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Hier waren wir Man kann das mit gar nichts vergleichen: Zu Lucrecia Martels Zama

Von Ekkehard Knörer

© El Deseo | Match Factory

 

Im Roman kommt zuerst ein Schiff an am Fluss. Doctor Don Diego de Zama, der Protagonist, Jurist im Dienst der spanischen Krone, eilt in den Hafen, denn er wartet, auf Post von seiner Frau und den Kindern, die fern sind, er wartet auf Nachricht, er werde von seinem Posten in der gottverlassenen Provinz abberufen, nach Buenos Aires am besten. Aber nichts, immer wieder nichts. Stattdessen treibt da der aufgedunsene Leichnam eines Affen. Dessen Schicksal deutet, und vielleicht ahnt er es schon, auf seines voraus: «Sein Leben lang hatte ihn das Wasser am Rand des Waldes gerufen, zu einer Reise, zu der er erst aufbrach, als er kein Affe mehr war, sondern nur dessen Leiche… Da trieb er nun, bereit zum Aufbruch, aber er brach nicht auf. Und hier waren wir. Hier waren wir: Bereit zum Aufbruch, aber wir brachen nicht auf.» Das ist die Lage. Den «Opfern der Erwartung» hat Antonio de Benedetto seinen 1956 erschienenen Roman gewidmet. Und mag sein, es gibt Hoffnung, aber für Don Diego de Zama gibt es sie nicht, was immer er selbst von sich, kompliziert genug, denkt: «Vielleicht war dieser gegenwärtige Zama, der dem zukünftigen Zama zu ähneln behauptete, auf den früheren Zama gebaut, ihn kopierend, als wage er furchtsam, etwas zu unterbrechen.» Furchtsames Wagen einer Hoffnung auf Selbstunterbrechung, Gedanken eines prekär und reflexiv zusammengebastelten Mannes, der hier als Ich-Erzähler in die dritte Person springt. Zama ist einer, der zu gut und darum eigentlich gar nicht weiß, wer er ist.

Lucrecia Martels Film Zama eröffnet mit einer anderen Szene. Don Diego de Zama eilt nicht zum Fluss, es gibt auch kein Schiff. Der Affe, schweres Zeichen als Omen, existiert ebenfalls nicht. Zama ist da, am Ufer des Wassers, das kein Fluss, sondern das Meer ist, er steht da, als habe es in seinem Leben nichts anderes als dieses Warten gegeben: ein Mann mittleren Alters im geschnürten Kostüm, der hier in der Kolonie die spanische Krone vertritt, ohne Perücke, aber mit Hut, einem Dreispitz, ohne den Bart, den er im Roman von Anfang an, im Film dann erst später trägt, hingestellt, ohne Worte, wie er überhaupt wenig spricht, man könnte ein Buch schreiben über das Schweigen von Zama, den Gesichtsausdruck seines Darstellers Daniel Giménez Cacho, oft starr und entsetzt, wie am Rand des Begreifens, aber zuletzt begreift er doch nicht. Dieser Zama ist – und bleibt – eher Objekt, für das sich zwischen seiner subjektiven Erwartung und dem, was tatsächlich geschieht, kaum einmal eine vernünftige Relation herstellen lässt. Die Erzählung des Romans in der ersten Person stattet Zama dagegen immerhin noch mit Intention aus, mit einer Fähigkeit zur und sei es noch so irregeleiteten Deutung der Lage, zur Reflexion, die gelegentlich ins Philosophische geht, auch wenn die Erwartung nach und nach in diverse Aggregatzustände der Verzweiflung zerfällt: «Was konnte denn noch so viel schlimmer sein? Entbehrung, vielleicht? Armut? Irgendein schrecklicher Affront? Der Tod selbst? Was? Was konnte es sein? … Nichts, ich weiß es nicht. Es war nichts. Nichts.»

Der Zama des Films ist von Anfang an Teil von Tableaux, in denen er zwischen den Dingen und Personen oft nur herumsteht, an anderen Stellen beinah verschwindet. Zama, der Film, ist, was das Buch keineswegs ist: postkolonial. Von den vielen nicht-weißen oder europäisch-indianischen Bewohnern des Orts, den Sklaven und Bediensteten der Weißen, die mitten unter den, aber auch abseits der Kolonialisten in ihren Gemeinschaften leben, ist bei Benedetto bei Gelegenheit natürlich die Rede. Martel stellt die Verhältnisse bei aller Treue zu zentralen Begebnissen des Romans mit radikalen Moves zugleich auf den Kopf. Neben den Weißen sind die Nicht-Weißen einfach immer im Bild, thematisiert oder nicht. Und in der Thematisierung wird diese An/Abwesenheit sofort reflexiv.

