filmkritik

Wühlarbeit Eine Einführung in das Werk von Manny Farber

Von Ekkehard Knörer

 

In einem Text aus dem Jahr 1968, er trägt den schönen Titel «Verdauungsstörung mit Sprudel» («Carbonated Dyspepsia»), schreibt Manny Farber: «Man könnte sagen, dass das ganze Flussbett des Kinos irgendwo in den frühen Sechzigern seinen Lauf verändert hat, zur Zeit von Antonionis Aufstieg, als die Schauspieler begannen, die Anfangsgründe von Ekel, Apathie, Übelkeit und Beklemmung zu studieren. An die Stelle schnell dahinfließender linearer Filme, fotografierter Geschichten, traten, überraschend, langsamere Vis-à-vis-Konstruktionen, bei denen der Zuschauer zum Protagonisten im Drama wurde. (…) Es ist aufregend zu sehen, wie das Kino fast durch Zufall auf die Schönheiten, den Reiz der banalisierten Leere gekommen ist.» Das ist in der Tat aufregend und Gilles Deleuze hat es als den Umbruch vom Bewegungs- zum Zeitbild ungefähr so auch beschrieben. Fast aufregender aber – und unerwarteter noch, ja eigentlich unerwartbar, ist, in der chronologischen Lektüre seiner Schriften mitzuerleben, wie der Filmkritiker Manny Farber, zuvor ein großer Verfechter unprätentiösen, virilen Erzählens, unversehens und bei sich immer steigernder Beobachtungsschärfe dem von ihm hier beschriebenen Kino der Banalität, der Leere, der Zeit, einem Kino des Nicht-Mehr-Dahinfließens verfällt.

Rückblende: Bevor das in Frankreich zur Mode wurde, hat er in ihrer Heimat als wöchentlich schreibender Kritiker in Publikationen wie The New Republic, Time und The Nation – also im Mainstream oder jedenfalls Mainstream-nah – schon Studiokönner wie Howard Hawks, William Wellman, Raoul Walsh oder Sam Fuller (nicht aber John Ford!) gepriesen. Und zwar als Meister, die ihr Fach so beherrschen, dass sie ihr Werk weder durch Pomp und Umstände aufblasen noch durch extravagante, Autorschaft behauptende Signaturen verunzieren müssen. Männer der Tat, nicht des Worts, der richtigen Entscheidung, nicht der Deliberation, die ihr Können ganz in den Dienst der Elemente stellen, die für den Farber der frühen und mittleren Jahre das Kino ausmachen – und es ist wichtig zu sehen, dass das Kino für ihn genuin ein Medium der Elemente ist, die sich unter den Namen eines Autors, auch unter eine einsinnige Deutung und Interpretation nicht bringen lassen: der Erzählung nämlich, der Darsteller, eines in fließende Bilder gefassten, den Realien des amerikanischen Lebens verpflichteten Weltbildens ohne hoch nebenher fliegenden Anspruch.

Was Farber fordert, ist die Gerechtigkeit gegenüber der «subversiven Natur des Mediums: die Leuchtbomben-Vitalität, die eine Szene, ein Darsteller, ein Techniker an beliebiger Stelle in die Körnung eines Films injiziert» («The Subverters», 1966), ist eine Arbeit im «Unterirdischen», eine Arbeit, die – so der mit Farber am engsten verbundene Kampfbegriff – ein wühlendes, kleinteiliges Werk von Termiten ist und nicht das aufgeblasene Treiben und Tun der Weißen Elefanten der Kunst: «Termiten-Bandwurm-Pilz-Moos-Kunst, die vorwärts geht, indem sie ihre eigenen Grenzen frisst und, wenn es gut geht, nichts zurück lässt als die Zeichen einer eifrigen, betriebsamen, struppigen Aktivität.» («White Elephant Art vs. Termite Art», 1962)

Der Farber, den man kannte, der von vielen seiner Nachfolger tief verehrte Termiten-Farber mit der erstaunlichen Wende von den no-nonsense-Hollywood-Männern zur ohne Theorie kaum fassbaren Zeitbild-Kunst, ist der Farber von Negative Space. So der Titel des kanonischen Buchs, das, 1971 erstmals, dann 1998 erweitert noch einmal erschienen, den Kritiker Farber hinstellte als – nebenbei gesagt: oft sehr strenges, aburteilendes, schlecht gelauntes – Faszinosum und mindestens doppeltes Rätsel. Rätselhaft ist einerseits diese plötzliche Offenheit ab Mitte der Sechziger Jahre, ein aufreißender Horizont, eine Öffnung zu einer ganz anderen, nicht zuletzt: außeramerikanischen Welt. An die Stelle von Haudegen wie Hawks, Sturges (Preston) und Fuller treten jetzt Chantal Akerman, Michael Snow, Jean-Luc Godard, Werner Herzog. Mindestens ebenso erstaunlich wie diese Offenheit ist die Fülle der Einsichten, die er diesen Regisseurinnen und Regisseuren und ihren modernistischen Arbeiten abgewinnt. Es ist, als hätte der Maler und Kunstkenner Farber auf den Einzug der Moderne in den Film gewartet, daher vielleicht zuvor die Ungeduld mit dem amerikanischen Kino.

