dokumentarfilm

Toxische Väterlichkeit Die Widersprüche sind die Hoffnungen: Über Annekatrin Hendels Familie Brasch

Von Michael Suckow

© Salzgeber

 

Paul Gratzik rudert über seinen uckermärkischen See. Sascha Anderson steuert sein Auto durch Frankfurt. Marion Brasch fährt im Taxi durch New York City. Immer eine Bewegung hinein in die Filme. Wir gelangen an einen Punkt und dann geht es los. Der Protagonist erreicht sein Ziel. Ist an seinem Ort. In seinem Element. Und packt aus. Fotos, Akten, Erinnerungen, Devotionalien, und wieder Fotos.

Die Akten, die Bilder und die Beziehungsgeflechte, das ist das Material, aus dem Annekatrin Hendel in ihren Filmen das Bild ihrer Protagonisten erstehen lässt. Was die Freunde, die Partnerinnen, die Kinder sagen, die Fotos, die sie zeigen oder gezeigt bekommen, der Wortlaut von Briefen, Stasiakten, Gedichten und Erzählungen, das alles ergänzt sich, stellt sich in Frage, relativiert und bestätigt sich. In ihrem neuen Film wird das alles nicht auf eine zu porträtierende Person, sondern auf das Beziehungsnetz einer Familie bezogen: Familie Brasch.

Die Freunde, die Partnerinnen, Kinder, Mitstreiter sind noch da. Ihre Äußerungen zeichnen ein erweitertes Geflecht, das über die Familie hinausgeht, sie aber auch spiegelt. Christoph Hein, Jugendfreund Thomas Braschs, der als Sohn eines Pfarrers nur in Westberlin Abitur machen kann, aber als Schriftsteller in der DDR Erfolg hat und verlegt wird, spiegelt Thomas’ Werdegang als aus der DDR weggegangener Funktionärssohn. Florian Havemann, Sohn des Dissidenten Robert Havemann, der wie Honecker im Zuchthaus Brandenburg inhaftiert war, teilt mit seinem Freund Thomas Brasch und so vielen anderen Kindern der DDR-Nomenklatura – man denke nur an Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts – die Erfahrung «toxischer Väterlichkeit».

Hendel greift wie in Der Vaterlandsverräter (2011), Flake (2011) und Fassbinder (2015) auch in ihrem neuen Film auf ein Stilmittel zurück, das man im wörtlichen Sinne verstanden «Bühnenbild» nennen könnte. Es ist Theatermalerei – nur eben für den Film. Leif Heanzo, der Künstler, der diese liefert, bietet auf seiner Website «visual storytelling and worldbuilding for the film industry» an. Er hat für Filme von Tarantino, Kormákur, Tykwer u. v. a. gearbeitet.

Annekatrin Hendels Bilderbedarf ist so groß, dass ihr der umfangreiche Fundus der Braschs und der Bestand der Medienarchive nicht genügen. Ihre Filme sprechen nicht einfach nur über die Aussagen und die Gesichter der jeweiligen Protagonisten und Zeitzeugen, sondern folgen einem narrativ inszenierten Slide von Bildern, die über das archivierte dokumentarische Material hinaus imaginierte Bilder benötigen, um Lücken zu schließen.

In Vaterlandsverräter etwa ersetzen sie das beim Schriftsteller und Landarbeitersohn Paul Gratzik nur spärlich vorhandene Fotomaterial. In Flake – ein Film über den Musiker Christian Lorenz, der vom DDR-Underground-Punk zum Rammstein-Weltstar wurde – zeigen gerade die Illustrationen mit ihrer Graphic Novel-Ästhetik den Menschen hinter dem Glamour des Rockstars.

