Geschichte – Von den vorläufigen Dingen
Vor zwanzig Jahren fielen in Europa die kommunistischen Regimes. In Deutschland verlief die Revolution friedlich, in Rumänien forderte sie viele Todesopfer. Dass das, was danach kam, nicht einfach «die Freiheit» war, ist inzwischen auch den Menschen im «freien Westen» deutlich klarer geworden. Aber 1989 war eines jener Jahre, in denen eine ganze Generation plötzlich das Gefühl bekommen konnte, Geschichte zu schreiben – oder zumindest live dabei mitzulesen. Uns hat immer schon sehr interessiert, wie sich Filme zum geschichtlichen Prozess verhalten – können sie mehr sein als nachträgliche Verfestigungen eines offenen Verlaufs? Siegfried Kracauer hat diesen Fragen sein letztes Buch gewidmet: Geschichte – Vor den letzten Dingen erscheint dieser Tage in der Werkausgabe seiner Schriften.
Seine Überlegung zur Verbindlichkeit von «Quellen» auch für das filmische Medium haben an mehreren Stellen dieses Hefts vielschichtige Entsprechungen: dort, wo eine Reihe von deutschen Filmschaffenden in unserem Schwerpunkt «Work in Progress« von ihren aktuellen Projekten berichten (es geht dabei durchweg auch darum, wie sich die Wirklichkeit so fingieren lässt, dass sie besser verstehbar wird); dort, wo die amerikanische Serie Mad Men mit großer Akribie die Sixties als die prägende Ära unserer Gegenwart rekonstruiert, und dabei eine neue Form von «cinematic television« entwickelt; dort, wo das afrikanische Kino, das in einer neuen DVD-Edition erschlossen wird, uns auch als historische Quelle den Prozess der Entkolonialisierung erschließt; dort, wo Harun Farocki in seiner Installation Immersion die virtuelle Rückkehr in traumatische Szenen der Vergangenheit zum Thema macht.
Dass es neben der Geschichte der vorletzten Dinge auch eine Geschichte jenseits der letzten Dinge gibt, eine Geschichte der Phantasie und der freien Bewegung im Imaginären, vergessen wir dabei nicht: Daran erinnert uns schon der große Werner Herzog mit seinem «Remake« von Bad Lieutenant (in deutscher Erstübersetzung präsentieren wir außerdem einen Herzog-Aufsatz von Manny Farber aus dem Jahr 1975), oder der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu, dessen Totalromanprojekt Orbitor (Die Wissenden) auch eine Geschichte der rumänischen Revolution enthält, und mit dem wir dieses Mal das cargo-Gespräch geführt haben, oder Spike Jonze, der mit Where the Wild Things Are ein berühmtes Bilderbuch so verfilmt hat, dass eine Vermarktung als reiner Kinderfilm eigentlich verfehlt erscheint, weil jedes Abenteuer natürlich auf einen größeren Zusammenhang hinausläuft: Lebensgeschichte.