Rot ist die Stunde Mehr Rückgriffe auf Geschichte als aktuelle afropolitane Statements: Zur Biennale afrikanischer Kunst Dak’Art 2018 in Senegal
Eine «rote Stunde» verspricht anderes als «das blaue Licht». Aber beide sind Gedichten karibischer und afrikanischer Autoren entnommen: erstere einem Text des martinikanischen Autors Aimé Cesaire, letzteres einem des senegalesischen Poeten Léopold Sédar Senghor. Zusammen haben diese im Paris der 1930er Jahre die Négritude-Bewegung begründet und die Idee einer afro-karibischen Identität auf den Weg gebracht. Daher sollen ihre Gedichtzeilen bis heute dem Emanzipationsbegehren zeitgenössischer afrikanischer Kunst vorausleuchten, wie etwa bei der jüngsten Ausgabe der Biennale afrikanischer Kunst in Dakar, Senegal. Anstelle des blauen Lichts, unter dem vor zwei Jahren die Kunstwerke versammelt wurden, ist es diesmal die rote Stunde, die alchemistische und utopische Momente freisetzen soll. Nach der Devise des künstlerischen Leiters der letzten und der diesjährigen Dak’Art, Simon Njami, sollen sie einem ästhetischen «progress in silence» günstig sein.
Das französisierte Westafrika als Vorreiterin Gesamtafrikas: Seit Senghors in den 1960er Jahren formuliertem Anspruch einer von hier ausgehenden Sammelbewegung, die weit über den Kontinent hinausreichen sollte, wird der Kunst eine spirituelle Mission zuerkannt. Heute allerdings wird auch eine deleuzianisierende Definition von Kunst als «possible experience» diesem Anliegen dienstbar gemacht. Dakar soll dabei als künstlerisches Zentrum fungieren und seine kreativen Zukunftspotentiale aufscheinen lassen. Der auf der Dak’Art exponierten Kunst wird nicht weniger abverlangt, als der Erde ihren «natürlichen Rhythmus» wiederzugeben und eine «neue Humanität» zu befördern, wie von Frantz Fanon in den 1960er Jahren gewünscht.
Wie, noch immer die Altvorderen und ihre bekannten Pathosformeln? Haben wir nicht die 13. Ausgabe der Dak’Art, und noch immer wird auf die Gründungsväter des Mythos vom vereinigten Afrika rekurriert? Könnten nicht zeitgenössische Denker wie etwa Achille Mbembe angeführt werden, um ein abgekühlteres Afrikaverständnis zwischen Ideen zu Schwarzer Vernunft und einem afropolitanen Weltenineinander vorzutragen? Auch die Wissenschaftler auf der begleitenden Konferenz in der Cheik-Anta-Diop-Universität greifen auf zeitlich Entferntes zurück und leiten aus ihm heutige Einsprüche ab. So wird Hegels These von der Geschichtslosigkeit Afrikas erneut mit Anta Diops historisierender These begegnet, laut welcher nicht Griechenland, sondern ein schwarzes Ägypten am Beginn der europäischen Kultur gestanden hätte, was den Schluss nahezulegen scheint: «Nous sommes beaucoup plus humains».
Der ostafrikanisch-englischsprachige Literaturwissenschaftler Simon Gikandi, Professor in Princeton, wiederholt – unter dem Eindruck der «roten Stunde» – die auf Aimé Césaire und Edouard Glissant zurückgehende These von der modernen karibischen Literatur als Quelle afrikanischer Literaturen. Überhaupt sei Afrika vor allem durch seine Kunstwerke hindurch zu denken, wozu die Zurückweisung westlich-aufklärerischer Geschmacksbegriffe gehöre, da deren Autoren, John Locke oder Adam Smith beispielsweise, ökonomisch mit dem Sklavenhandel verbunden gewesen sind.
