spielfilm

La deutsche Vita You wait ’till later: Ulrich Köhlers In My Room

Von Friederike Horstmann

© PANDORA FILM Produktion / arte

 

Die Eröffnungssequenz von Ulrich Köhlers In My Room ist ruppig und überraschend: Zwischen Schärfe und Unschärfe oszillierende Bilder formen einen unbestimmten Raum, die Kamera kreiselt über Wände und Decken des Deutschen Bundestages, driftet wahllos über Politiker der SPD und der Linken, über Stative, Kameras und Mikrofone. Aus der Kombination von verwackelten Schwenks und disruptiven Zooms konkretisieren sich momenthaft Kamerateams und Bundespolitikerinnen, verlieren aber alsbald ihre Konturen, werden schemenhaft, verschwinden. Die Aufnahmen zeigen das Davor und Danach von offiziellen Fraktionsstatements, wie sich Politiker verhalten, wenn die Kamera eigentlich nicht läuft: Thomas Oppermann probt ein Lächeln, Karl Lauterbach hüstelt und richtet seine Brille, Sahra Wagenknecht wartet.

Wenige Minuten dauert diese Ouvertüre von In My Room, dann stabilisiert sich der Blick; im Schnitt vollzieht sich ein kategorialer Sprung, eine Erklärung: Der beim ZDF als Kameramann arbeitende Armin (Hans Löw) sollte im Bundestag Politikerstatements filmen, nur hat er die An- und Austaste der Kamera verwechselt, sodass lediglich erste und letzte Wörter der Stellungnahmen aufgenommen wurden. Was zunächst wie ein visueller Schabernack aussieht, ist jedoch eine gezielte Destabilisierung – die Kamera wird auffällig, macht sich mit ihren rasch wirbelnden Wackelbewegungen bemerkbar, erzeugt keine verlässlich reproduzierte Realität. Im ZDF-Büro wird die Arbeit am Bild sichtbar als und im Bild. Zu früh sein oder zu spät, herauszufallen aus der zeitlichen Ordnung, erzeugt einerseits ein bildliches Chaos, ist anderseits auch ein filmisches Zeichen, das Armins desorientiert driftende Disposition in sich birgt und vorwegnimmt.

Nicht nur seine Aufnahmen verweigern sich einer Verwertungslogik, Armin selbst ist ein Bartleby-Boy, der Konventionen und Konzessionen eines bürgerlichen Lebens ablehnt, vor einer Zementierung der Lebensverhältnisse flüchtet. Allerdings hat er keinen positiven Gegenentwurf: Als zivilisationsmüder Loner lebt der Fortysomething seit Jahren in seiner Berliner Einzimmerwohnung, hat Cashflow-Probleme, ein One-Night-Stand mit der jüngeren Tochter einer Freundin scheitert. Armins Leben scheint ein permanentes Provisorium, dem ein Ende zu machen nicht recht gelingen will. Nicht zufällig läuft auf seinem Laptop die Lonely-Heart-Hymne Later Tonight vom großen Synthie-Pop-Duo Pet Shop Boys. Neil Tennants alterslose Engelsstimme gleitet über Chris Lowes Klavierarrangements und ist für Armins Suspension des Handelns genau der passende Phlegmatiker-Soundtrack: «You wait ’till later. Till later tonight.»

Viele Einstellungen zeigen Armin symbolträchtig im Auto, im Transit also – weder hier noch da, sondern auf dem Weg. Da seine Großmutter im Sterben liegt, macht er sich auch auf den Weg in die ostwestfälische Kleinstadt Vlotho, zu seiner Familie, zu seinen geschiedenen Eltern. Das Szenenbild von Jochen Dehn und Silke Fischer hat das dortige mittelständische Einfamilienhaus mit großer Liebe zum Detail eingerichtet. Ein muffiger Charme der 1970er Jahre hängt an beige-braun-orangen Ornamentgardinen, an holzvertäfelten Wänden, an tristen Topfpflanzen. In diesem zugestellten Sammelsurium der Dinge verhält sich Armin anders, der Film zeigt zarte Zuwendungen und Gesten der Anteilnahme, wenn Armin seine Hand auf jene seiner schwerkranken Großmutter legt, seinen Kopf an ihren schmiegt.

Nach ihrem Tod verabschieden sich plötzlich auch alle anderen Menschen auf ungeklärte Weise aus der Erzählung, sind buchstäblich über Nacht von der Bildfläche verschwunden, als hätten sie sich einfach in Luft aufgelöst: Umgekippte Motorräder liegen wie riesenhafte Käfer auf der Straße, Lastwägen bohren sich in Leitplanken, ein Ausflugsschiff treibt geisterhaft auf der Weser. Niemand ist in der Tankstelle, niemand auf den Straßen. Kein Mensch, keine Wasser-, keine Stromversorgung.

Nur Tiere haben dem Verschwinden getrotzt. Nach einem eskapistischen Suizidversuch findet sich Armin recht schnell zurecht und simuliert sein neues Leben mit einem Autowechsel an der italienischen Grenze als Action-Adventure-Game: Raus aus der Mercedes A-Klasse, rein in den Polizia-Lamborghini. Der Motor heult auf, hochtourig heizt Armin im schnellsten Einsatzwagen der Welt durch Südtiroler Bergdörfer. Auf der improvisierten Rennstecke stehen die liegengebliebenen Zivilisationsüberbleibsel wie vergessenes Spielzeug im Weg und dienen nun als Hindernisparcours. Der automobilisierte Höchstgeschwindigkeitsrausch lässt die Welt durch die Windschutzscheibe vorbeisausen, generiert spektakuläre Schauwerte, ist Freiheitsemphase, Raumermächtigung und Kino der Attraktion. In einem dunklen Tunnel hält Armin schließlich gezwungenermaßen an – dann ist es kurz ganz schwarz. «Now it’s dark and I’m alone. But I won’t be afraid.»

