Ethische Anhaltspunkte Ein Sammelband zum russischen Kino nach der Sowjetunion
Im Jahr 1994 kam ich zum ersten Mal zu einer Berlinale. Es waren zwei russische Filme, die mich damals besonders beschäftigten: Tichie stranicy von Aleksandr Sokurov lief außer Konkurrenz im Wettbewerb (die Vorführung damals in der Akademie der Künste), Ladoni von Artur Aristakisjan im Forum. Zwei in hohem Maß ästhetische Werke, die ich damals als apokalyptisch empfunden habe – der Eindruck wurde wohl noch dadurch verstärkt, dass in diesem Jahr auch Chantal Akermans D’est lief, ein Schlüsselwerk für den faszinierten Blick auf die Ruinen (menschlich wie baulich) des Sozialismus. Inzwischen ist die Sowjetunion seit bald einer Generation Geschichte, aber vom russischen Kino der Zeit danach habe wohl nicht nur ich nur einen sehr ungefähren Begriff. Der französische Sammelband Cinéma russe contemporain, (r)évolutions hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesem Umstand, der auch für die cinephile und filmkritische Öffentlichkeit in Frankreich gilt, abzuhelfen – mit einer Reihe von Texten, die einerseits Überblicke verschaffen, andererseits an relevanten Stellen genauer hinschauen wollen.
Den Hinweis auf das Buch fand ich auf der sehr empfehlenswerten Onlinesite nonfiction.fr, ein digitales Exemplar konnte ich leider nur im geschlossenen System des Marktführers Amazon erwerben. Ich begann die Lektüre mit einer Stichprobe. Zu Sokurov erklärten die Herausgeber, dass sie ihn bewusst weitgehend ausgespart haben, weil es zu dem vielleicht erfolgreichsten Arthouse-Regisseur aus dem heutigen Russland eine Menge Literatur gibt (in der edition text + kritik erscheint dieser Tage auch eine neue Monographie auf Deutsch: Die Filme von Aleksandr Sokurov von Mara Rusch). Von Ladoni und Artur Aristakisjan hingegen ist in dem ganzen Band nicht die Rede. Dafür muss man wahrscheinlich Verständnis haben, denn der aus Moldawien stammende Einzelgänger hat danach nur noch einen weiteren Langfilm gemacht: Mesto na zemle (2001), über eine Gruppe von Obdachlosen in Moskau. Letztes Jahr tauchte ein Text von Aristakisjan in einer Anthologie neuerer russischer Literatur auf, die Julia Kissina für den Suhrkamp Verlag besorgte. Über diesen Kontakt habe ich eine Emailadresse bekommen, seither gibt es eine lose Verbindung nach Moskau und den Plan, irgendwann ein cargo-Gespräch mit Aristakisjan zu führen. Er wäre sicher eine herausragende Auskunftsperson.
In dem Band Cinéma russe hätte er zum Beispiel in den Text von Katerina Souverina über l’historicité, le vide, le sacral» gepasst, in dem sie einige jüngere Versuche eines kritischen Realismus anführt, die sich unter dem Stichwort «Gegenwartsnostalgie» zusammenfassen lassen, das der Kritiker Konstantion Chavlovski geprägt hat. (Unweigerlich denke ich dabei, nebenbei gesagt, an Svetlana Alexejewitschs Begriff der Secondhand-Zeit, den wahrscheinlich bekanntesten Versuch einer Bestimmung der eigentümlichen Präsenz der Sowjetunion in der postsowjetischen Gesellschaft.) Schon an anderen Stellen in Cinéma russe wurde die geschichtspolitische Rolle des Siegs im Zweiten Weltkrieg (dem «Großen Vaterländischen Krieg») hervorgehoben. Mit Blick auf den Film Leninland (2013) von Askold Kurov wird das Vergangenheitsverhältnis nun zugespitzt, sodass nicht mehr nur der Krieg als eine « neue Religion » erscheinen kann, sondern die Sowjetunion selbst. Leninlandlief vor zwei Jahren im Berliner Arsenal im Rahmen der Reihe The Revolution That Wasn’t, and Kurov war sogar zu Gast.
Die Filme, auf die Katerina Souverina hinweist, nehme ich als Versuche, der offiziösen, ideologischen Sakralisierung, wie sie von dem in den westlichen Medien längst gut bekannten Aleksandre Douguine (Alexander Dugin, die Umschriften wären ein Kapitel für sich wert) als eine Art Leitkultur für die politische Rechte auch im Westen angeboten wird, eine (das Wort fällt so nicht) negative Sakralisierung entgegenzusetzen, für die «Leere» (le vide) zu einer Schlüsselkategorie wird. Den Begriff entlehnt Souverina von dem Künstler Ilya Kabakov («On the subject of the void»), sie überträgt ihn auf die Weise, wie Regisseure wie Boris Khlebnikov den Alltag metaphysisch aufladen, indem sie ihn (heroischer Bedeutung) entleeren. Souverina zitiert an einer Stelle auch einen Kritiker namens Oleg Zentsov (mit einem Beitrag aus Seans, das als eines der wichtigsten Organe für eine kritische Cinephilie in Russland sehr häufig auftaucht): Er lobt den Film Choultès von Bakour Bakouradze, weil er ein «horizontales Moskau» zeigt, das sich von Überhöhung wie von Elendsdrastik fernhält. (Ladoni wäre im Vergleich ein Film, in dem diese Horizontalität kippt, in dem zwischen der Metaphysik – Dies Irae – und dem Boden, auf dem die Ärmsten herumkriechen, jede Vermittlung fehlt.) Das Zitat von Zentsov fiel mir natürlich auch deswegen ins Auge, weil alles dafür spricht, dass es sich hier um den späteren Filmemacher Oleg Sentsov handelt, der, während ich das schreibe, in einem russischen Straflager in einem Hungerstreik ist, als politischer Gefangener aus dem Ukrainekrieg.