Am Beispiel der verschiedenen Buchcover des Romans Things Fall Apart (1958) des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe beklagt Gikandi ein weiteres Mal die westliche Stereotypisierung des Bildes des Afrikaners und stellt dieser eine vergleichsweise abstrakte Umschlaggestaltung nigerianischer Herkunft gegenüber, in der die Akteure nicht als Einzelpersonen, sondern als unbestimmte Vielzahl anskizziert sind.
Sein Respondent, der senegalesisch-französischsprachige Philosoph Souleymane Bashir Diagne, Professor an der Columbia-University, weist sich und seinen Vorredner als Vertreter zweier Afrikas, des islamischen Westens und des christlichen Ostens, aus. Aber weder ginge es an, Afrika in zwei Teile zu spalten noch in einer Andersheit zur westlichen Welt zu fixieren. Dass afrikanische Kunst bis heute nicht mit Zeitgenossenschaft, sondern mit Vergangenheit assoziiert werde, fällt seiner Kritik anheim. Gelte es doch, Gikandis Unterscheidung zwischen Traditionalismus und Tradition weiterzuführen: Statt afrikanische Kunst mit alten Schnitztechniken gleichzusetzen, käme es gerade auf die Transformation des Tradierten an. Von daher sei Treue gegenüber dem Tradierten mit Traditionsaufkündigung zu paaren. Darin liege ja gerade die Leistung der afrikanischen Kunst: kein hegemoniales System der Repräsentation aufzubieten, sondern den eurozentrischen Diskurs zu verschieben. Afrika sei doch der Kontinent der Dekonstruktion schlechthin! Im Hinblick darauf müssten Theoriediskussionen allerdings weniger über Kunst als mit ihr geführt werden. Und daher sei Produktion von Unvorgesehenem wünschenswert!
Vor lauter programmatischer Ausführung wird allerdings «übersehen», dass afrikanische Kunst heute längst nicht mehr nur in Dakar, sondern auf diversen Kunstbiennalen des Kontinents, in Bamako und Kampala, bei Filmfestivals in Kenia und in Südafrika anzutreffen ist – mithin ihr Selbstverständnis differenzierter darzubieten, auch der Führungsanspruch der Dak’Art in die Schranken zu weisen wäre. Noch nie wurde beispielsweise ein ugandischer Künstler auf der Dak’Art präsentiert, beklagt die ugandische Kuratorin Violet Nantume, eine Position aus Tansania wird nun erstmalig gezeigt. Dass Afrika ein vielfältiger Kontinent mit ungleich wahrgenommenen Artikulationsweisen und konkurrentiellen Unternehmungen ist, hätte ein zukunftsweisenderes Thema sein können als die erneute Kritik der Kritik der westlichen Welt. Doch bevor nicht eine laterale und auf die Gegenwart fokussierende Perspektive eingenommen würde, käme man aus einer Selbstwahrnehmung entlang des Nord-Süd-Gefälles nicht heraus. Seitenblicke wären zu praktizieren, eine Werschätzung der kontinentalen Vielfalt und ihrer Abweichungen täte not! Eine mögliche Kritik hätte sich zudem darauf erstrecken können, dass Njami auch die diesjährige Kampala-Biennale kuratieren wird. An ihr müsste sich spätestens erweisen, ob er sie für Differenzierung und Brückenschläge nutzen oder bloß sein Kuratorenhandwerk weiter monopolisieren wird.
In der großen «internationalen Ausstellung» ist dann unter dem Zeichen des «neuen Humanismus» allerhand Vorhersehbares zu finden, schon weil Njami seit Jahren auf das Prächtige, Raumgreifende und Selbstaffirmative setzt: Im großen Innenhof des ehemaligen Justizpalasts, einer beeindruckenden Ruine, scheinen blaue Fensterläden und Türen gen Himmel zu fliegen; Haus und Boot, waageartig verbunden, heben sich abwechselnd in die Lüfte bzw. ziehen sich herab; Serien von bunten Segeln, Räume mit Sandhaufen und Revolutionsappellen – neben ästhetisch Gefälligem werden hier plakativ zeitgeistige Themen bedient. Die Wandteppiche aus recycelten Metallstückchen von El Anatsui korrespondieren mit einer umfänglichen Wandplastik aus haarähnlichen Bändergeflechten von Tejuoso Olanrewaju und lassen augenfällig werden, dass Großskulpturen zumindest in diesem Ambiente am besten funktionieren.