So gibt es eine Person, die im Dienst ihrer spanischen Herrin einen an der Seite des Raums befindlichen großen Luftzufächler bewegt. (Auch die große Hitze ist wie nebenbei immer präsent, die Hitze, die zur Zersetzung von Menschen und Dingen ihren Teil beiträgt, von Menschen, nicht zu vergessen, unter Perücken, die gerade zu rücken die Kraft zusehends fehlt. Das Haar geht Richtung Wischmopp. Der Mensch Richtung Tier.) Mal durch Klingeln der Glocke, mal durch Befehl wird die Person auch angewiesen, das Fächeln zu lassen, erst jetzt sieht man, darauf hingewiesen, deutlich, was man eigentlich schon die ganze Zeit sah: In dieser Gesellschaft ist man selten allein. So bringt Martel einerseits den Ich-Erzähler, so instabil er im Buch ist, fast zum Verstummen und setzt andererseits, was im Roman marginal bleibt, nicht ins Zentrum, aber als Figuren- und Lebenswelt eigenen Rechts oft sehr nachdrücklich ins Bild.

Das träge Backwater-Leben gebiert Konflikte, Obsessionen, Mystifikationen, Legenden. Eingeführt wird Zama als wie ein Käfer auf dem Rücken liegender, ins Passiv gesetzter Voyeur: Von einer Düne herab stiehlt er Blicke auf eine Gruppe nackter-schlammverkrusteter Frauen. Als ihn eine entdeckt, eilt er davon, sie hinterher, als sie ihn stellt, attackiert er sie, schlägt sie. Begehren, das aus der Bahn geht. Eine der charakteristischen Verschiebungen Martels. Im Roman ist es Luciana, die Ehefrau, der Zama später nachstellen wird, die er voyeuristisch betrachtet, dann schlägt. Im Film ist es Malemba (Mariana Nunes), die indianische Dienerin Lucianas (Lola Dueñas), die dann in den Begegnungen Zamas mit der Herrin als wichtige Dritte im Bild ist, die auch eine eigene Geschichte erhält (sie kauft sich frei aus dem Dienst für eine Ehe). Konflikte, in denen Gewalt nicht lange latent bleibt: So geht das fort in der Bewegungsform des Hin und Her. Der Konflikt Zamas mit seinem Assistenten. Sein Begehren der Frau eines andern. Er steigt ihr nach, Küsse sind möglich, unklar bleibt, wie sehr Luciana mit den Regeln einer spätfeudal vor sich hinfaulenden Gesellschaft nur spielt, wie sehr sie ihnen wirklich gehorcht.

Zwei klare Zäsuren setzt der Roman, der Film aber verwischt sie. Versuchs- oder behauptungsweise nämlich stellt Benedetto zeitliche Ordnungen her, er gliedert das Buch, beziehungsweise es zerfällt in drei Teile, zwischen denen eine angegebene Anzahl von Jahren vergeht: 1790, 1794 und 1799. Alles Hoffen – auf die Ankunft der Frau und der Kinder, die Versetzung an einen besseren Ort, einen Aufschwung des Lebens – erweist sich als weiter vergebens. Im Jahr 1794 hat er ein Kind mit einer Frau, Emilia, aber für die beiden sorgen kann er, verarmt, eigentlich nicht. Er verliert seine Unterkunft und wird von sexuellen Fantasien geplagt. Fünf Jahre später bricht er dann auf, als Teil einer Militärexpedition, die einen legendenumrankten Verbrecher zu fangen versucht, von dem allerdings nicht einmal klar ist, ob er tatsächlich existert – oder nur etwas wie die auf einen Eigennamen gebrachte Adresse vieler Untaten ist, Raub, Mord, Vergewaltigung, zu denen es in der Stadt seit Jahr und Tag kommt.

Martel verzichtet auf das Setzen dieser Zäsuren, nur der plötzlich vorhandene Vollbart Zamas wird Zeichen eines Abstands zwischen zwei Szenen: In der einen, die direkt aus Kafkas Schloss übernommen sein könnte, erfährt Zama vom Gouverneur, dass die erste Bittschrift an den König grundsätzlich wirkungslos bleibt. Mit der nächsten kann man es ein paar Jahre später versuchen. Zama geht ab, nach hinten, an einem Tisch im Hintergrund sind, von einem Türdurchbruch gerahmt, Männer beim Würfelspiel. Das nächste Bild nimmt diese Bewegung auf, Zama ist von hinten zu sehen, aber nun in der Natur, im Hintergrund Ziegen, erst im Umschnitt sieht man den Bart und die vergangenen Jahre: den löchrigen Hut, die zerschlissenen Kleider. Dazu spielt die immer wiederkehrende bizarre karibische Easy-Listening-Musik, mit der Martel, Meisterin des klug gesetzten Misstons, die Hoffnungslosigkeit der Lage immer wieder komisch konterkariert.