Das imaginäre Bühnen-Bild der Familie Brasch erinnert an holländische Familienportraits des Biedermeier. Wie dort wird hier eine Interpretation der Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern gegeben. Ging es damals darum, die Konventionen zum Beispiel der Geschlechterrollen auszudrücken, sind es hier konkrete Konflikte und Konstellationen. Der Zuschauer wird – wieder eine hinführende Bewegung – durch einen Kamera-Zoom aus dem Gemälde heraus von einem Detail aufs ganze Bild geführt. Wir sehen zuerst nur die Figur des Thomas Brasch, unterlegt mit einem von einem Kind (Malou Hendel) gesprochenen Zitat. Vom ältesten Sohn, traditionell dem ersten Adressaten des väterlichen Erbes, werden wir zum Gesamtbild einer dem Anschein nach großbürgerlichen Familie in einem herrschaftlichen Salon geleitet. (Familie Brasch – die «Buddenbrooks der DDR», Die Welt, 2012)

Dann legt sich der Filmtitel in rahmenfüllender Größe und fett gesetzten Lettern über das Bild, die meisten Figuren geraten dabei hinter die Worte des Titels, die des Vaters und des ältesten Sohns aber nicht. Es stehen uns Horst und Thomas als Antagonisten vor Augen, der Rest der Familie ist in den Hintergrund gerückt. Damit ist bereits vorweggenommen, wie Annekatrin Hendel in ihrem Film die Geschichte dieser Familie erzählt. Sie dreht sich um einen Vater-Sohn-Konflikt.

Hendel gibt ihrem Film im Titel den Anspruch, die Geschichte einer berühmten deutschen Familie zu erzählen, die der «Familie Brasch». Man könnte eine Art Verfilmung von Marion Braschs Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie (2012) vermuten. In dieser autobiografischen Erzählung kommen alle Figuren des Bühnen-Bilds vor. Die Oma London mit ihrem Lebensgefährten Willy, Oma Potsdam, die nonkonformistische Protestraucherin. Der Vater, die Mutter, beide jüdischer Abstammung, die sich in den frühen 1940er Jahren im Londoner Exil begegnen. Die nach Kriegsende in die sowjetische Besatzungszone, die spätere DDR, umsiedeln, um sich am Aufbau eines sozialistischen deutschen Staates zu beteiligen. Die drei Söhne Thomas, Klaus und Peter, die zwischen 1945 und 1955 im regelmäßigen Abstand von fünf Jahren auf die Welt kommen. Und natürlich die Erzählerin selbst, 1961 als Nesthäkchen der Familie geboren.

Leif Heanzos Requisitengemälde scheint sich bis in Details auf diese Roman-Szenerie und ihre personelle Besetzung, wie sie die Jüngste als Autorin wiedergibt, zu beziehen. Die großbürgerliche Erscheinung der Ex-Fabrikantengattin, die Zigarette in der Hand der anderen Großmutter. Es ist das Bild des Romans, das Bild des Films ist es eigentlich nicht.

Das Bild des Films sind die beiden Männer, Vater und Sohn, die Antagonisten, unerbittlich gegeneinander, und doch aufeinander bezogen und miteinander verbunden. Diese beiden ziehen die meiste Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich, während die anderen Mitglieder der Familie im Hintergrund, nein, nicht verschwinden, aber dort, um gesehen werden zu können, gesucht und hervorgeholt werden müssen.

Und so kann dieser Film angeschaut werden. Wir müssen die Figuren suchen, aus dem Hintergrund des Films nach vorn holen, vor uns hinstellen und aufeinander beziehen. Marion Brasch nannte ihren Familienroman einmal eine – ihre – Familienaufstellung. Auch wir nehmen die Figuren und stellen uns die Familie auf, unsere Familie Brasch. Das tut der Film nicht, er liefert uns nur das illustrierende Genogramm.

Die letzte Variante des Familiengemäldes im Film: Marion, immer noch als kleine Schwester, nun ganz allein zuhaus. In der üblichen Wahrnehmung der Familiengeschichte ist Marion Brasch erst die «kleine Schwester», dann die «Überlebende». Die Kapitelüberschrift «Marion» kommt im Film am Schluss, nach exakt einer Stunde, sechsunddreißig Minuten und vierzig Sekunden.