Ein nicht geringer Teil der Lektüre eines französischen Buchs über das russische Kino für eine deutschsprachige Zeitschrift besteht im Abgleichen von Namen, Titeln und Begriffen. So habe ich einige Zeit damit zugebracht (des Russischen selbst nicht mächtig), die Zeile Volkodav prav – a lioudoed, net halbwegs zu entschlüsseln. «Le chien-loup a raison, l’ogre non.» Das sagt die Figur Spiridon in Der erste Kreis von Alexander Solschenizyn, aus dem eine Prestigefernsehserie wurde, der ein eigenes Kapitel in Cinéma russe gewidmet ist. Spiridon ist der nahezu blinde Hofwart in der Scharaschka Marfino bei Moskau, einer Wissenschaftlerkolonie, deren Mitglieder ständig Gefahr laufen, in ein Straflager abtransportiert zu werden. Er ist auch eine Art mystischer Autorität, was soweit geht, dass Natalia Balandina das Zitat vom volkodav und vom lioudoed in den Mittelpunkt ihres Texts über die beiden Serien von Gleb Panfilov (Der erste Kreis) und von Serguei Oursouliak (Leben und Schicksal) stellt. Die zweite beruht auf dem gleichnamigen Roman von Wassili Grossman, der 2007 auf Deutsch herauskam, und der das beeindruckendste mir bekannte literarische Panorama der Sowjetunion zwischen Stalingrad und Hochstalinismus darstellt. (In einem der zahlreichen binären Codes in Cinéma russe wird Solschenizyn mit Dostojewski verglichen, und Grossman mit Tolstoi.)
Beim Wolfshund und beim Menschenfresser ist die binäre Logik für mich nicht ganz so eindeutig. Aber im Kern ist die Sache klar, auch für Balandina: Sie sieht in den beiden Fernsehserien, in denen erste Schauspieler des Landes auftraten (und in der Solschenizyn in der einen selbst den Off-Kommentar sprach) einen Prozess der Ablösung des radikalen Skeptizismus der ersten zehn, fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Figuren, die unter dem kommunistischen Regime litten, werden in der Gegenwartsnostalgie des heutigen Russland zu «ethischen Anhaltspunkten». Es wäre interessant gewesen, zumindest in einer spekulativen Andeutung zu lesen, inwiefern das Wort lioudoed im Jahr 2012, als die Serie Der erste Kreis erschien, auch auf Putin und sein System bezogen werden konnte. Aber solcher aktueller Konkretisierungen enthalten sich die meisten Autoren.
Cinéma russe macht deutlich, wie sehr die wechselseitigen Wahrnehmungen so bedeutender Kinematografien wie der russischen und der französischen (oder der deutschen) von Zufällen und Leerstellen geprägt sind. Immerhin tauchen einige der wenigen vertrauten Namen (aus dem Verleihkalender bekannt) wie Boris Khlebnikov mehrfach auf, der Zentralfigur Andrei Zvyagintsev ist ein eigener Beitrag gewidmet, die bedauerlichste personelle Leerstelle ist hingegen nicht Artur Aristakisjan, sondern Alexei Fedorchenko (siehe cargo 26), der mit Angels of Revolution ein Schlüsselwerk für die Revolution, die keine war, gedreht hat, und der nur mit einem Frühwerk erwähnt wird.
Diese Desiderata werden aber aufgewogen durch eine lange Reihe von Namen und Filmtiteln, die man sich en passant notiert, nicht wenige aus der Zeit seit 1960 oder 1970, aus der Breschnew-Zeit und Spätphase der Sowjetunion, die kürzlich auf der Berlinale mit Alexei German jr.s Dovlatov wieder in den Blick gebracht wurde. Ich nehme manches, wozu mich mehr interessiert hätte, nicht als Versäumnisse der Herausgeber, sondern als Indiz für die Größe der Herausforderung, vor der steht, wer sich von dem Land, in dem dieses Jahr die Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet, und dessen gegenwärtige Regierung (in meinen Augen ein korruptes, möchtegernimperialistisches Regime mit lioudoed-Charakter) in Deutschland gern «ostpolitisch» schöngeredet wird, einen vernünftigen Begriff zu machen. Erster praktischer Vorsatz nach der Lektüre von Cinéma russe: Swetlana Geiers Übersetzung von Der erste Kreis besorgen, und lesen, und auf diese Weise Spiridon besser kennenlernen. Und dann ein paar weitere Idioten.
Eugénie Zvonkine (Hg.): Cinéma russe contemporain, (r)évolutions (Septentrion 2018)