Zama ist, der Film noch sehr viel mehr als das Buch, ein Werk der Desorientierung. Dabei ist, wie man das von Lucrecia Martel kennt, jede einzelne Szene, jedes einzelne Bild genau und bewusst komponiert und choreografiert. Die Regeln jedoch, denen das Verhalten der Figuren gehorcht, bleiben vage. Etwas geschieht, die Attacke Zamas auf die ihn verfolgende Frau ganz zu Beginn; eine Parallelszene wenig später, da kommt er selbst einer Frau, die attackiert wird, zu Hilfe (falls ich das richtig lese); die sich anbahnende Beziehung zu Luciana: Im Roman gehört all das, so sehr es auch ins Nichts führen mag, doch zu einem als solches erkennbaren Narrativ mit Fortsetzungs- und Wiederholungsstrukturen, die die Episoden zu etwas wie einer von Nachvollziehbarkeiten nicht freien Erzählung verketten.

All diese Bewegungen der Verkettung und Schließung nimmt Martel sehr stark zurück. Im Zusammenhang, aber letztlich auch in jeder einzelnen Szene. Selbst Zama, als in fast allen Szenen präsente Gestalt das stärkste Zeichen des Films, bleibt als Figur eher vage und Element unter Elementen zudem. Es gibt Menschen, die gehen in diesen Bildern und Räumen um wie Geister. Anwesend, aber nicht dazugehörig, etwas wissend, von dem wir nichts ahnen, verlassen, nur einander nah und vertraut. Es werden manchmal Details fokussiert, die Blick, Gedanken, Identifikation von der direkten Bahn anderswohin lenken. Oder die Szene ist voller Menschen, Tiere und Dinge, aber auch die Sprache gehört tendenziell zu den Dingen, zwischen denen eine Hierarchie herzustellen nicht leicht ist. Auch deshalb, weil in so vielen Szenen neben dem, was in ihnen geschieht, immer auch noch anderes passiert: einer kommt hinten ins Bild, der den Sand recht; einer fächelt die Luft; Ziegen streunen, Männer zanken; Lamas blicken dich an.

Das ist immer auch Rücknahme, Verwirrung, Durchkreuzung eines kolonialistischen Blicks. Und in der Um- und Aufwertung des Raums, den Frauen einnehmen, sind es immer auch feministische Relektüren des Buchs. Zama ist sehr viel mehr als im Roman ein Reflektor für die Frauen, denen er, sich selbst unverständlich, begegnet: Sie sind in die Mitte gerückt. Ganz konkret oft: die Mitte der Bilder und der Tableaux. Aber es sind auch sie, die sprechen, die ihre Geschichten erzählen. So bleibt Zama in einem Gespräch mit Luciana in einem Umschnitt, der ihn nach einer langen Erzählung der Frau mitten ins Bild setzt, noch in dieser Dialogszene stumm, an der Klippe zu Worten, einem Satz, der dann nicht fällt.

Eine Gerichtsszene, gleich darauf, zum Beispiel. Sie eröffnet mit dem Blick auf einen leeren Innenraum, links eine Tür, die aufgestoßen wird, man sieht erst nur die linke Hand Zamas und einen Teil seines Huts. Dann kleiden er und sein Assistent sich um fürs Gericht. Der ziemlich alltägliche Raum füllt sich, ein Fall wird verhandelt. Eine weiße Siedlerfamilie hat vierzig Indianer von ihrem Grundstück vertrieben und getötet. Nun wollen sie Ersatz, weil sie Dienstboten brauchen. Zama wird es ihnen mit einer wegwerfenden Bemerkung zur Wertlosigkeit der Indianer gewähren. Nun sind aber vielfache Irritationen im Bild. Indianer, deren Status nicht klar ist. Und die Nichte der Alten, die verspätet in den Raum kommt, zunächst nur als Hand sichtbar, die sie auf ihre Tante legt, Zama verfolgt sie mit mehr als nur notierendem Blick. Wenn man sie dann im Gegenschuss sieht, ist ein Hund so in den Mittelgrund des Bildes gerückt, dass er zunächst Teile ihres Gesichts verbirgt. Sie ist selbst halb-indianisch, und damit wird diese Episode, die in der Narration ganz für sich steht, vollends komplex.

