gar behaupten, dass ein Verbrechen ein anderes aufheben könne. Ich war ihr sehr dankbar, denn sie war die erste und blieb lange die Einzige, die mich unterstützte. Die ganzen Gesprächspartner in Weißrussland habe ich durch sie bekommen.

Wie würden Sie das Vorhaben beschreiben?

Ich wollte wissen, was wirklich passiert ist. Meine Grundfrage war: Was ist eine Masse? In allen Büchern über Berlin 1945 kam immer der gleichlautende Satz: Und dann gab es die Vergewaltigungen beziehungsweise die Massenvergewaltigungen. Sie wurden erwähnt, aber damit war auch schon Schluss. Ich war im Gegensatz zu allen, die das Projekt ablehnten, die einzige, die für möglich hielt,dass das Wort Masse propagandistische Übertreibung sein könnte. Das herauszufinden, hat diese jahrelange Recherche notwendig gemacht. Die hundert interviewten Frauen waren die leichteste Übung. Viele haben auch ihre Tagebücher herausgeholt, die sie tief in den Schränken versteckt hatten.

In den konkreten Erzählungen und auch in den Behauptungen, nichts getan oder gewusst zu haben, äußert sich immer auch sehr deutlich die jeweilige Einstellung zur Sexualität.

Die Russen sind alle unglaublich prüde erzogen. Das kommt vor allem bei den Männern heraus. Die haben ja auch die Polinnen vergewaltigt, die Offiziere haben es meistens abgestritten. Lew Kopelew war der einzige, der ganz konkret geantwortet hat und jugendliche Rotarmisten unterscheiden konnte von kriminellen neuen Soldaten, die aus den Gulags geholt worden waren. Ich habe mit den Frauen meistens einmal gesprochen und mir schriftliche Notizen gemacht. Ich war normalerweise die erste und einzige, mit denen sie darüber sprachen, da wollte ich sie nicht allein stehen lassen. Zu mir hatten sie Vertrauen entwickelt, deswegen bin ich da auch mit im Bild.

Von Gertrud Koch gab es in der Frankfurter Rundschau und dann in der amerikanischen Zeitschrift October eine sehr grundlegende Kritik des Films.

Ich habe mich wahnsinnig darüber geärgert. Wir waren persönlich nicht so eng befreundet, aber ich habe ihr damals mehr oder weniger ja Frauen und Film übergeben. Sie hat in Amerika viel Reklame gemacht gegen den Film. Ich bin aber später auch gerechtfertigt worden, weil es viele mich rehabilitierende Arbeiten über den Film gibt.

Ich versuche die Einwände, die tatsächlich substantiell und auch komplex sind, in Grundzügen zu rekapitulieren: Gertrud Koch fand, dass sie einen Gegensatz von Mann und Frau vertreten, der nicht auf der Höhe des Multikulturalismus der 90er Jahre war, und sie spricht sehr kritisch über Ihre Interviewtechnik. Insgesamt würde ich zuspitzen: Sie meinte, Ihre Beschäftigung mit dem Thema wäre zu sehr problematischen (essentialisierenden) Semantiken von Nation verhaftet und gerate damit in eine Nähe zu revisionistischen Positionen im Historikerstreit.

Ich habe mich für ein absolut vernachlässigtes Stück Historie interessiert, das für das Verstehen der Nachkriegsgeschichte von Bedeutung ist. Die Männer haben keine abstrakten Gender vergewaltigt, sondern Frauen, die vielfach Kinder kriegten, Kinder ablegten, abtrieben, ermordeten oder aufzogen, selber lebenslange Krankheiten davon trugen, keine Hilfe kriegten, weil sie ihre Vergewaltigung nicht ‹beweisen› konnten. Und sie haben interessanter Weise bei der ersten Nachkriegswahl der SPD in Berlin zum Sieg verholfen. Das hatte überhaupt nichts mit Theorien zu tun, sondern mit Informationen.

Haben Sie sich später einmal über diese Angelegenheit ausgesprochen?

Wir haben keinen Kontakt mehr. Das konnte ich nicht akzeptieren.

Ein konkreter Punkt, der mir aufgefallen ist: Frau Doktor Lutz spricht über Menstruation in bestimmten Situationen. Es kommt vor, dass Frauen im Lager keinen Zyklus mehr hatten. Dieses Motiv taucht nun auch in Ihrem Urgeschichtsbuch wieder auf.

Bei Vergewaltigungen ist die Schwangerschaftsrate höher als bei normalem ungeschützten Geschlechtsverkehr. Das hat Frau Doktor Lutz damals herausgefunden. In diesem Zusammenhang hat sie das erwähnt. Es gibt dazu die in den USA entwickelte sogenannte Samenkonkurrenztheorie. Im Buch befasse ich mich eher mit der Theorie, dass Frauen in Urzeiten und ohne Umweltschmutz offenbar noch gleichzeitig und gleichzeitig mit den Mondphasen bluten konnten.