Man gewinnt den Eindruck, Manny Farber erfindet sich, wie das Kino, Mitte der Sechziger neu, aber diese individuelle Entwicklung ist sehr viel mehr: die Film(geschichts)wahrnehmung der USA schreibt sich in ihm, als ihrem aufmerksamsten, genauesten, experimentierfreudigsten Kritiker, revolutionär um. Eine Antwort auf die Frage, wie diese Verwandlung des Kritikers möglich war, trägt den Namen Patricia Patterson. In der zweiten Hälfte der Sechziger Jahre tritt sie, Künstlerin wie er, in Farbers Leben, fortan entsteht sein filmkritisches Werk nur mehr im Dialog, was man deutlich spürt, und in den Siebzigern taucht Patterson als Ko-Signatorin der immer ausführlicher, komplexer, texturenhafter werdenden, von einem Satz zum nächsten jetzt noch sprunghafter, tanzender, schlängelnder die Perspektive, auch die Wertung wechselnden Artikel, die nun erst recht Essays sind, auf. In einem spannenden Interview mit Richard Thompson, das man als Bestandteil des Gesamtwerks betrachten muss, erklären Patterson und Farber in der Neuausgabe von Negative Space ihre Zusammenarbeit als eine veritable Koautorschaft und Kokreativität. Im vorliegenden Band steht es, kleingedruckt und leider deutlich gekürzt, im Anhang.

Dieser Band, erschienen in der amerikanischen (Anti-)Pleiade, der Library of America, ist der zweite, der das (fast) komplette Werk eines Filmkritikers versammelt. Als zweitem Filmautor nach James Agee, auf den Farber übrigens einen hier nachzulesenden, äußerst ambivalenten Nachruf geschrieben hat, wird ihm diese Ehre zuteil. Zwei veritable Ziegelsteine, auf denen man die Zukunft der US-Filmkritik gut und gern errichten könnte; falls sie denn eine hat. Mit seinen 800 Seiten ist das Buch natürlich ein beeindruckendes Denkmal, Zeugnis der Kanonisierung, aber zugleich etwas wie ein monumentaler Grabstein, mögliche Inschrift: Hier ruht einer, der das Kino liebte, aber das Schreiben darüber viel zu früh bleiben ließ.

Denn das ist das andere Rätsel. Von einem Tag auf den anderen hörte Farber, Filmkritiker-Künstler, mit dem Schreiben über Film einfach auf. Im Jahr 1977 endet seine Filmpublikation, Farber on Film schließt nicht ohne Ironie mit einem Guggenheim-Stipendien-Antrag für ein Buch über den Münchner Film, Herzog, Fassbinder, Straub, Schroeter, Kluge: «Filme aus München, 1967-1977: Zehn Jahre, die die Welt veränderten.» Er bekam das Geld, geschrieben hat Farber das Buch aber nie, was man nach Lektüre etwa des Herzog-Essays sehr bedauern wird. Fortan widmete sich Farber der Lehre, seit 1970 und bis weit in die Neunziger unterrichtet er an der University of California in San Diego, seine Seminare sind legendär. Unterdessen wächst sein Ruhm auf dem Kunstmarkt, es gibt erste Einzelausstellungen und als Künstler hat er sich wohl immer eher denn als Autor verstanden, als Maler, in dessen Werk die Filme, die er liebte, in Versatzstücken und Motiven immer wieder auftauchen.

Farber on Film enthält, der Titel sagt es, die in alle Winde verstreuten Texte Farbers zur Kunst ausdrücklich nicht. Auch einige frühe Kritiken sind, weil bei der Veröffentlichung zur Unkenntlichkeit redigiert, nicht mit aufgenommen worden. Sonst aber hat man jetzt Farber-Texte in ungekannter Menge und Fülle, wenngleich das Werk, auf die 35 Jahre eines professionellen Kritikerlebens gesehen, so umfangreich gar nicht ist. Die entscheidende Frage für Farberianer ist aber ohnehin eine der Relation: Wie verhält sich das Farber-Gesamtbild zum bisherigen Kanon von Negative Space? Die Antwort formuliert man am besten paradox: Die wesentliche Erkenntnis ist die, dass die überwiegende Mehrzahl der hinzugekommenen Texte, fast ausnahmslos aus den frühen Jahren, dem Bild, das man hatte, nichts Wesentliches hinzufügt, außer der Erkenntnis, dass Farber zu Beginn seiner Laufbahn eine ganze Menge recht unwesentlicher Texte geschrieben hat. Was nicht heißen soll, dass sie schlecht wären, ganz im Gegenteil, nur: im Vergleich zum Negative Space-Kondensat vergleichsweise konventionell. Mit klaren Urteilen, viel Witz, der Einmischung in Tagesaktualitäten, Plot-Synopsen, gelegentlich größeren Thesen und grundsätzlicher Kritik am Studio-Output, auf den Farber fast komplett konzentriert bleibt: «Hollywood verhält sich zu seinem Publikum wie ein gefallsüchtiges Kind gegenüber den Eltern». Nicht untypischer Schlusssatz: «Watch on the Rhine ist insgesamt ein zufriedenstellender Film, der sich ausdrücklich auf seinen Gegenstand konzentriert und beachtliches Mitgefühl zeigt.» (13. September 1944) Diese Texte sind in mancher Hinsicht interessant, vor allem als gelegentlich idiosynkratischer, aber stets kluger Kommentar zur laufenden Produktion. Die allermeisten Filme, über die Farber hier schreibt, sind längst vergessen. Spannend wird es vor allem da, wo er sich von später Kanonisiertem alles andere als begeistert zeigt (Der dritte Mann, Casablanca etc.).