Jetzt erst sitzt die kleine Marion im Vordergrund, nicht mehr hinter, sondern vor den Lettern. Diesem Familienmitglied werden dann noch genau eine Minute und fünfundzwanzig Sekunden gewidmet. Marion ist aber im ganzen Film sehr präsent. Sie wird nicht als Mitglied der Familie Brasch erzählt. Sie erzählt die Familie. So gesehen übertrifft ihre Präsenz noch die des Vaters und des großen Bruders. Die auf der Bühne des Dramas übrig Gebliebene konterkariert das Klischeebild der tragisch verstorbenen Familie und ihr eigenes als «die Überlebende» mit dem einfachen Satz: Wir sind noch zwei Braschs! Ihre Tochter Lena, Jahrgang 1993, ist Mitgestalterin der Collage Die Brüder Brasch in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin. Aus den Proben und den Aufführungen zieht Hendel einen Teil ihres Bild- und Textmaterials.

Die beiden sind heute die «Familie Brasch». Im Film sind sie Akteurinnen, nicht Objekte der Darstellung. Mutter Marion, Wochenkrippenkind, von der Mutter distanziert behandelt, vom Vater und den Brüdern als stille kleine Tochter bzw. Schwester übersehen. Lena, die ihre Großeltern und den einen Onkel nicht, die anderen beiden kaum kennenlernte, die als ein Kind, alleinerzogen, die Erfahrung des Aufgehobenseins in einer großen Familie nicht machen konnte. Die beiden Frauen sind da, leben, arbeiten. Die Familie Brasch heute.

Diese kleine Familie scheint an einem Punkt ganz gewiss einen gordischen Knoten zerschlagen zu haben. In den inzwischen zahlreichen Reflexionen über Thomas Brasch und sein Verhältnis zu Vater und Staat wird jedesmal auch Horst Braschs autoritäre, grundverletzende Väterlichkeit thematisiert. Hendels Film gebührt das Verdienst, nun auch die «toxische» Väterlichkeit der Brasch-Söhne gezeigt zu haben. Die Regisseurin spricht mit Benjamin Schlesinger, dem gemeinsamen Sohn Bettina Wegners und Thomas Braschs, der sich ausdrücklich nicht als Teil der Familie B. versteht. Die Elternschaft der «kleinen Schwester» scheint von anderer Art zu sein.

Florian Havemann, der in seinem Buch Havemann (2008) erzählt, «wie der Stalinallee der Stalin ausgetrieben» wurde, sagt, dass er von dieser Stalinallee nicht loskommt. Einer Stalinallee, die sich wie eine palastartige, lichterstrahlende Schneise in die Trümmerlandschaft einer Vergangenheit schneidet, die zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert in den Krieg geführt hatte. Hier gibt es nun ein «Haus des Kindes» mit einem Café und einem Kino nur für Kinder.

Annekatrin Hendel zeigt ihre Protagonisten auch dadurch, dass sie sie in ihren Behausungen, ihren Lebensräumen zeigt. Für Anderson (2014) wird gar ein zentraler Ort der Prenzlauer Berg-Bohème akribisch rekonstruiert – die Küche von Wilfriede und Ekkehard Maaß. In dieser Küche spielt jedes Ding eine wichtige Rolle, Keramik, Grafiken, Plakate. Diese Altbauküche im Prenzlauer Berg in dieser Ausgestaltung ist ein distinktives Symbol gegen die «Neubauwohnungen» am Alexanderplatz oder auf der Fischerinsel, die überall das «Alte» verdrängt hatten. Auch in der offiziell verlegten DDR-Literatur ist dies ein wichtiger Topos: Pauls Neubauwohnung steht für Affirmation, Paulas rußiger Altbau in der Singerstraße für romantische Anarchie.