Und soweit nur das Bild. Denn mitten in der Gerichtsszene beginnt auf der Tonspur Musik. Die schon erwähnte karibisch anmutende Stimmungsmusik, eine Musik, in die man sich locker wippend hineinlehnen will. Nichts könnte unpassender sein als diese Musik, die das Absurde der Situation weniger unterstreicht, als ihm eine neue, falsche Ex-machina-Absurdität drauf- und entgegenzusetzen; eine brutale Störung, die als brutale Entspannung auftritt. Ohnehin ist die Tonspur in diesem Film ein Kunstwerk für sich. Sie ist voll mit fremden, sehr fremden Geräuschen, fremd an der Stelle, an der sie auftauchen, fremd, weil man nicht weiß, ob sie aus dem diegetischen Raum stammen oder anderswoher, fremd, weil sie nicht den Ton zum Bild bringen, den man erwartet, fremd, weil auch ihre Fremdheit nicht einfach zuordenbar ist, als dies oder das erkennbar, sondern in erster Linie eben: als Störung.

Geräuschkatalog, sehr unvollständig: Glocken, sehr laut; Grillen, gewaltiges Zirpen; ein Singen, immer wieder ein Singen; etwas wie ein anschwellendes Zugsignal, mitten am Strand; Fliegengesumm, Horrorfilmpfeifen. Manchmal stehen diese Geräusche für sich, in vagen, sich bewegenden Bezügen zum Bild. Manchmal dreht mitten im Gespräch der Dialogton weg, verschwimmt, der Ton fokussiert auf eine Person und deren Gedanken. Manchmal löst sich ein Rätselgeräusch in eine kontinuierliche Szene: ein Schuss, zu hören aus dem Off, von links, wie man sieht, als ein Rauchwölkchen ins Bild schwebt, nachdem das angebundene Pferd erschrocken nach rechts ausweicht. Ein wenig verharrt die Kamera noch auf dem Gespräch, das im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, dann schwenkt sie nach links, ein Pferd liegt am Boden, der Mann, der geschossen hat, geht nach rechts. Weiter wird gar nichts erklärt. Eine Situation, in der man sich nur bedingt zurechtfinden kann, Rätselbild, das aber gar nicht Enträtselung fordert, sondern nur, dass man sich, hellwach, alle Sinne auf Zehenspitzen, darauf einlässt.

Zum letzten Drittel des Films, in dem sich alles noch einmal ganz anders auflöst, habe ich noch kaum was gesagt. Zama, der zuvor unter Menschen in der Stadt fremd und fehl am Platz war, ist nun fremd und fehl am Platz in der Natur. Die Expedition geht hinaus, Jagd auf den Verbrecher, der womöglich mitten unter den Suchenden ist. In der Nacht schleichen wie Gespenster Blinde um die in ihren Hängemattenden nicht länger schlafenden Menschen, bedrohlich erst, dann fast etwas wie Trost. Die ursprünglichen Bewohner des Landes sind noch einmal ganz anders präsent, die Weißen werden von den Roten (denn rot angemalt sind sie wirklich) einem (sagen wir mangels der leisesten Ahnung, was da wirklich geschieht:) Initiationsritual unterzogen, bei dem sich Martel als die virtuose Körperfilmerin erweist, die sie immer schon ist. Hände auf Haut, eine schlagende Tür, Wasserrauschen irgendwo hinten, unverständliche Worte – und dann, ganz abrupt, wieder draußen in der Natur, wo alles in wunderbar klaren Bildern rätselhaft bleibt.

So weit mein Versuch der Beschreibung eines einzigartigen Films. Martel macht in Zama etwas, das ich so noch nicht kannte. Sie schafft mit äußerster Präzision eine Welt als Fremde, in der nicht nur ihr Protagonist die Orientierung verliert. Man kann das mit gar nichts vergleichen. Es ist kein magischer Realismus, der ein üppiges Wirkliches mit dekorativen Unerklärlichkeiten garniert. Es ist vielmehr ein Hyperrealismus, an dem gar nichts und alles rätselhaft ist. Man kann sich in den Stimmungen und Sphären des Films völlig verlieren. Nur ein bisschen den Verstand aufgeben muss man dafür und auf den Willen verzichten, rational rekonstruieren zu können, was man da sieht. Die Fremdheit aber verliert sich nicht in diesem Verlieren. Die Distanziertheit, die bleibt, liegt nicht an irgendwelchen Ungenauigkeiten Martels, sondern ganz im Gegenteil daran, dass sie die Fremdheit, mit der wir auf diese – künstlich – historische Welt schauen, nicht leugnet, sondern forciert. Man sieht und versteht – und sieht nicht und versteht nicht, das immer zugleich. Das Prinzip ist dabei nicht Hermetik, sondern eine Öffnung, mit der der Film die geschlossene historische Welt, die er heraufbeschwört, ästhetisch konterkariert. Diese Öffnung aber bedeutet vor allem Offenheit für radikale Störung und Fremdheit. Für die Erfahrung beim Sehen heißt das: Zama bleibt ein Film, der sich der Beschreibung entzieht. Ich sollte noch einmal von vorne beginnen. 

 

Zama (Lucrecia Martel) ARG 2017 | Kinostart am 12. Juli 2018