Dennoch macht gerade der viel breitere Einblick in die relativ konventionellen Anfänge klar: Der essenzielle Farber ist der späte. Die frühen Essays wie «The Gimp» (1952), «Hard-Sell Cinema» (1957) und eben «White Elephant Art vs. Termite Art» (1962) – alle in Negative Space schon gesammelt – können einem recht schnell auf die Nerven gehen. Der Argumentvorrat ist begrenzt, die Bandbreite dessen, was Farber interessiert, ist eher schmal. Weil er das, was etwa Hitchcock oder Welles oder Truffaut oder Antonioni tun, für verfehlt hält, drängt er die Leser seiner Kritiken an die Wand und prügelt sie mit den nassen Handtüchern seiner Urteile und Ansichten. Das ist ein abgewandeltes Zitat aus dem Termiten-Aufsatz, gegen Antonioni gerichtet. Farber kann recht gewalttätig sein, aber ein Kritiker, der sich unter Einklammerung jeden Urteils die Arbeit, die Absichten, die Verfahren der Filmemacher zu analysieren versucht, ist er nicht. Viel mehr als für den Regisseur gilt womöglich für Farber selbst, was er über Antonioni schreibt: «Sein eigentliches Talent liegt in kleinen exzentrischen Mikroskopien.»

Farbers Vorliebe fürs Termitische, Schritt für Schritt, Biss für Biss sich Voranarbeitende, fürs Unterirdische, fürs Sture, fürs entschlossene Bohren mit gesenktem Blick – man stellt fest: sein ganzes Reservoir der Lieblingsmetaphern für Film-, Denk- und Schreibbewegungen, ist anwendbar nicht zuletzt auf Farbers Stil selbst. Und der Stil ist in dem Fall der Mann. Farber ist wortspielverliebt wie noch jeder Autor, der Sprache vor allem als Material begreift, dem man Gedanken und Bilder und Beschreibungen nur im Kampf abgewinnt. So ringt er mit ihr, spielt er mit ihr, fordert sie kühn heraus, wenn er etwa, den Einspruch der Grammatik ignorierend, eigenmächtig Substantive in die Verbposition zwingt. Oder er stopft einen anders nicht unterzubringenden Gedankengang in die Klammer mitten im Satz wie die Wurst in die Pelle. Zwischen Fremdwort und Slang geht im Ebenensprung viel, wenn auch nicht alles: Theorie-Jargon ist und bleibt Farber fremd, wird auch nicht Material. Farber ist, wie er im erwähnten Gespräch mit Richard Thompson erklärt, ein exzessiver Neuschreiber, Redigierer, Umräumer, Verrücker der eigenen Texte. «Topografisch» nennt er selbst das Ergebnis; es ist eine herausfordernde, keine einfach zu durchquerende Topografie. Man müsste blind sein, sähe man nicht die Entsprechung zur Raumkonzeption des Kinos, die er im vertrackten Vorwort von Negative Space entfaltet. Zerklüftete Landschaften, die «die Bestialität des Leinwandbilds» (Farber im Vorwort) nicht domestizieren. Farber-Text-Topografie: Adjektiv-Sträucher, verdächtig zusammengeballte Substantiv-Cluster, schwer auslotbare Vergleiche und Metaphern, Präpositionen, die wilde Abwege eröffnen, dazwischen starrt ein unerwartetes Verb ganze Satzketten nieder. In den späten Essays, etwa «The Power and the Gory» (unübersetzbarer Titel, 1976) über Taxi Driver, wird das Denken endgültig expeditiv, termitisch, aus den unterschiedlichsten Richtungen treiben Farber und Patterson Stollen in einen von ihnen als zutiefst ambivalent empfundenen Film. Sie hinterlassen auch Sprengsätze, die bei der Lektüre heute noch hochgehen.

Wie ein herausragender Boxer hebt sich Farber, der die Ursprünge seines Stils im US-Sportjournalismus der zwanziger Jahre sieht, den verblüffendsten Punch manchmal fürs Ende auf. Seine Schlusssätze fassen dann nur zum Schein das Vorangehende zusammen. In Wahrheit sind sie Schläge, die man nicht kommen sieht. Raffiniert eher als heftig. Und doch erbebt mit dem Schlusspunkt der ganze vorangehende Text und schüttelt sich, wie der Leser, zu seltsamer Klarheit betäubt, nur langsam wieder zurecht.