In My Room zerfällt in zwei Bestandteile, er desintegriert. In der Form des Diptychons gibt es mutwillige Auslassungen, trügerische Wahrnehmungsräume und jähe Umbrüche – auch im Tempo. Der Film bedient einen Drang, woanders und ein anderer zu sein. Als Interpunktion des Erzählablaufs trennt das tiefschwarze Tunnelbild die im Abspann als Winter und Sommer bezeichneten, etwa gleich langen Filmteile.

Diese Schwarzblende schafft einen rasanten Ortswechsel und eine atemberaubende Zeitraffung: Im radikalen Schnitt vergehen Monate, vielleicht sogar Jahre, über ihn verwandelt sich Armin vom blassen, leicht bauchigen Im-Stehen-Urinator zu einem sehnig-muskulösen, gebräunten Jesus-Lookalike, zu einem virilen Robinson Crusoe der Postapokalypse. Endlich macht er der Bedeutung seines germanischen Namens alle Ehre: Armin ist stark und heldenhaft und back to his roots in der ostwestfälischen Provinz, im ländlichen Lebensraum seiner Kindheit, ganz in der Nähe, wo seine teutonischen Vorfahren unter Cheruskerfürst Arminius die Römer geschlagen haben.

Wie im Bilderbuch erlernt Armin die Kulturtechniken der Menschheitsgeschichte: vom handgepflügten Acker über die selbstgebaute Wassermühle bis zur reparierten Stichsäge – ein gelingendes Leben im Modus nicht entfremdeter Arbeit, in dem auch nostalgische Assoziationen rumoren. Mit Survival-Skills hat Armin sich zwischen Wald und Wiese ein funktionelles Häuschen mit Hühner-, Ziegen- und Pferdeställen gebaut und betreibt eine nachhaltige Subsistenzwirtschaft.

Köhlers postapokalyptische Geschichte kommt ohne Larmoyanz aus. Sie lebt nicht von einem melancholischen Taumel, sondern von einem geradezu fantastischen Identitätswechsel. Es geht weniger um Verlust als um Selbstfindung, auch um eine als Mann. Die Menschenleere schafft Platz für eine Kraft, die Armin bis dahin nicht gekannt hatte, eine Chance, seine alte Identität loszuwerden und dem Leben, gerade auch dem eigenen, eine Konsistenz zu geben – eine, in der sich neokonservative Heimatfantasien dechiffrieren ließen.

Neben Armins wundersamer Verwandlung hat sich auch seine Umwelt transformiert. Sein Zustand der Entfremdung wurde nicht nur figurenpsychologisch, sondern auch ästhetisch ausagiert: Programmatisch war der Himmel im ersten Teil des Films von einer trüben Wolkendecke verhangen, das Licht spärlich fahl, das Farbspektrum auf Grau-, Grün- und Brauntöne geschrumpft. Im zweiten Teil erzeugt Köhlers regelmäßiger Kameramann Patrick Orth bestürzend hübsche Bilder von einer lichtdurchfluteten, sanft hügeligen Landschaft: Mit großen Augen und Ohren wird die Natur, die spezifische Topografie der postapokalyptischen Provinz, werden die Geräusche aufgesogen. Vögel zwitschern, Grillen zirpen, Bäche rauschen. Spätsommerlicher Glanz liegt auf den Wiesen, purpur leuchten die Weidenröschen.

Metonymisch stehen die so gestalteten Bilder einerseits für Armins Gemütsaufhellung und bleiben aber anderseits so surreal, wie die ostwestfälische Provinz an einem ihrer guten Tage nur surreal aussehen kann. Köhlers Inszenierung von Mann und Mühle am rauschenden Bach ist distanziert, mitunter verschmitzt, entwirft stellenweise herrlich komische Bilder, wenn Armin zu Pferde mit großem Gewehr über den Schultern und mit geplünderten, voll bepackten Säcken vor einer Shoppingmall mit deutschen Discounter-Logos steht. Trotzdem tut Köhler gut daran, die solipsistische Idylle mit einer zweiten Figur zu brechen. German Boy meets Italian Girl: Sprachbarrieren reduzieren Armins und Kirsis (Elena Radonicich) Kommunikation aufs Wesentliche.

Köhler gesteht beiden Endzeitfiguren viel Zeit für Unausgesprochenes und Unaussprechbares zu, einen Freiraum, der Idiosynkrasie und Fremdheit gestattet und dadurch eine jeweils eigene Würde. Worte stolpern oft lakonisch über die Zungenspitzen, kommen wie aus dem Nichts, bleiben so manches Mal als Satzgirlanden in der Luft hängen. Vieles bleibt vage und im Konjunktiv. Doch Konflikte gären, ohne dass sie so richtig zu lösen wären, denn zu unterschiedlich sind die Beziehungs- und Lebensformen, zu hartnäckig manch ein Muster, sodass zum Schluss des Films wieder die bittersüße Teenagerstimme Tennants erklingt: «You wait ’till later. Till later tonight.» 

In My Room (Ulrich Köhler) D 2018 | Kinostart am 8. November 2018