The Beach Ball Incident
Am 17. Oktober dieses Jahres machte José Manuel Reina Páez eine seltsame Erfahrung: Der Weltklasse-Torhüter des FC Liverpool sah zwei Bälle gleichzeitig auf sich zukommen. Da es sich nicht um eine Trainingseinheit mit Ballmaschine handelte, sondern um ein offizielles Premier League-Match im Stadium of Light des AFC Sunderland, konnte da irgendwas nicht ganz stimmen. Direkt über Reinas linker Schulter schlug der reguläre Spielball ins Netz ein. Der konsternierte Blick des Torhüters ging jedoch nach rechts, wo im selben Moment ein knallroter Beachball knapp am Torpfosten vorbei flog.
Vorausgegangen war dem Zwischenfall ein Schuss des Sunderland-Stürmers Darren Bent: Der reguläre Ball traf wie beim Billard auf den roten, was dazu führte, dass der Spielball unhaltbar ins Tor abgefälscht wurde. Der Schiedsrichter erkannte jedoch nicht auf «weiße Kugel irregulär abgelenkt», sondern zeigte zum Mittelkreis. Sunderland führte mit 1: 0.
Noch während die ohnehin nur mühsam in die Saison kommenden Liverpooler versuchten, trotz des bizarren Tores das Spiel noch zu drehen (was nicht gelang, der Treffer erwies sich als spielentscheidend), hatte die Fernsehregie zumindest eine entscheidende Sache schnell eruiert: Wie war der Strandball in Reinas Strafraum gekommen? Ein Teenager, zu allem Unglück auch noch ein Liverpool-Fan, hatte den Ball, zum Spott der gegnerischen Fans: ein Produkt aus dem Merchandising-Katalog des FC Liverpool, einfach in die Arena geworfen, natürlich ohne an eine so weitgehende Konsequenz zu denken.
Unter einem Stichwort, das eher wie der Titel einer Seinfeld-Folge klingt, zirkuliert die Episode seither im Netz: The Beachball Incident. Kanonisch wurde eine Version, die vor allem den Slapstick-Aspekt der Ereigniskette betont: Reinas um Orientierung ringende Rechts-Links-Kopfbewegung als Zeitlupen-Stunt. Man kann genau sehen, dass der Torhüter für einige Sekunden auf sehr grundlegende Weise eine Art wahrnehmungspsychologischen Stromausfall erleidet. Davor wird der jugendliche Täter mit den kurzrasierten rotblonden Haaren gezeigt, wie er eine Faust ballt und den Ball aufs Spielfeld boxt. Die Schnittfolge suggeriert eine Kausalität, die es in dieser Unmittelbarkeit nicht gab. Der Ball landete nicht direkt auf dem Spielfeld, sondern zuerst nur vor der Werbebande, aber im Toraus. Es war ein Windstoß, der den Ball kurze Zeit später in den Strafraum genau zwischen Reina und den Liverpooler Außenverteidiger Glen Johnson beförderte.
Erst durch diesen Windstoß wurde der Strandball zu einem «outside agent», das Spiel wurde durch ein Element von außen gestört, es hätte eigentlich in diesem Moment unterbrochen werden müssen. Warum ließ der Schiedsrichter weiterspielen, warum verhielt er sich so, als wäre nichts gewesen? Die befremdliche Reaktion lässt sich als ein Symptom dafür lesen, dass der Fußball auch dort, wo er live gespielt und verfolgt wird, doch grundsätzlich einer anderen Realitätsordnung angehört. In den englischen Stadien ist dies besonders augenscheinlich, denn dort sitzen die Fans bis hart an den Spielfeldrand, und doch kommt es kaum einmal zu einer Überschreitung der Grenze zwischen dem inneren Bereich des Spiels und dem der Fans, die das Millionenpublikum vor dem Fernseher vertreten, auf das die Premier League eigentlich zielt. Der Beach Ball war eigentlich ein «inside agent», denn das Stadion schafft eine Konstellation verteilter Rollen, die Spieler auf dem Platz und die Fans auf den Rängen ergeben einen Gesamteindruck, und was diesen stören könnte, wird in der Regel schon bei der Leibesvisitation vor dem Stadion entfernt.
Das ließ in der Vergangenheit meist nur eine Möglichkeit: Menschen machten sich selbst zum «outside agent», indem sie (häufig als unbekleidete «Flitzer») auf das Feld stürmten. Die Verantwortlichen begriffen irgendwann, wie dem zu begegnen war: Heute ignoriert die TV-Regie diese Szenen meist mit Bedacht, als «Flitzer» kann man nicht mehr so leicht prominent werden. Die Störung des Spiels vor Ort wurde damit durch das übertragene Spiel, das als unstörbar inszeniert wurde, weitgehend entschärft.
Der Schiedsrichter in Sunderland, der wie alle Protagonisten des Spiels mindestens so sehr in der Übertragungswelt agiert wie in der «lebendigen», bekam den «outside agent» aus dem Stadioninnenraum einfach nicht auf die Reihe. Er nahm ihn als das, was er tatsächlich war: «höhere Gewalt». Dieser Begriff aber ist schon einer der nachträglichen Rationalisierung. Erst muss das Unglück passiert sein, muss die Tatsachenentscheidung des Referees stehen, dann erst muss die «höhere Gewalt» einer komischen Ballverdoppelung als unanfechtbar akzeptiert werden. Der Schiedsrichter, er heißt Mike Jones, hatte nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit, all das zu begreifen. Kein Wunder, dass auch er einen kognitiven Stromausfall hatte und deshalb einfach so tat, als wäre nichts gewesen.