In kleinen Nebenräumen finden sich dann feinsäuberliche Recherchearbeiten, etwa zur Bedeutung der Rai-Musik für das heutige Algerien oder zum Phosphat-Transport in Tunesien. Die Videoarbeit We live in silence von Kudzanai Chiurai bietet Akte ritueller Behandlung von Frauen, ihrer Beschneidung oder Umsorgung zeitlupenbedingt weihevoll dar. Kongolesische Nkisi-Skulpturen werden von Géraldine Tobé in geisterhaft dunkle Gemälde mit Totenköpfen umgedeutet – Gikandi führt sie als Beispiel für die geforderte Transformation des Traditionellen an. Guy Wouété inszeniert einen «Democratic Classroom», dessen Stühle Namen negativer Affekte auf ihren Lehnen tragen und Konflikte im Raum des Wissens anmahnen.
Am Eröffnungsabend überzeugt mehr als die Kunst die Vielfalt der Physiognomien, auch die Ansammlung von Senegalesinnen in traditioneller Gewandung, die, blaugelippt, an den Pfeilern des ehrwürdigen Gebäudes lehnen. Andere Hostessen in expressiven Kostümen nehmen den Präsidenten und seine Entourage in Empfang und geleiten die schwarze Kohorte durch den Palast. Die «rote Stunde» sorgt für Farbenpracht und Unbeschwertheit, gibt majestätische Blicke auf den Atlantik frei, selbst wenn die Erinnerung an das Massengrab diese unterspült. Andere Zeitlichkeiten, hervorgerufen von der afrikanischen Kunst? An diesem Abend hält die Welt tatsächlich ein wenig inne, zu großartig die Geste, das senegalesische Geschenk an die nicht nur afrikanische Welt.
In den folgenden Tagen eröffnen hintereinander höchst unterschiedliche kleinere Ausstellungen überall in der Stadt: Im «Museum für afrikanische Kunst» (ifan) präsentieren die fünf geladenen Kurator*innen ihre Auswahl und führen pointiert Korrespondenzen zwischen kulturell geschiedenen Recherchearbeiten vor. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung setzt in gewohnter Weise auf Akustisches, u. a. eine minimalistische Soundkomposition von Emeka Ogboh oder eine kaum hörbare Haarkämm-Performance von Satch Hoyt. Alya Sebti lässt das «Unsichtbare» in verschiedenkulturellen Arbeiten umkreisen, Cosmin Costinas, Marisol Rodriguez und Marianne Hultman präsentieren Filme und Videoarbeiten u. a. zu (post)kolonialen Problematiken aus verschiedenen Ecken der Welt. In einem Video von Ming Wong aus Singapur wird die Begegnungsszene zwischen farbiger Mutter und hellerhäutiger Tochter aus Douglas Sirks Film Imitation oflife reenacted, nun allerdings mit asiatisch-männlichen Protagonisten durchgespielt. Zur kubanischen Kaffeemonokultur findet sich ein kritischer Schwarzweißfilm von Nicholas Guillén Landrián aus den 1960er Jahren, zu den ökologischen Problemen des Kohleabbaus begegnen Wandbilder auf Kohlebasis von Uchay Joel Chima aus Nigeria und kentridge-inspirierte Animationsfilme von Prabhakar Pachpute aus Indien. Wegweisend komplex sind künstlerische Recherchen wie Jihan El Tahris Diaspora FM, eine Kollage aus Karten, Objekten, Dokumenten und Radiomeldungen, die die zeitgenössische ägyptische Identität als afropolitane, zwangsweise über die ganze Welt verstreute, performiert.