In BeFreier und Befreite hat der Gedanke auch einen ganz anderen Stellenwert als in dem Buch über die Geschlechterhierarchie. Dort würde ich das als einen traumatischen Menstruationsverlust verstehen. In Ihrer Sicht auf die Urgeschichte steht das für weibliche Autonomie. Das Zusammenleben der Frauen synchronisiert den Zyklus, und er hört ganz auf, wenn keine Männer kommen.

Ich wollte das nicht idealisieren, aber es war sicher unglaublich aufregend, noch ohne Theorie das Zusammenspiel von Körperphänomenen und Himmelserscheinungen zu begreifen. Und dann auch den Unterschied zu den Männern. Was sieht man bei den einen und was sieht man bei den anderen nicht? Das ist überwältigend.

Das Beispiel mit dem aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts verschobenen Motiv erscheint mir signifikant. Ist Ihre Sicht auf die Hominisierung nicht insgesamt doch ein neuer Mythos?

Ich habe das Ausbleiben der Periode in schwierigen Situationen als Theorie erwähnt, mich aber weiter nicht dazu geäußert, weil beides eben Theorien sind und nur das Ausbleiben mit heutigen Studien belegt werden könnte.

In den Theoriebewegungen der letzten Dekaden geht es stark um eine Spannung zwischen Kulturalisierung und Naturalisierung. Sie stellen sich sehr deutlich auf die Seite des Naturalismus.

Ich würde sagen, dass ich die vernachlässigte Biologie wieder ins Spiel bringe. Frauen hatten andere Probleme zu lösen als Männer. Die wussten noch nichts von Gendertheorie. Heute spielen biologische Unterschiede nicht mehr die alte Rolle. Frauen und Männer machen in unseren Breiten weitgehend die gleiche Arbeit. Und die althergebrachte machen sie vielfach wie früher zusätzlich. Aber die verschiedenen Zeiten überlagern sich je nach Weltgegend stärker oder schwächer. Nur haben wir keine Neue Welt, sondern eine Welt, die sich durch die Geschichte vielfach bis zur Unkenntlichkeit verändert hat, abgesehen von Klimawandel, Meeresverschmutzung und so weiter.

Könnte es nicht sein, dass Sie gute Erfahrungen aus der eigenen Geschichte, zum Beispiel mit Frauenwohngemeinschaften, in die Vergangenheit zurückprojizieren?

Ich habe das damals nur mit angestoßen, selber habe ich gar nicht so gute Erfahrungen gemacht. Wir haben versucht, bestimmte Probleme neu zu lösen. Die Beschäftigung mit der Theorie folgte erst daraus. Ich habe viel Fantasie und kann mir das vorstellen, was es heißt, nach vielen Millionen Jahren allmählich zu erkennen, dass es eine Verbindung von Mondzyklus, Menstruation und Springfluten gibt. Das war der Beginn des Denkens.

In Hermann Hesses Das Glasperlenspiel gibt es die Geschichte vom Regenmacher. Ein Versuch aus männlicher Perspektive, sich die Weltwahrnehmung der frühesten Menschen vorzustellen. Eine Konstruktion, die mir der Ihren vergleichbar scheint.

Ich mochte Hesse nie.

Inzwischen gibt es einen neuen Feminismus im deutschen Film. Vor allem die Intiative Pro Quote. Sind Sie damit in Verbindung?

Ich unterstütze das natürlich, und Sie beziehen sich auch auf unsere früheren Bemühungen. Aber ich arbeite da nicht mit.

Und wie verfolgen Sie die Diskussionen um #metoo?

Ich verfolge das und wundere mich häufig. Wenn vor 20 Jahren mal ein Mann einer Frau ans Knie gefasst hat … auch damals konnte sie schon sagen: Ne, will ich nicht. Gewalt in der Branche gibt es einfach, man muss sich wehren. Deutschland ist Weltmeister im Mädchenhandel, ich würde mir wünschen, dass Männer das öffentlich reflektieren. Aber ich finde die Vorzeit interessanter.