In Familie Brasch werden die Wohnverhältnisse nicht vordergründig thematisiert. Die Familie lebt aber eben nicht in einer gutbürgerlichen Etagenwohnung, nicht in einer enteigneten Villa in Pankow oder Babelsberg, wie die Ruges, sondern in einer Plattenbauwohnung im Umkreis der Karl-Marx-Allee und des neu bebauten Alexanderplatzes. Was aus heutiger Sicht nach Ödnis und asketischer kommunistischer Bescheidenheit klingt, ist aber eine wichtige Verortung der gesellschaftlichen Utopie, die einen Antifaschisten und Funktionär wie Brasch antrieb. Die erste Wohnung, an die sich Marion Brasch erinnern kann, ist eine 4-Raum-Plattenbauwohnung in der Alexanderstraße in der Nähe der Kongresshalle und des Hauses des Lehrers. Letztere sind singuläre Bauten der Ost-Moderne, die die Prinzipien des International Style, wie sie etwa in Brasilia oder nebenan im Westberliner Hansaviertel vorbildhaft ausgeführt worden waren, für die DDRadaptierten. Die neuen Wohnbauten drum herum sind allerdings ästhetisch der Ökonomie des Massenwohnungsbaus unterworfen.

Florian Havemanns Stalinallee mit ihrem historistischen Bauschmuck, den zentralperspektivischen Kubaturen und den machtbewussten Höhendominanten ist eine Utopie in den Formen illusionären ästhetischen Reichtums. Zu ihm passt die Neigung vieler Funktionäre zur Übernahme der Villen der entmachteten bürgerlichen Oberschichten. Der Plattenbau der Familie Brasch ist prinzipiell egalitärer, realistischer und demokratischer. Annett Gröschner beschreibt in ihrer wunderbaren Fotodokumentation zur verschwundenen Fruchtstraße in der Nähe des Ostbahnhofs diesen Vorgang des «Fort mit dem Alten und was Neues hingebaut», wie der Oktoberklub einen Brechttext uminterpretierte, als einen rein ideologisch begründeten Kulturverlust. Etwas ähnliches hatte zur selben Zeit, als sich auch in Ostberlin die Moderne gegen den «Stalinstil» durchsetzte, bereits der konservative Publizist und Verleger Wolf Jobst Siedler mit seinem 1964 erschienenen Buch (und dem danach gedrehten Essayfilm) Die gemordete Stadt beklagt. Er trauerte angesichts eines auch im Westen geförderten und geregelten sozialen Massenwohnungsbaus der Urbanität der wilhelminischen Gründerzeit nach.

Die Brasch-Söhne und schließlich auch die Brasch-Tochter wollen um keinen Preis in diesen Neubauwohnungen leben. Während in Marzahn, Halle-Neustadt und anderswo noch Chemiearbeiter und deren Familien mit industriell fabriziertem «fließend warm Wasser aus der Wand» glücklich gemacht werden können, will jeder, der zu dieser Zeit Sascha Anderson noch für einen Hoffnungsträger hält, die vorindustrielle Romantik von Kunsthandwerk und Sperrmüllmöbeln in heruntergekommenen bürgerlichen Altbauwohnungen als distinktive politische Ästhetik zelebrieren. Auch mit dem Leben im DDR-Neubau, diesem sozusagen demonstrativen alltagspraktischen Vorleben der Sozialpolitik der Partei, scheitert Horst Brasch.

«… die Widersprüche sind die Hoffnungen», sagte Thomas Brasch in seinem provokanten Statement zur Verleihung des Bayrischen Filmpreises 1981. Das Auditorium versteht ihn nicht und reagiert feindselig, so wie die DDR-Parteifunktionäre dieses ur-marxistische Denkprinzip nicht verstanden und das Einfordern eines entsprechenden politischen Handelns als feindseligen Akt geahndet hatten. «Es ist die Gegenwart nichts anderes als das Resultat der Vergangenheit», ein anderes Zitat des ältesten Brasch-Sohns. Hendel eröffnet damit ihren Film. Beide Sätze zusammenzudenken und sie nicht nur auf die «große Geschichte», sondern auch auf das Leben einer Familie zu beziehen, das ist die Anregung, die man aus diesem Film mitnehmen kann. 

 

Familie Brasch (Annekatrin Hendel) D 2018 | Kinostart am 16. August 2018