Weitergeführt wird diese Ausstellung in über 300 Off-Spaces im Stadtraum von Dakar, so unter anderem in einem Irrgarten aus bedrohlich angespitzten Baumstämmen in der Galerie Le Manège von Pascale Martine Tayo, vor einigen Monaten modifiziert in der Berliner ifa-Galerie zu sehen. Oder in Arbeiten im öffentlichen Raum auf der vorgelagerten Insel La Gorée, wo Bili Bidjocka die Kunsthungrigen zum «Letzten Abendmahl» von Leonardo einlädt, personenbefreit auf einen begehbaren goldenen Perlenvorgang projiziert.
Noch einmal anders ist die künstlerische Atmosphäre im Laboratoire Agit-Art, dessen Kollektiv sich seit den 1960er Jahren Senghors mythisierendem Afrikaverständnis widersetzt und, nach dem Tod seines Gründers Issa Samb und dem Abriss von dessen begehbarem Hinterhof-Ensemble, nun vorübergehend im ehemaligen Bahnhof Unterschlupf gefunden hat. In Rauminstallationen, einer Skulptur von Issa Samb, der die Fäden weiterhin in der Hand hält, und in demonstrativer Partyatmosphäre wird das Alltagspolitische dieser Kunstauffassung betont. Zu ihr bekennt sich auch die Senghor-Kritikerin Koyo Kouoh, die in ihrem Studio «Raw Materials» ihrerseits eine Bild- und Textstrecke zu (post)kolonial-globalisierter Entmündigung und einen Performance-Marathon darbieten lässt.
Betrachtet man schließlich die Gemälde von Abdoulaye Diallo, einem namhaften senegalesischen Maler, der noch die Ecole de Paris durchlaufen hat, in der Bibliothek der Universität, so begegnen einem auch hier (post)kolonial inspirierte Motive. Insbesondere in den jüngeren Arbeiten nimmt er auf den innerafrikanischen Sklavenhandel, aber auch auf Leo Frobenius Bezug und eignet sich die Felszeichnungen, die dieser in Afrika kopieren ließ und nach Deutschland ausführte, wieder an. Auch die Tirailleurs Sénégalais, von den Franzosen ausgehobene afrikanische Soldaten, die u. a. im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen kämpfen mussten, sind auf Gemälden oder als schwarze Masken an einer Wand, im Pavillon de Sénégal, präsent. Heißt das, dass die (post)koloniale Obsession des Westens nun auf die afrikanische Identitätsbildung zurückwirkt? Oder ist die erhöhte Sensibilität für vergangene Vorgänge der Unterwerfung eben das neue globale Band, weshalb mehr Rückgriffe auf die Geschichte als aktuelle afropolitane Statements zu finden sind?
Es verwundert nun kaum mehr, dass auch im Fotografie-Museum der ehemaligen französischen Kolonialmetropole St. Louis mit Historischem aufgewartet wird: Die versammelten zeitgenössischen Farbfotografien sind gerahmt durch schwarzweiße Studiofotos aus den 1920-30er Jahren und eine kleinformatige Serie aus den 1960er Jahren. Dieses exquisite Aufnahmedispositiv fungierte identitätsstiftend in Zeiten, da der Besitz eines Fotoapparats noch Luxus war. Luxuriös kommen in jedem Fall die großformatigen Studioaufnahmen der frühen Jahre daher: Die Frauen sind in schönstem Ornat bildfüllend in Szene gesetzt. Auf den kleinen Fotos der 60er Jahre dominieren dagegen moderne Familienszenen und legen die Erkenntnis nahe, dass das westlich-ödipale Dreieck von diesem Medium mitkonsolidiert worden ist. In den zeitgenössischen Großfotos dagegen findet sich das Studio-Motiv umgedeutet in Straßenansichten männlicher Paare oder von jungen Frauen, die sich provokativ vor Müllhalden ablichten lassen und ihren notwendigen Alleingang in einer verwüsteten Welt demonstrieren. Dazwischen freilich leuchten blaue Unterwasserszenen hervor, die nach vorne phantasieren und Afrofuturistisches evozieren.