 

Das Gespräch führte Bert Rebhandl

(Dank an Juliane Riedel und Stefanie Dörper)

Helke Sander: Die Entstehung der Geschlechterhierarchie: Als unbeabsichtigte Nebenwirkung sozialer Folgen der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts, Verlag Zukunft & Gesellschaft 2017

Die DVD-Box Helke Sander ist 2017 in erweiterter Form bei Goodmovies neu aufgelegt worden

 

Parallelaktion

Die Filmgeschichte hat eine große Parallelaktion mit nie verwirklichten Projekten. Helke Sander weiß davon besonders viel zu erzählen. Ursprünglich wollte ich mit ihr vor allem über 1968 sprechen, über die Erfahrungen in jener Zeit, in der viele junge Menschen nicht nur in Deutschland eine unmittelbar bevorstehende Revolution für plausibel hielten. Ihr Film Der subjektive Faktor (1981) ist ein entscheidendes zeithistorisches Dokument und zugleich eine Widerlegung vieler geläufiger Vorstellungen über die lebensweltlichen Revolutionen, in denen rückblickend das eigentliche Vermächtnis von 1968 gesehen wird. Aber man kann dem Werk von Helke Sander nicht mit der Beschränkung auf eine Periode gerecht werden, es zeigt sich gerade in der langen Erstreckung als signifikant, und mit der Lücke, die es im Zentrum hat: Ihr (nach eigenem Verständnis) «Hauptwerk» musste sie schließlich in einem anderen Medium vorlegen, als Buch mit einem sperrigen Titel: Die Entstehung der Geschlechterhierarchie. Als unbeabsichtige Nebenwirkung sozialer Folgen der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts erschien 2017.

Es wirkt in vielerlei Hinsicht anachronistisch, es wird aber gleich ein bisschen besser verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass 1968 auch Schriften wie Vom Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen von Friedrich Engels gelesen wurden, und dass eine «Naturhistorisierung» von sozialen Umständen vielleicht auch als Reaktion auf deren umfassende Dekonstruktion in vielen theoretischen Bemühungen der jüngeren Zeit zu verstehen ist. Helke Sander gehört in Deutschland zu einem Feminismus, den man vielleicht am besten in ihrem Videoessay Mitten im Malestream kennenlernen kann (oder auch in ihrem halbstündigen Porträt von Hannelore Mabry). Die Richtungskämpfe in der Frauenbewegung werden hier in Form einer Berliner Diskussionsrunde im Jahr 2004 noch einmal nachvollziehbar gemacht.

Wie könnte man sich den Film Das Schicksal schöner Männer vorstellen? «Mein Film sollte so etwas wie ein Märchen werden, in dessen erster Fassung Meerjungfrauen in einem Gepäcknetz der Deutschen Bahn, die auf freier Strecke in der Nähe von Mannheim lange warten mussten, die reisenden Männer in Trance oder Schlaf und in weit entfernte Zeiten zurück versetzen und sie ihre Menschwerdung erleben ließen.» Dieses Märchen neben der Neuen Mythologie von Ulrike Ottinger oder Werner Herzog (oder Roland Emmerich, auf dessen Katastrophenfilme Helke Sander auch anspielt) wäre sicher von großem Interesse gewesen.

Zum Werk von Helke Sander gehört aber auch eine der härtesten Kontroversen, die es über einen deutschen Dokumentarfilm nach dem Krieg gab: BeFreier und Befreite (1992) erfuhr ausgerechnet von einer zeitweisen Mitstreiterin von Helke Sander eine fundamentale Kritik. Dass Gertrud Koch nun im selben Heft von cargo mit einem Text vertreten ist, in dem dieses Gespräch erscheint, ist ein Zufall – und soll keine Gräben zuschütten, sondern kann als Indiz für die Heterogenität und Ambivalenz verstanden werden, die zu den Eigenschaften (und Herausforderungen) progressiver Bewegungen gehören. reb

 

 

Stellungnahme zu dem Gespräch mit Helke Sander in cargo 37

Frauen und Film war und ist immer noch eine Zeitschrift, die, unter wechselnder Beteiligung, von mehreren Frauen gemacht wird. Bei den Leserinnen und Lesern von cargo sollte sich gar nicht erst der Eindruck festsetzen, den Helke in dem Interview suggeriert, als wäre es je um einen individuellen Besitz gegangen, der gnadenvoll vererbt wurde (an eine undankbare Erbin). 1983 wollte die Berliner Redaktion die Zeitschrift einstellen – mit der Begründung, daß sie überflüssig geworden sei. Ein Statement dazu ist in Frauen und Film 35 nachzulesen. Karola Gramann, Gertrud Koch und Heide Schlüpmann teilten diese Auffassung nicht und haben die Arbeit an ihr fortgesetzt. In Frankfurt. Im Frankfurt der Kritischen Theorie. Mit dem Verlag Stroemfeld Roter Stern.

Auch für Helke stellte sich Anfang der 80er Jahre die Geschichte noch anders dar, in Heft 34 schrieb sie: «Die Berliner Redaktion will nicht mehr, wie sie sagt. Ich selber habe an ‹Fuf› schon lange nicht mehr mitgemacht.»

Karola Gramann, Gertrud Koch, Heide Schlüpmann